Lage in der DDR (17) 4.11.
4. November 1956
Information Nr. 306/56 – Betrifft: Die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (eingegangenes Material vom 4.11.1956, 14.00 Uhr bis 21.00 Uhr)
Berlin: Im Zusammenhang mit der Erhöhung der Renten und der Abschaffung der Lebensmittelkarten1 äußerte ein Schlosser aus dem RAW Schöneweide: »Die Kapitalisten sind oftmals gute Sozialisten. Schließlich ist es egal für wen man arbeitet. – Die Erhöhung der Renten und Abschaffung der Lebensmittelkarten hat Ulbricht schon vor einigen Jahren versprochen und dabei ist es geblieben. Marx und Engels sind überholt, davon wollen wir nichts wissen. Was vor 100 Jahren war, kann heute keine Anwendung mehr finden. In Westdeutschland wird bei voller Bezahlung die 36-Stundenwoche eingeführt. Die Arbeiter drüben kämpfen um ihr Recht und erreichen auch was.«
Auf dem Bahnhof Schöneweide und Oranienburg macht sich eine sehr negative Stimmung gegen die Einführung eines 4-Schichten-Planes bemerkbar, »weil sich dadurch der 12-Stundendienst vermehrt anstatt verkürzen würde«.2 Eine Anzahl Kollegen sei deshalb schon aus dem FDGB ausgetreten und mehrere Austritte seien angekündigt worden, falls der neue Plan eingeführt wird. (Bisher hat noch keine erläuternde Aussprache mit den Kollegen stattgefunden.)
Zwei Jugendliche aus dem VEB Funkwerk Köpenick erklärten, »dass sie die Schnauze voll haben« und nicht mehr unter den sozialistischen Verhältnissen arbeiten wollen. Es wäre ihnen lieber, wenn sie in einem kapitalistischen Betrieb arbeiten könnten.
Nach Angaben eines Arbeiters aus dem Kraftwerk Klingenberg sollen Fahrgäste in der U-Bahn geäußert haben, die Arbeiter seien noch nie so ausgenutzt worden wie heute. Man müsse arbeiten bis man auf der Nase liegt und trotzdem würde weiter von der Steigerung der Arbeitsproduktivität gesprochen. Maschinen zur Arbeitserleichterung könnten nicht angeschafft werden, da mit dem Geld die »Parteibonzen« bezahlt werden müssten. Es sei besser beim Kapitalisten zu arbeiten, als hier als Arbeitstier zu leben.
Am 31.10.1956 fand im Lokal »Zum Lindenhof« in Köpenick eine Versammlung der SPD-Abteilungen 16/1, /2 und /6 mit ca. 130 bis 150 Teilnehmern statt.3 Der Referent »Willi Kressmann«4 soll dabei folgende Äußerungen gemacht haben: »… Ein paar hirnverbrannte Ochsen von der SED versuchen noch dem deutschen Volk den Bolschewismus aufzuzwingen. Die Menschen, die die Freiheit wollen, werden unterdrückt. Die Pankower Regierung soll die 11 000 politischen Gefangenen freilassen, das wäre ein Schritt zur Wiedervereinigung Deutschlands. Die SPD werde niemals mit Ulbricht verhandeln, dann könnte sie ja gleich mit Moskau Diskussionen führen …« »… Für die SPD kommt es jetzt darauf an, in den Betrieben der DDR eine größere Aktivität an den Tag zu legen.« »… Die SPD sollte auch mit SED-Leuten verhandeln, aber nicht Ulbricht. Wenn die SED-Leute eingesehen haben, dass der Pankower Kurs falsch ist, dann wird die Zeit nicht mehr fern sein, wo Ulbricht und seine Konsorten abtreten müssen.«
Karl-Marx-Stadt: Noch immer wird die Neuregelung der Stromfrage in den Betrieben als Anlass zu negativen Diskussionen genommen, da durch häufige Abschaltungen Nachtschichten eingeführt werden müssen. (1. Maschinenfabrik – K.M.St.,5 VEB Möbelstoffwerk Hohenstein,6 VEB Renak Reichenbach, VEB Goldfischwerk Oberlungwitz)7
Ein Teil der Beschäftigten der Reichsbahn spricht gegen die Wiedervereinigung der alten Dienstränge. Dadurch würde der Kadergehorsam8 wieder aufblühen und den alten Faschisten und Reaktionären Tür und Tor geöffnet.
Im Ziehwerk Lugau, [Kreis] Stollberg, löste die Zahlung von Quartalsprämien negative Diskussionen aus. Die Arbeiter sind der Meinung, dass sie die produktive Arbeit verrichten und nicht die Angestellten und die Intelligenz. Sie stellten die Frage, ob ein Werkleiter mit 2 000 DM Gehalt auch noch eine Prämie in der Höhe bekommen muss.
Ein Arbeiter aus dem Konsum Adorf, [Kreis] Oelsnitz, äußerte: »Mit den Prämien, das [ist] der größte Mist, der unter den Arbeitern den größten Stunk hervorruft. Sie sollen jeden einen anständigen Lohn zahlen, dann brauchen sie keine Prämien.«
Produktionsstörungen
Am 26.10.1956 musste im VEB Modul Karl-Marx-Stadt9 der Kompressor eines Sandstrahlgebläses außer Betrieb gesetzt werden. Dabei wurde festgestellt, dass alle sechs Ventile mit Putzlappen verstopft waren. Es entstand Produktionsausfall von mehreren Tagen und hohe Reparaturkosten. (Täter bekannt)
Versorgung
Durch die Ereignisse der letzten Tage wurden im Bezirk Karl-Marx-Stadt Angsteinkäufe an Zucker, Mehl und Fetten festgestellt.
Landwirtschaft
In Reinholdshain, [Kreis] Glauchau, wurde einem Mittelbauern das elektrische Weidegerät gestohlen. Desgleichen einem Mittelbauern in Großhartmannsdorf, [Kreis] Brand-Erbisdorf. In Rottmannsdorf, [Kreis] Zwickau[-Land], und Gornsdorf,10 [Kreis] Stollberg, wurden je einem werktätigen Bauern die Batterien aus den elektrische Weidegeräten gestohlen.
Wismut
Ein Angestellter der Objektnormabteilung – Schachtkombinat 54 Johanngeorgenstadt11 – äußerte: »Wenn die Wismut von Ungarn nicht gelernt hat und die Normerhöhung herausbringt, die vorbereitet wird, geht es bei uns auch rund.«12 Ein Heizer des Schachtes 1, Johanngeorgenstadt, äußerte: »Man kann unseren Sendern nicht glauben und muss andere Sender hören, wenn man etwas Genaues wissen will.« Ein Oberbuchhalter (LDP) des Tbc-Heimes Wissen/Oberschlema13 äußerte: »In Ungarn haben die Russen Panzer gegen die Arbeiter eingesetzt und auch Luftwaffe.« Als ihm entgegnet wurde, dass die Urheber die gleichen seien wie am 17.6.1953 bei uns, antwortete er: »Bei euch ist alles Lug und Trug. Mit der ganzen Bande muss aufgeräumt werden.«
Zur Volkskammersitzung sind bisher nur positive Stellungnahmen bekannt geworden. Besonders wird die neue Prämienordnung begrüßt.14 Die Diskussionen zu den Ereignissen in Ägypten sind ebenfalls nur positiv.15
Rostock
Ein Beuler der Volkswerft Stralsund äußerte: »Ich habe im westlichen Rundfunk gehört, die Staatssicherheit der DDR würde aufgelöst. Man will im Hinblick auf Ungarn vorbeugen, damit ihnen hier nicht dasselbe blüht.«
Ein Angestellter des RAW Greifswald äußerte: »Ich habe westliche Nachrichten gehört. In Ungarn hat man einige Angehörige der Staatssicherheit zum Abschrecken aufgehängt. Das müsste man in der DDR genauso machen. Vielleicht kommt es auch mal. Die Presse verschweigt uns alles, weil in der DDR auch schon alles zittert.«
Die Entlohnung der Volkswerft Stralsund erfolgt nach einem Sondertarif, was in der Schiffbau- und Reparaturwerft Stralsund zu heftigen Diskussionen führt. Ein Tischler brachte hier zum Ausdruck: »In Ungarn kam es zu dem Aufstand wegen der Bezahlung. Hier müsste man die Lehren daraus ziehen und es nicht erst so weit kommen lassen.«
Feindtätigkeit
2.11.1956: In den Toilettenanlagen des Kraftwerkes Vockerode,16 [Kreis] Gräfenhainichen, wurde eine Hetzlosung gegen die DDR und die sowjetischen Truppen angeschmiert. In der Gemeinde Walbeck, [Kreis] Hettstedt, an der Bekanntmachungstafel ein weißer Bogen (DIN A4) mit Hetzlosung: »Arbeiter und Bauern, greift zu den Gewehren und vertreibt die russischen Herrschaften. Den Bürgermeister hängen wir auf. Viel Spaß.« Im Haus Bonifatiusplatz 10 in Sangerhausen im Briefkasten eine Hetzlosung, die sich gegen die DDR und führende Staatsfunktionäre richtet. In verschiedenen Orten des Kreises Wittenberg, [Bezirk] Halle, vor den LPG’n Flugblätter der KgU:17 »Der Terrorapparat der Partei auf der Anklagebank.«
3.11.1956: In der Gemeinde Sylda, [Kreis] Hettstedt, ebenfalls an der Bekanntmachungstafel eine Hetzlosung: »Macht es dem heldenhaften ungarischen Volk nach. Ungarn hat sein Ziel erreicht, soll es uns nicht gelingen? Freie Wahlen, stürzt Ulbricht, seid tapfer. e. M.« In Köthen an einem Schaufenster ein faschistisches Emblem angeschmiert. In der Oberschule Sangerhausen, in den Toilettenanlagen eine Hetzlosung angeschmiert, die sich gegen die SU richtet. In der Stadt Bitterfeld wurde von einer Frau eine Schachtel Reißzwecken gekauft. Darin befand sich ein Flugblatt des SPD-Ostbüros.18
4.11.1956: Im Stadtgebiet von Bitterfeld wurden vier selbstgefertigte Flugblätter der NTS19 gefunden. In Saßnitz, [Kreis] Rügen, wurde an einem Eisenbahnwaggon von Schweden nach Ungarn mit Kreide in Deutsch die Losung »Schweden grüßt das freie Ungarn« angeschmiert. Außerdem wurden in sieben verschiedenen Orten des Kreises Wittenberg ca. 500 Hetzschriften gefunden. (»BZ am Abend«, und Veröffentlichungen der Rede Gomulkas.)20 Von der Aufsicht des Bahnhofes Ostkreuz wurde gegen 17.30 Uhr mitgeteilt, dass auf dem Bahnsteig C 5 und auf dem Bahnsteig A 1 handgeschriebene Hetzschriften gefunden wurden. Text: »Nieder mit den Mördern Ungarns. Protestiert durch Generalstreik.«
Anrufe und Briefe
Der Schüler [Name] von der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Köpenick erhielt am 3.11.1956 ein Telegramm, in dem er aufgefordert wird (angeblich von der DEFA) am 5.11.1956, 10.00 Uhr mit recht viel gleichaltrigen Kameraden (16 bis 18 Jahre) nach dem DEFA-Haus in Berlin – W 1, Leipziger Straße, zu Filmaufnahmen zu kommen. Der Lehrer des Schülers hat der Schulklasse zu dem Zweck für Montag dem 5.11.1956 Urlaub gegeben.
Lage in Westberlin
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»RIAS« am 4.11.1956, 17.00 Uhr: »Am 5.11.1956 findet um 18.00 Uhr vor dem Schöneberger Rathaus eine Kundgebung statt. Ferner soll anlässlich der in Ungarn eingetretenen Lage eine Gedenkminute durchgeführt werden. Alle öffentlichen Gebäude sollen schwarz flaggen.«
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Am 4.11.1956, 17.00 Uhr, wurde mitgeteilt, dass am S-Bahnhof Bornholmer Straße ein Lkw mit Stupo21 und ein großes Feuerwehraufgebot aufgefahren ist. Der Zweck war nicht erkennbar.
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Am 4.11.1956, 14.25 Uhr, wurde bekannt, dass der Oberbürgermeister Suhr22 von Westberlin sämtliche Tanzveranstaltungen für den 4.11.1956 in Westberlin verboten hat. Aufgrund der in Ungarn eingetretenen Lage soll in Westberlin schwarz geflaggt werden. Im Bezirk Schöneberg sollen Jugendliche gegen diese Maßnahme protestiert haben.