Lage in der DDR (22) 8.11.
8. November 1956
Information Nr. 318/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik – in der Zeit von 8.00 Uhr bis 20.00 Uhr am 8. November 1956 eingegangenes Material
I. Industrie
Halle: Am 6.11.1956, gegen 9.15 Uhr, fiel der Bagger II im Abraum Pirkau des VEB Deuben, [Kreis] Hohenmölsen,1 aus der Förderung aus. Ursache: An der linken Eimerkette brach eine Schale. Ausfall: ca. 10 000 cbm = 7 000 DM.
Dresden: In der vergangenen Woche haben zwei Rangierer vom Bahnhof Ebersbach, [Kreis] Zittau,2 einen Tag nicht gearbeitet. Ursache war, dass die Versorgung der Eisenbahner mit Arbeitsschutzschuhen zu dieser Zeit ins Stocken kam. Die Auslieferung erfolgte von der RBD Cottbus nicht schnell genug. Im VEB Jacquard-Weberei Niederodewitz,3 [Kreis] Zittau, gibt es starke Diskussionen über die Unterbringung der Arbeitskräfte. Der Betrieb wird dem Textil-Kombinat angeschlossen und muss seine Angestellte stark produzieren [sic!]. Bis jetzt ist es der Kombinatsleitung noch nicht gelungen für elf Kollegen Arbeitsplätze zu beschaffen. Außerdem tritt für die übernommenen Kollegen zum größten Teil Lohnabbau ein.
II. Landwirtschaft
Dresden: Am 2.11.1956 waren bei einem Großbauern in Großnaundorf, [Kreis] Kamenz, vier Großbauern, die in der Gemeinde wortführend sind, versammelt. Es wird vermutet, dass diese Großbauern die Zusammenkunft dazu benutzten, um irgendwelche Maßnahmen gegen die DDR durchzuführen. Der in Somsdorf, [Kreis] Freital, tätige Schmied hat im Ort noch keine Wohnung und muss täglich von Wurgwitz zur Arbeit.4 Da der Schmied mit der Kündigung droht, falls er keine Wohnung bekommt, erklärten die Bauern, dass sie die Ablieferung einstellen, wenn die Wohnungsangelegenheit nicht geregelt wird. Im ÖLB5 Porschdorf,6 [Kreis] Sebnitz, fand am 5.11.1956 eine Aussprache statt, auf der der Kauf einer Jauchenpumpe und einer Rübenzerkleinerungsmaschine festgelegt wurde. Da der tatsächliche Preis aber 420 DM beträgt, konnte der Bürgermeister die Einwilligung nicht geben, weil der Betrieb ca. 10 000 DM Schulden hat. Daraufhin erschien am 6.11.1956 der Betriebsleiter beim Bürgermeister und erklärte, dass, wenn die Rübenmaschine nicht gekauft würde, ab Mittag die Arbeit niedergelegt würde. Die gleiche Forderung stellte ein Landarbeiter, der kurze Zeit später auf dem Gemeindeamt erschien. Im ÖLB wurde dann auch die Arbeit von den vier beschäftigten Personen niedergelegt. Sie nahmen die Arbeit wieder auf, als die SED-Kreisleitung versicherte, dass sie die Rübenmaschine kaufen können. Von einem Instrukteur der DBD im Kreis Bautzen wird berichtet, dass im sorbischen Gebiet des Kreises die CDU eine verstärkte Werbung durchführen soll. Sie hat dabei folgende Argumente: Bei den Aussprachen mit den Bauern erklärten sie, dass die CDU einen viel größeren Einfluss als die DBD hätte. Außerdem hätten sie sich dafür eingesetzt, dass der Ablieferungstermin auf den 31.12.1956 festgelegt wurde.
III. Versorgung
Berlin: In einigen Stadtbezirken wurden weiterhin Hamstereinkäufe bekannt. In der Geschäftsstelle der VGB (Versicherung) sprachen einige Kollegen davon, dass man sich mit Lebensmitteln versorgen solle, weil man nicht wüsste, ob sich die Ereignisse in Ägypten nicht zu einem Weltkrieg ausdehnen würden.7
Dresden: Als in einer HO-Verkaufsstelle in Dresden am 5.11.1956 HO-Butter geliefert wurde, standen ca. [Zahl fehlt] Personen danach an. In Dresden-Neustadt wurden Hamstereinkäufe festgestellt. Es wurden Mehl und Teigwaren in größeren Mengen verlangt. Aus dem Großhandelskontor Görlitz wird bekannt, dass [es] schwierig ist, Damenoberbekleidung zu beschaffen. Allein bis zum 20.10.1956 wurden durch die Konfektionsindustrie größere vertraglich festgelegte Mengen nicht geliefert. Es handelt sich hierbei vor allem um Damenmäntel, Damenkleider, Kostüme, Hosen und Sportbekleidung. Als Grund für diese Vertragsverletzung wird angegeben: Materialausfall, vorrangige Importlieferungen der Gewebelieferanten, ferner Kohlenmangel, Stromabschaltungen und Preisschwierigkeiten. Es muss damit gerechnet werden, dass aus diesem Grunde die Versorgung im November gefährdet ist.
IV. Studenten
Leipzig: Am 8.11.1956 erschienen von der Seminargruppe 27 der Zahnmechaniker in Leipzig nur drei Studenten zum Russisch-Unterricht. Drei Studenten kamen sieben Minuten später, die anderen Studenten hatten untereinander abgesprochen, nicht zum Unterricht zu erscheinen. Die Seminargruppe 24, II. Studienjahr, erschien am 6.11.1956 ebenfalls nicht zum Russisch-Unterricht. Am 8.11.1956 lehnte der Leiter des Mathematischen Institutes der Karl-Marx-Universität ab, Vorlesungen zu halten, da an seinem Institut aus Anlass des 39. Jahrestages der Oktoberrevolution eine rote Fahne gehisst wurde. Obwohl veranlasst wurde gleichzeitig eine schwarz-rot-goldene Fahne zu hissen,8 ließ dieser trotzdem die Vorlesung ausfallen. Die Tochter eines VP-Genossen, die die 61. Grundschule in Dresden besucht, wird in den letzten Tagen von ihren Mitschülern als Russenknecht, Polizeijulau [sic!] und Polizeischwein bezeichnet. Vonseiten der Lehrer und der Schulleitung wird nur mangelhaft eingegriffen und es ist soweit, dass sich die Pioniere kaum noch getrauen ihre Halstücher zu tragen. In der Klasse 12a 1 der Oberschule Dresden-Nord wurde vom überwiegenden Teil der Schüler am 5.11.1956, 11.00 Uhr, eine Gedenkminute durchgeführt.9 Der Lehrer konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären und gab der Schulleitung auch keine Mitteilung von dem Vorfall.
Gera: Von der Universität Jena wird bekannt, dass am 9.11.1956 eine weitere Vollversammlung der Chemiker stattfindet, nachdem am 5.11. in der Vollversammlung kein Ergebnis zustande kam (zwei Drittel der Studenten verließen die Versammlung, da sie Essen gehen mussten). In dieser Versammlung wird der 1. Sekretär der Kreisleitung Jena ausgezischt, weil er erklärte, dass die Arbeiter mit dem Verhalten der Studenten nicht einverstanden sind.
Suhl: Am Nachmittag des 7.11.1956 forderten in der Hochschule der Elektrotechnik in Ilmenau, 8. Seminargruppe des IV. Semesters, 35 Studenten den gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht nur noch fakultativ durchzuführen. Am 5.11.1956 wurde das internationale Colloquium für Elektrotechnik (Hochschule) in Ilmenau eröffnet.10 Von 400 geladenen Studenten waren nur 25 zur Eröffnung anwesend. Am 5.11. waren ebenfalls die angekündigten sowjetischen Wissenschaftler noch nicht erschienen.
V. Tätigkeit des Gegners
Von der SPD in Bonn und dem SDS11 werden Aufrufe verfasst und an die Studenten in Groß-Berlin und der DDR verteilt. Inhalt dieser Punkte:
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Freiheit im Studium
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Betreiben des Auflösungsprozesses der stalinistischen Herrschaftsorganisation
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Wirkliche Demokratie an den Universitäten und Hochschulen
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Verwirklichung realer sozialistischer Errungenschaften in Deutschland
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Gewährung eines Stipendiums ist kein Druckmittel
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An den Universitäten und Hochschulen politische Bildung, aber keine politische Propaganda. Solange es SPD-Hochschulgruppen gab, wurde in der Sowjetzone gegen Stalinismus gekämpft. SDS wird die Studentenorganisation in einem einheitlichen, freiheitlichen, sozialistischen Deutschland sein.
Diese Aufrufe werden über die SPD (Westberlin) mithilfe von Studenten, die in Westberlin wohnen – an der Humboldt-Universität studieren – eingeschleust. Die Humboldt-Universität besitzt gute Verbindungen zu den Universitäten der DDR. (Der SPD-Landesvorstand, Zietenstraße,12 unterhält Kontakt zur Humboldt-Universität.)
Gegen 10.50 Uhr am 8.11.1956 blieb im Grenzbereich Staaken ein englischer Jeep mit zwei Personen stecken. Die Personen (Militär) waren betrunken. Sie wurden auf Anweisung des Stadtkommandanten von Berlin den englischen Behörden übergeben.
Es wurde bekannt, dass die Demarkationslinie13 auf westlicher Seite von Brochthausen bis Bad Sachsa/Worbis durch den BGS vollkommen abgeriegelt wurde, sodass von westlicher Seite kein illegaler Übergang möglich ist.14 Der BGS soll durch Einheiten, die am Herbstmanöver teilgenommen haben, verstärkt worden sein. Im Raum Bad Nauheim – Mannheim – Frankfurt/M. sollen in Richtung Grenze Ost – Süd Panzereinheiten zusammengezogen sein. Am Hauptbahnhof Bamberg sollen gegen 15.00 Uhr am 8.11.1956 zwei Züge mit je [sic!] Amerikanern eingetroffen sein. Es sollen Angehörige einer Nachrichteneinheit sein, die vermutlich von Frankfurt/M. nach Richtung Grenze DDR verlegt werden.15
VI. Feindtätigkeit
Leipzig: Hetzschriften wurden gefunden bzw. angeschmiert:
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An den Laternen in der Jacobstraße16 in Leipzig mehrere Hetzschriften – langsam arbeiten (in den letzten Tagen wurden wiederholt Jugendliche in dieser Gegend gesehen).
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In einem Schaukasten der Partei in Pirna, Straße der Roten Armee – raus mit den Russen, keinen Pfennig für Ungarn.
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Osthalle Leipziger Bahnhof (selbstgefertigte Hetzschrift – An das deutsche Volk, mit Inhalt – Volk steht nicht hinter der Regierung – Wir werden von den Russen regiert – Denkt an den 17. Juni, deshalb nieder mit KPD-Bonzen und Spitzbart.)17
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In dem Briefkasten eines Genossenschaftsbauern ein Flugblatt der NTS.18
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In einem Briefkasten eines Studenten ein Flugblatt in das ND eingefaltet.
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An der Hauswand einer Gaststätte in Leipzig N 26 – zwei Hakenkreuze.
Dresden
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Auf der Osterbergstraße Dresden – ein Hakenkreuz.
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Im VEB Elektrowärme Sörnewitz,19 [Kreis] Meißen, in der Abteilung Gestellbau in der Wandzeitung – ein Hakenkreuz.
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Am 7.11.1956 vor dem Eingang der MTS Kamenz an einem Straßenbaum ein Totenkopf mit weißer Farbe.
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In der technischen Hochschule in der Fakultät Bauwesen an der Wandtafel ein Hetzzettel – Hetze gegen UdSSR, DDR und Forderung nach freien Menschen [sic!].
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VEB Porzellan-Manufaktur Meißen erhielt am 7.11.1956 das vom zentralen Lenkungssauschuss zur Errichtung der Demokratie gefertigte »Ultimatum«, in dem am 12.11. zum Generalstreik aufgerufen wird. Martin-Hoop-Werk Karl-Marx-Stadt erhielt den gleichen Brief.
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Am 5.11.1956, gegen 20.00 Uhr, wurden in der SED-Kreisleitung VIII Dresden Fenster eingeworfen. Durch die Fenster wurden Muttern geworfen, an denen Hetzlosungen befestigt waren – »Euer Schwindel wird nicht mehr lange dauern, nieder mit Ulbricht und Grotewohl, Ruhm und Ehre den ungarischen Freunden«.
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Im VEB Edelstahlwerk Freital wurde am 7.11.1956 von unbekannten Tätern von der Wandzeitung die Bildseite aus dem ND von den Gräueltaten der Konterrevolutionäre in Ungarn abgerissen.20
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In der Nacht zum 7.11.1956 wurden vor der Kranzniederlegung zum 39. Jahrestag von unbekannten Tätern im Ehrenhain auf dem Friedhof Radeberg von 61 Grabsteinen gefallener Sowjetsoldaten 59 umgeworfen und mit grüner Ölfarbe beschmiert.21 Auf je einen Grabstein wurde ein Buchstabe geschrieben, aus denen sich insgesamt die Losung ergab »Unser Sieg, der Sieg ist uns gewiss«. Weiterhin wurden Abkürzungen SA, SS, HJ und Hakenkreuze angeschmiert.
Frankfurt/O.
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An der 6. Klasse der Volksschule Lebus, Kreis Seelow, folgende Losungen angeschmiert: SOS helft Ungarn – Russische Panzer schießen ungarische Freiheitskämpfer nieder (Täter zwei 12-jährige Mädchen).
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Am 5.11.1956, gegen 15.45 [Uhr], war die Fahne der Schule in Lebus auf Halbmast gesetzt. Am 6.11. wurde diese ordnungsgemäß aufgezogen und lag gegen 9.00 Uhr im Schmutz.
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An der Oberschule Fürstenberg/Oder wurde festgestellt, dass seit dem 29.10.1956 die Flagge ebenfalls auf Halbmast hing.
Gerüchte
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Leipzig: Im Restaurant Mitropa Leipzig erzählte ein Gast, Polen würde seine Verpflichtungen, der DDR 3½ Mio. t Steinkohle zu liefern, nicht nachkommen,22 folglich würde der Eisenbahnverkehr zum Erliegen kommen. Der polnische Sender hätte gebracht, dass Gomułka in Polen die Bodenreform aufgehoben hätte.23 (Im Hotel International in Leipzig von Gästen erzählt.) Die Frau eines Fleischermeisters in Leipzig C 1 erzählte einer Kundin, sie hätte eine Liste erhalten, wonach alles teurer würde.
Hetzbriefe
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Berlin: Das MdI erhielt per Post einen Brief. Inhalt: Abzug der Besatzungsmacht – Man will sich nicht länger von der nichtgewählten Regierung provozieren lassen – Hass den SED- und SSD-Funktionären24 – Verhaftungen sind Ausdruck unverhohlener Schwäche und bestätigen uns in unserer Meinung, dass wir uns durch nichts zurückschrecken lassen.
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Leipzig: Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Leipzig-Land erhielt einen Brief. Inhalt: Hetze gegen die DDR und Regierung sowie führende Funktionäre der Partei. Am 6.11.1956, gegen 15.45 [Uhr], wurde die Sekretärin des Leiters des Benzinwerkes Böhlen, [Kreis] Borna, von unbekannter Person angerufen. Diese Person sagte, wer für die Ungarn (Kommunisten) spendet, ist ein Verräter am Vaterland. Den gleichen Anruf erhielt ein Diplom-Ingenieur aus der Ingenieur-Zentrale.
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Dresden: VEB Metallwarenfabrik Zittau erhielt einen Brief, gerichtet an Genossen Grotewohl, Inhalt: Regierung würde das Vertrauen ihrer Wähler nicht mehr besitzen, Arbeiter wollen folgende Punkte wissen:
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Wann wird unser Lebensstandard gebessert?
- 2.
Wann finden freie Wahlen statt?
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Wann ziehen die Russen ab?
Wenn nur die schönen Worte bleiben, brauche sich die Regierung nicht zu wundern, wenn sie eines Tages weggefegt würde.
- 1.
VII. Westpropaganda
In einer Sendung des SFB vom 7.11.1956 mit dem Thema »Hat die Ulbricht-Gruppe von den jüngsten politischen Ereignissen profitiert« heißt es u. a. »… Zweifelslos hat die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn der Ulbricht-Gruppe einen Triumpf [sic!] in die Hände gespielt. Ulbricht operiert heute vor dem Politbüro mit dem Argument, die Ereignisse in Ungarn bestätigten, dass man [an] kritischen Tagen keine Umbesetzung der Parteiführung dulden dürfe … Aber«, so heißt es weiter, »Männer wie Rau,25 Oelßner26 und sogar der Verteidigungsminister Stoph27 sind fest entschlossen, Ulbricht in der nächsten Kurve über Bord zu werfen …«