Lage in der DDR (19) 5.11.
6. November 1956
Information Nr. 309/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (Material vom 5.11.1956, 8.00 Uhr, bis 6.11.1956, 8.00 Uhr)
I. Lage in der Industrie
Potsdam
Unter den Angestellten des Stahl- und Walzwerkes Brandenburg sowie des Walzwerkes »Willy Becker« Kirchmöser bestehen große Unstimmigkeiten aufgrund der Zusammenlegung der beiden Werke.1 Die Abteilungs- und Wirtschaftsfunktionäre würden nach der Zusammenlegung eine niedrige Funktion bekleiden. Zum Beispiel werden die Abteilungsleiter der Fein- und Grobstraße zu Walzwerk-Ingenieuren herabgestuft. Sie bekämen weniger Urlaub und würden bei der Quartalsprämie eine Stufe heruntergesetzt. Von sämtlichen Angestellten würde sich nur der Leiter der Materialversorgung verbessern. Alle anderen würden sich verschlechtern.
Unter den Bauarbeitern des Kreisbaubetriebes Königs Wusterhausen sind Unzufriedenheiten über die bestehenden Normen zu verzeichnen. Einige äußerten dazu, dass es an der Zeit wäre, dieses durch Gewalt zu verändern.
Magdeburg
Ein Monteur aus Nordhausen, der Verbindung zu den Großbetrieben in Magdeburg hat, äußerte Folgendes: »Die Arbeiter sagen, wenn wir streiken, dann kommt der SSD2 und wir gehen ab.« In Magdeburg herrscht die Parole: »Streiken dürfen wir nicht, aber langsam arbeiten, das können wir.«
Frankfurt/O.
Seit dem 5.11.1956, gegen 20.00 Uhr, spricht während der Sendung des Betriebsfunks des »EKS« ständig eine männliche Person hinein und fordert auf, die Sendung zu unterbrechen. Dabei werden folgende Worte gebraucht: »Unterbrechen Sie die Sendung, sonst stören wir.«
Dresden
Am 1.11.1956 nahmen 16 Arbeiter der Formerei des VEB Fortschritt Bischofswerda ihre Arbeit nicht auf. Sie begründeten es damit, dass es zu kalt sei und sie nicht arbeiten könnten. Die Formerei war tatsächlich nicht geheizt, obwohl Möglichkeiten vorhanden sind. Die Arbeiter haben nach der Frühstückspause, nachdem mit ihnen diskutiert wurde, ihre Arbeit wieder aufgenommen. Zeitdauer der Arbeitsniederlegung von 6.30 Uhr bis 9.30 Uhr.
Berlin
Am 2.11.1956 legten 20 Zimmerleute auf der Baustelle DIA Mohrenstraße die Arbeit nieder. Sie bringen zum Ausdruck, dass sie mit den bestehenden Normen nicht einverstanden sind. Wie bekannt wurde, wurde die Arbeit in den Vormittagsstunden wieder aufgenommen, nachdem die Differenzen in der Lohnangelegenheit geklärt waren.
II. Verwaltung
Das gesamte Fahrerkollektiv (5 Fahrer) vom Presseamt beim Ministerpräsidenten sind mit folgenden Fragen nicht einverstanden: Bezahlung bei Erkrankung, Bezahlung bei Urlaub, Bezahlung der selbstverschuldeten Unfälle sowie über die Leistungsstufen der Chef-Fahrer.
III. Landwirtschaft
Potsdam
Unter den Arbeitern der DSG Potsdam wurde durch zwei Mitarbeiter des Ministeriums der Finanzen Beunruhigung hervorgerufen. Diese zwei Mitarbeiter hatten am 30.10.1956 mit den Belegschaftsmitgliedern über eine Reorganisation der DSG, die vorgesehen sei, gesprochen. Von den Arbeitern wurde daraufhin diskutiert, dass in der DDR alles durcheinander sein müsste, weil erst Mitte dieses Jahres die DSG reorganisiert worden sei. (Es ist keine Reorganisation geplant.)
Karl-Marx-Stadt
Im MTS-Stützpunkt Neusorge, Kreis Hainichen, herrscht unter den Traktoristen eine äußerst negative Stimmung. Sie haben beschlossen, aufgrund ihrer schlechten Unterkunftsverhältnisse, am Montag, dem 5.11.1956, die Arbeit niederzulegen. Des Weiteren wurden Unterschriften gesammelt, dass man den jetzigen Brigadier, Mitglied der Kreisleitung, ablehnt, und verlangt, dass der Brigadier T. diese Funktion einnimmt.
IV. Versorgung
Berlin
(Konsumverkaufsstelle Fehrbelliner Straße, Bezirk Mitte): Die Einkellerungsaktion ist noch nicht abgeschlossen, obwohl dafür der 5.11.1956 festgelegt war.3 Jetzt wird erklärt, dass die Besteller ihre Kartoffeln selbst abholen sollen. Das verursacht unter der Bevölkerung Verärgerung.
(Wehlauer Straße): Aufgrund der Diskussion über Abschaffung der Lebensmittelkarten,4 macht eine Person größere Anschaffungen.
(Berlin-Karow): Auch tätigten einige Personen »Angsteinkäufe«. Es wurden verschiedentlich bis zu zehn Pfund Zucker und Erbsen eingekauft.
Erfurt
Im Bezirk soll es keine Winterbekleidung für Kinder geben, was die Bevölkerung empört.
Dresden
Im sorbischen Gebiet Kreis Bautzen diskutiert die Bevölkerung darüber, dass mit dem Wegfall der Lebensmittelkarten eine Währungsreform käme. Auch hier werden »Angsteinkäufe« getätigt. Zu weiteren Hamstereinkäufen kam es im Kreis Meißen, wo vor allem Mehl, Reis, Bohnen, Erbsen und weitere haltbare Lebensmittel gekauft wurden. Im Kreis Dresden werden vor allem Dauerwurst, Hülsenfrüchte und Mehl verstärkt gekauft. Das Gleiche trifft noch für den Kreis Großenhain zu.
V. Handwerker
Dresden
Im Kreis Bautzen sind die kleinen Handwerker sehr unzufrieden. Das kam in einer Versammlung deutlich zum Ausdruck. Grund: Sie müssen neuerdings eine Handelssteuer bezahlen.5 Die Tabellen dazu sind noch nicht bekannt. Sie erhielten lediglich vom Finanzamt Rechnungen, wo nicht bekannt ist, wie die zu zahlende Summe berechnet wurde. Es wird die Meinung vertreten, dass es den Finanzangestellten nur um Prämien ginge. Viele Handwerker seien deswegen nach dem Westen geflüchtet.
VI. Studenten
Am 31.10.1956 fand eine Studenten-Kundgebung in der »Freien-Universität« statt. Es waren ca. 500 Personen erschienen. In einem Gespräch, das am 1.11.1956 stattfand, äußerte der Ehrenvorsitzende des Studentenbundes, der am 31.10.1956 in der Studentenversammlung gesprochen hatte, dass alles nur leere Worte gewesen seien. Er schimpfte auf die Saumseligkeit des Vorsitzenden des sozialistischen Studentenbundes in Westberlin Klaus Kundt,6 der einfach nicht in der Lage sei, die Initiative zu ergreifen, um den fruchtbaren Boden bei den Studenten im Osten auszunutzen.7
Es wurde berichtet, dass am 5.11.1956 von sieben angeblichen Studenten im Lokal »Dicker Heinrich« Kurfürstendamm über einen Protestmarsch gesprochen wurde. Es kam dabei zum Ausdruck, dass sie ihre Kollegen am Brandenburger Tor empfangen wollen. Es fielen die Worte: »Heute abend werden wir ja sehen, was bei uns unternommen wird, um den Menschen schnell zu helfen.«
VII. Feindtätigkeit
Flugblattverbreitung
Berlin
- –
S-Bahnhof Schönhauser Allee »Hetze gegen die Volksdemokratien und die DDR« (SPD-Ostbüro)8.
- –
Telefonzelle Wollank-/Ecke Florastraße ca. 50 Flugblätter: »Tage, die die Welt erschüttern«. Die gleichen wurden auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz Ausgang Linie A zur Grunerstraße9 gefunden.
- –
Bahnhof Ostkreuz sechs handgeschriebene Flugblätter, die zum Streik aufrufen mit folgenden Worten: »Nieder mit den Mördern Ungarns«.
- –
Postamt O 1710 (Garderobe) 20 Flugblätter »Länger leben, langsamer arbeiten«.
- –
In der Koppenstraße Friedrichshain, Linienstraße (Mitte), selbstgefertigte Hetzzettel: »In Ungarn fordert das Volk Abzug der Sowjets und wir?«
- –
Am Stützpfeiler der Spreebrücke (Nähe Bahnhof Friedrichstraße) und in den Fernsprechzellen des Bahnhofs Friedrichstraße selbstgefertigte Hetzschriften »Aufforderung zum Generalstreik.«
- –
In den Morgenstunden des 5.11.1956 wurden in verschiedenen S-Bahnzügen, die aus Richtung Westen kamen, Extrablätter des »Telegraf« gefunden. Inhalt: »Rote Armee mordet Ungarn«.
Magdeburg
Bei Stendal 500 Flugblätter von der »Zope«11 durch Ballon; Groß Möringen,12 [Kreis] Stendal, 1 000 Flugblätter vom SPD-Ostbüro; 3.11.1956 in Fischbeck, [Kreis] Havelberg, 2 000 Flugblätter vom SPD-Ostbüro.
Gera
Keramische Werke Hermsdorf handschriftliche Hetzschrift an Umsiedler: »Ihr kommt alle bald nach Hause, unterstützt Adenauer«.13
Im Stadtgebiet in Jena an verschiedenen Schaufenstern: »Freiheit, macht euch los vom Joch des Kommunismus«, sowie handgefertigte Hetzzettel mit dem Text: »Unterstützt Ungarn im Kampf um die Freiheit« und »Freiheit, Kampf gegen SED-Regime«.
Neubrandenburg
Am 3.11.1956 selbstgefertigtes Hetzplakat in Anklam: »Fort mit den Kommunisten, freie Wahlen«.
Schwerin
Am 4.11.1956 Bahnhof Lalendorf,14 [Kreis] Güstrow, 41 Hetzschriften der NTS15 gefunden. »Bote der Freiheit – Volksaufstand in Ungarn«.
Halle
Am 4.11.1956 auf dem Bahngelände im Bezirk Halle ca. 150 Hetzschriften in deutscher und russischer Sprache gefunden.
Hetzlosungen
Halle
Im Kupferbergbau VEB »Ernst Thälmann« Eisleben waren zwei Förderwagen mit der Losung »Nieder mit dem Kommunismus« »Es lebe der Hitlerfaschismus« beschmiert. Am 4.11.1956 wurde an der Schulstraße in Bernburg, [Bezirk] Halle, eine Hetzlosung gegen die DDR angeschmiert. Am 5.11.1956 wurde in der Toilettenanlage des Buntmetallwalzwerkes Hettstedt eine Hetzlosung gegen die SU angeschmiert.
Leipzig
Am 5.11.1956, gegen 8.30 Uhr, wurden auf dem Hauptbahnhof Leipzig, Seitenausgang Westhalle, zwölf Flugblätter auf liniiertem Papier Größe 20 × 15 cm in Blockschrift mit Kopierstift beschrieben gefunden. Inhalt: »Denkt an Ungarn – Widerstand den Mördern eines tapferen Volkes – der Gott, der Eisen wachsen ließ, er wollte keine Knechte.«16
Am 4.11. bzw. 5.11.1956 wurden 32 mit Handruckkästen angefertigte Hetzbriefe einbehalten. Die Briefe sind auf Postämtern in der Stadt Leipzig eingeworfen. Empfänger sind 15 Hauptpostämter in verschiedenen Städten sowie Sparkassen in den gleichen Städten. (Jena, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Dessau, Brandenburg, Magdeburg, Potsdam, Erfurt, Nordhausen, Halberstadt, Weimar, Halle, Berlin, Weißenfels und Humboldt-Universität Berlin) Inhalt: Hetze gegen unsere Regierung und unseren Staat.
Berlin
Gegen 4.00 Uhr wurde durch die Wache der Transportpolizei Friedrichstraße beim Streifengang festgestellt, dass an den Stützpfeilern der Spreekutte17 zwei selbstgefertigte mit Schreibmaschine beschriebene Hetzmittel frisch geklebt waren. Inhalt: Hetze gegen Walter Ulbricht und die SED – Aufforderung zum Generalstreik im Zusammenhang mit den Ereignissen in Ungarn. In zwei öffentlichen Fernsprechzellen des Bahnhofs Friedrichstraße wurden je zehn Hetzblätter mit gleichem Inhalt gefunden.
Dresden
Am 3.11.1956 wurde auf der Toilette des Bahnhofes Obercarsdorf, [Kreis] Dippoldiswalde, eine Hetzlosung festgestellt. Inhalt: Hetze gegen Walter Ulbricht – Lob Adenauers. Die Stunde der Befreiung ist da.
In der Nacht zum 3.11.1956 wurde an einer Gärtnerei in Großenhain die Hetzlosung »Iwan go home« angeschmiert.
In der Nacht zum 3.11.1956 wurde in Meißen auf der Karl-Liebknecht-Straße eine Hetzlosung mit schwarzer Nitrofarbe angeschmiert. »Deutsches Volk befreie dich«.
In der Nacht zum 3.11.1956 wurden in Neustadt-Sebnitz zwei Hetzlosungen mit gleichem Inhalt angeschmiert: »Wir fordern Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland.«
Am 2.11.1956 wurde in Zwickau »Heil Hitler« angeschmiert.
Karl-Marx-Stadt
Am 3.11.1956 wurde in Dittmannsdorf, [Kreis] Marienberg, am Spritzenhaus eine Losung gegen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck angeschmiert.
Frankfurt/O.
Auf dem Verschiebebahnhof Frankfurt/O. wurde an einem Waggon, der aus Polen kam, eine Losung in polnischer Schrift festgestellt (übersetzt in Deutsch): »Weg aus Polen mit den Russen«.
Gera
Im VEB Porzellanwerk Freiorla, [Kreis] Jena, eine Hetzlosung mit Kreide: »Nieder mit der SED«. Am 3.11.1956 eine Hetzlosung an das Bahnhofsgebäude in Löberschütz, [Kreis] Jena[-Land]: »Russenhaus«.
Neubrandenburg
An die Scheune der LPG Gielow, [Kreis] Malchin, die Hetzlosung: »Russen raus, Mörder der Ungarn«.
Potsdam
Am 5.11.1956 an sechs Stellen im Stadtgebiet Brandenburg die Hetzlosung angeheftet: »Brandenburger legt die Arbeit nieder, raus mit den Russen, nieder mit den Kommunisten, nehmt auch an Ungarn ein Beispiel, kämpft für die Freiheit«. Unterschrift: der Freiheitsstaat.
Anonyme Briefe und Anrufe
Halle
Das Finanzamt Wittenberg erhielt eine Postkarte mit folgendem Text: »Ihr Lumpen, zu den jetzigen Ereignissen Folgendes – wenn wie wieder ein freies Volk werden wollen, dann muss sofort das Finanzamt aufgelöst werden. Euch vor Faulheit stinkenden Verbrechern müsste man ausbrüten und nicht auf Kosten anderer Mitmenschen ernähren lassen. Unterschrift: Freiheitsbewegung.«
Karl-Marx-Stadt
Es wurde eine Postkarte sichergestellt, die an unsere Dienststelle in Zwickau adressiert war. Inhalt: Hetze gegen das MfS sowie führende Funktionäre der DDR. Die Karte ist unterzeichnet mit KgU.18
Gerüchte
Dresden
In Görlitz wird verbreitet, dass man keine Weintrauben aus Ungarn kaufen soll, da man davon die Gelbsucht bekäme. In der HO-Betriebsschule Görlitz erzählten die Schülerinnen, dass Minister H. Rau19 republikflüchtig geworden ist. In der Gemeinde Pommritz20 wird das Gerücht verbreitet, dass in Kürze eine Geldentwertung durchgeführt würde.
Gera
Im VEB Thüringer Teppichfabrik Münchenbernsdorf wird das Gerücht verbreitet, Walter Ulbricht wäre anlässlich einer Versammlung in den Leuna-Werken tätlich angegriffen worden und habe vorzeitig die Versammlung verlassen müssen. Im Zug von Weimar nach Jena wurde am 3.11.1956 das Gerücht verbreitet, die Angehörigen der Volksarmee müssten ihren Urlaub abbrechen, weil sie nach Ägypten müssten.21
Westpropaganda
Versteckte Aufforderung zum Streik
»RIAS« – Am 5.11.1956, 15.25 Uhr, Informationen aus der SBZ – Kommentar zur Lage in Ungarn. Das System, dass die Sowjets nach 1945 in Europa unter Zwang eingeführt haben, wird von der finstersten Reaktion diktiert. Gegen dieses System gibt es für die Arbeiter nur ein Mittel, das bisher immer zum Erfolg geführt hat.
Am 3.11.1956 sprach J. Kaiser22 im RIAS. Er beteuerte u. a., dass sie sich jetzt mehr denn je in diesen bewegten Tagen mit der Zone verbunden fühlen. »Nicht zuletzt«, so äußerte er weiter, »richtet sich unsere Aufmerksamkeit, auf das Geschehen in der Zone. Es ist sicher nicht mangelnder Wagemut, wenn ich heute der Zone zurufe ›Werdet nicht ungeduldig‹, denn heute zeigt sich ja vor aller Augen, es gibt eine innere Gesetzmäßigkeit in der Politik.«
In einem Artikel mit der Überschrift »SPD: Pankow23 hat abgewirtschaftet«, im »Tagesspiegel« vom 4.11.1956 heißt es u. a.: Die SPD hat in ihrem Pressedienst die Bevölkerung der Sowjetzone aufgefordert, den Pankower Machthabern die Antwort auf ihre jahrelange Terrorherrschaft nicht auf der Straße zu geben, sondern in den Betrieben, wo die Entscheidung über die materielle Basis des Pankower Staates in ihrer Hand liegt.24
In einer Sendung des Londoner Rundfunks25 vom 3.11.1956 wird der Wortlaut eines angeblichen Hörerbriefes aus der DDR gebracht. Das Ganze ist eine einzige Hetze gegen unsere Partei und Regierung und eine Schilderung des Aufbegehrens der Bevölkerung der DDR. So heißt es z. B. unter anderem: Es gärt in der Bevölkerung, eine Gruppe Studenten im Bezirk Dresden sprach schon von einer Aktion »Klein Budapest« und meint damit eine Auflehnung gegen das strenge Regime. Die Bevölkerung fordert jetzt dringend die strikte Durchführung der Demokratisierungsmaßnahmen und es sollten daher in den Diskussionen folgende Forderungen erhoben werden:
- 1.
Pressefreiheit, umfassende und wahrheitsgetreue Informationen;
- 2.
Aufhebung aller Störsender;
- 3.
Bildung von unabhängigen Betriebsräten in den Betrieben;
- 4.
Sofortige Auflösung der Staatssicherheit.
Durch Presse und Rundfunk gibt der Gegner immer wieder bekannt, dass sich an den Spendenaktionen für Ungarn auch einzelne Personen und Institutionen aus der DDR und dem Ostsektor von Berlin beteiligen. So z. B. meldet der RIAS am 3.11.1956, unter den eingesandten Geldspenden an das Schöneberger Rathaus befand sich auch ein Briefumschlag mit dem Absender eines Ministeriums der DDR. Andere kamen aus HO-Geschäften, aus Industrieunternehmen, aus dem RAW in Oberschöneweide. Weiter heißt es dann, dass vor allem unter den Studenten die Spendenaktion großen Widerhall gefunden habe. So wurde von den Studenten in Berlin-Dahlem eine Kundgebung veranstaltet, die nicht nur von Westberliner Studenten besucht [wurde], sondern auch von einem beträchtlichen Teil der Kommilitonen von der Humboldt Universität. Eine am Schluss der Kundgebung durchgeführte Sammlung ergab auch einen beträchtlichen Ostmark-Betrag.
VIII. Lage in Westberlin
4.11.1956 – die BVG soll in der Umgebung des Bahnhofs Zoo die U-Bahnhöfe halbmast geflaggt haben. Die Leuchtreklame am Potsdamer Platz brachte provokatorische Hetze gegen die SU. Eine Person aus Westberlin äußerte, dass nach ihrer Ansicht vorläufig keine Unruhen in der DDR zu erwarten seien, da die Vorbereitungen seitens des Westens noch nicht so weit seien. In der Vulkanisier- und Kraftfahrzeug-Reparaturwerkstatt in Charlottenburg, Neue Christenstraße 5, diskutierten Fernfahrer: »Wir müssen beginnen, denn der Ami kann nicht anfangen, aber diesmal kommt er uns zu Hilfe.« Die Fernfahrer durch die DDR berichten, dass es im Osten gärt. Sie bringen Grüße und Wünsche aus der Zone mit. Besonders aus Börde Magdeburg.26 Dort wäre gesagt worden, noch ist Zeit, noch ist die Nationale Armee nicht gefestigt, wenn man wartet, kann es zu spät sein.
Diskussionen auf dem Arbeitsamt in Westberlin: Es besteht in der Parteiführung der SED eine Uneinigkeit, die alten Stalinisten sind hart und wollen nicht verhandeln, während ein anderer Teil aus dem ZK verhandlungsbereit ist. Die Uneinigkeit muss ausgenutzt werden, sonst erleben wir eine Niederlage wie am 17.6.1953.
Die Schüler der christlichen Mittelschule Charlottenburg,27 Guerickestraße,28 wurden vom Schuldirektor Dr. Bormann29 (131) befragt, von wem Angehörige im Osten wohnen oder in Ostberlin arbeiten. Sie mussten die Personalien der im demokratischen Sektor oder in der DDR arbeitenden Personen angeben sowie deren Arbeitsstelle und als was sie tätig sind.
Es wurde bekannt, dass beim Notaufnahmeverfahren in Marienfelde30 für die Konterrevolution in Ungarn pro Person 5,00 DM abverlangt worden seien.
Inoffiziell wurde bekannt, dass die Amerikaner der Westberliner Bereitschaftspolizei in den letzten Tagen schwere Maschinengewehre zur Verfügung stellten. Es handelt sich um Modelle aus dem Weltkrieg.
In einer Versammlung der »Falken«31 am 30.10.1956 am Wedding wurde diskutiert, dass die Falken stärker als bisher im Osten arbeiten müssten, um dort ein »Aufweichen« zu erreichen. Der Jugendvertreter Koffke32 äußert dazu, dass dieses Aufweichen in der Humboldt-Universität bereits vorhanden sei.
Am 30.10.1956 erschienen im Flüchtlingslager Marienfelde drei Herren (SPD und CDU), die zu den Flüchtlingen äußerten: »Sie sollten sich an Ungarn ein Beispiel nehmen. Die hätten gezeigt, wie man sich vom russischen Joch befreien könne«. Es meldeten sich einige Personen, die bereit waren unter falschen Namen in die DDR zurückzukehren. (Inoffiziell)
Ein Teil Studenten der »Freien Universität«, die aus der DDR kommen und Verwandte in der Bundesrepublik haben, lassen sich von diesen aus der BR Personalausweise auf ihren Namen ausstellen. Die Eltern beantragen dann beim Rat des Kreises in der DDR Aufenthaltsbescheinigungen für acht Wochen. Auf diese Weise gelangen viele Studenten in die DDR. (Inoffiziell)
IX. Besondere Vorkommnisse
Der ABV im Wirkungsbereich 9 Pankow teilte mit, in der Stalinallee sind männliche Personen an Verkäuferinnen in den Geschäften herangetreten und haben gefragt, wo führende »SEDisten [sic!] wohnen, damit man diese zur gegebenen Zeit aufhängen kann«. (Mitteilung ist nicht überprüft.)
Ein Informations-Beamter der SPD äußerte, dass es in der DDR »im geheimen Staat schwele. Wenn sich die Lage in Ungarn etwas geklärt hat, ginge es bestimmt in der DDR los.« Der Einfluss käme nicht vom Westen. Aus Boitzenburg, [Bezirk] Magdeburg, Halle, Eisenach und Thüringen lägen schon die diesbezüglichen Berichte vor, dass es Anfang des neuen Jahres in der DDR losgehe, weil die Arbeiter mit [der] Normtreiberei unzufrieden sind und weil dann auch der ganze Schwindel mit der Rentenerhöhung und Abschaffung der Lebensmittelkarten klar sein würde.33 Der Sozialdemokrat hat angedeutet, dass die Erhebung von Nord- und Südosten der DDR ins Rollen käme.
Ein Amerikaner äußerte, dass auch in der ČSR Aussichten für eine Provokation vorhanden sind. Der Anstoß käme nicht von der ČSR, sondern aus der DDR aus den Städten Karl-Marx-Stadt und Zwickau. Waffen wären genug vorhanden. Die Sache würde noch vor Weihnachten losgehen. Anfangen würde man dort, wo die meisten Truppen der Sowjetunion stationiert sind.