Lage in der DDR (15) 3.–4.11.
4. November 1956
Information Nr. 303/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (3.11.1956, 22.00 Uhr, bis 4.11.1956, 8.00 Uhr)
I. Lage in der Industrie
Dresden: Im BW Annaberg-Buchholz sagte ein Lokheizer: »In Westdeutschland haben die Arbeiter immer noch Streikrecht, hier bei uns aber nicht«. Außerdem sagte er noch zu vier Kollegen: »Wenn einmal die Esse der 126. Lok weiß angestrichen ist, dann bewaffnet euch mit Gabeln und Schaufeln, denn dann geht der Streik los.«
Leipzig: Im Kesselhaus des VEB Braunkohlenwerk Böhlen besteht eine Missstimmung über die dort herrschenden schlechten Arbeitsbedingungen. Die Arbeiter erklären in ihren Diskussionen, dass sie es nicht verstehen können, weshalb die begonnenen Dacharbeiten an ihren Arbeitsplätzen wegen angeblichem Materialmangel nicht abgeschlossen werden. Aus dieser Verärgerung heraus wurde von noch unbekannten Personen auf der Steuerbühne folgender Spruch angebracht: »Wie erhöhe ich den Krankheitsstand? 1. Preis: eine Flasche Schnaps.«
II. Landwirtschaft
Rostock: Die Sekretärin (SED) der MTS Daskow, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten],1 äußerte gegenüber einem anderen Genossen: »Scharnowski2 hat sich schon geäußert, dass es in der DDR auch bald so kommen wird wie in Ungarn.3 Er arbeitet bereits darauf hinaus.«
III. Handel
Leipzig: In der Bezirkshauptstadt kommt es weiterhin zu Hamstereinkäufen von Mehl, Reis, Grieß, Bohnen, Gemüse- und Fleischkonserven. Trotz der erhöhten Einkäufe ist die Versorgungslage aber gesichert. Es wurden alle Maßnahmen getroffen, um den Verkaufsstellen rechtzeitig genügend Ware zuzuführen.
IV. Studenten
Berlin: Nach vorliegendem Bericht behaupten die roten Falken,4 dass sie an der Humboldt-Universität und auch an den anderen Universitäten in der DDR bereits Kerngruppen für eine Organisation gesammelt haben. Der Verkehr zwischen Westberliner Unis und der Humboldt-Universität ist in letzter Zeit äußerst rege. Nach den an der Humboldt-Universität eingeleiteten Sicherheitsmaßnahmen hat sich der Verkehr nach Westberlin verlagert. Die Studentengruppen der CDU und FDP hätten weniger direkte Beziehungen zur Humboldt-Universität, aber sehr umfangreiche zu anderen Universitäten der DDR (Greifswald und Jena). Die Absicht der Bemühungen um die Studenten der DDR ist, die Erzeugung einer Missstimmung und die Inszenierung von Diskussionen negativer Tendenz.5
Leipzig: Die Diskussionen über die angeblich unkonkreten und zu geringen Informationen unserer Presse und Rundfunk über die Ereignisse in Ungarn halten an der Karl-Marx-Universität weiter an. So stellte z. B. die Parteigruppe der Wissenschaftler der Germanisten einmütig fest, dass unsere Informationen drei Fehler haben:
- 1.
»Sie ist unvollständig, da nur ein Teil der Fakten verbreitet werden.«
- 2.
»Es gibt noch immer Tendenzen der Schönfärberei.«
- 3.
»Der Ton in gewissen Kommentaren der Presse und des Rundfunks erscheint unklug und nicht geeignet wesentliche Dinge klarzumachen.«
Von dieser Meinung ist die ganze Grundorganisation beeinflusst und sogar in der Parteileitung gibt es nur zwei Genossen, die diese Auffassung zwar bekämpfen, aber erfolglos dabei bleiben.
Rostock: Bei den Universitäten ist zzt. Greifswald Schwerpunkt. So wurden z. B. in der Mensa und im Studentenwohnheim in der Fleischerstraße Anschlagtafeln mit großer Überschrift »Ungarn« angebracht. Darunter stand folgender Aufruf: »Die Studentenschaft und der Lehrkörper der Theologischen Fakultät haben sich geschlossen hinter die von Studenten begonnene Hilfsaktion für Ungarn gestellt. Die Studentenschaft ruft die noch abseitsstehenden Studenten auf, sich an der Hilfsaktion zu beteiligen.« Mit sieben Namen war der Aufruf unterzeichnet.6
V. Feindtätigkeit
Rostock: An der Tür eines Medizinstudenten im Haus 5 des Studentenwohnhauses in Greifswald, Fleischerstraße, wurde das Titelblatt der Zeitschrift »Die Woche« Nr. 37 v. 9.9.1936 mit dem Text: »Zum Reichsparteitag in Nürnberg« und mit dem Bild Hitlers angebracht.7 In der Nacht zum 29.10.1956 wurden in Neuenkirchen,8 [Kreis] Greifswald, von einigen bisher unbekannten Personen das »Deutschland- und Horst-Wessel-Lied« gesungen.9
Leipzig: Am 3.11.1956 wurde an die Wand eines Wartehäuschens in der Ostheimstraße in Leipzig die Losung geschrieben: »Ulbricht ist ein Sch…, nieder mit Euch. Am 15.11.1956 geht’s los.« Am 2.11.1956 wurde von unbekannten Tätern am Aushängekasten der Gemeinde Glesien,10 [Kreis] Delitzsch, ein Hitlerbild angebracht. Am gleichen Tag wurde in der Toilette der Kleindreherei des VEB Buchbindereimaschinenwerk Leipzig mit Ölfarbe ein Hakenkreuz angeschmiert. An eine Werkmauer und an eine Tür der Männertoilette des Baues 11 im Kombinat Böhlen wurden folgende Schmierereien festgestellt: »Wir fordern freie Wahlen« und »Walter Ulbricht soll gehen«. (Täter sind nicht bekannt). Am 3.11.1956 wurden im Werkgelände des gleichen Kombinates zwei Hetzschriften gefunden. (vermutliche Handverbreitung). Es handelt sich um neue Exemplare – Herausgeber: NTS.11 Titel: »Volksaufstand in Ungarn«. Die gleichen Hetzschriften wurden in den Kreisen Eilenburg, Schmölln und Leipzig insgesamt 500 Stück gefunden.
VI. Lage in Westberlin
Nach einem vorliegenden Bericht hat die KgU12 in Westberlin mindestens 800 bis 1 000 meist jüngere Flüchtlinge aus der DDR zusammengefasst und hält sie für besondere Einsätze bereit. Die KgU hat im Augenblick einen Informationsdienst im demokratischen Sektor von Berlin – in Tätigkeit etwa 150 bis 200 überwiegend weibliche Personen. Von der SPD wird behauptet, dass sie in den letzten Monaten viele neue Mitglieder im demokratischen Sektor von Berlin haben registrieren können, darunter ebenfalls viele Mitglieder der SED. Außerdem habe sie an gewissen Schwerpunkten innerhalb der DDR die Grundlage für eine neue SPD geschaffen.