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Lage in der DDR (29) 12.–13.11.

13. November 1956
Information Nr. 330/56 – Betrifft: Die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik – in der Zeit vom 12. November 1956, 8.00 Uhr, bis 13. November 1956, 8.00 Uhr, eingegangenes Material

I. Industrie und Verkehr

Berlin: Aufgrund technischer Ursachen ist in der Kohlenmahlanlage des Kraftwerkes Klingenberg ein Kompressor ausgefallen. Der vorläufige Ausfall an Energie beträgt 95 Mio. Watt am Tage. Voraussichtlich dauert die Reparatur zwei Tage. Es wird versucht, Abschaltungen im Bereich der DDR zu vermeiden.

Karl-Marx-Stadt: Das Stromkontingent in fast sämtlichen Betrieben des Bezirkes musste seit dem 7.11.1956 reduziert werden, wodurch in vielen Fällen Produktionsausfall und vor allem Lohneinbußen bei den Arbeitern entstanden ist [sic!]. Diese Situation ruft unter den Werktätigen negative Diskussionen hervor, zumal einige Betriebe sich gezwungen sahen, zur Nachtschicht überzugehen. Die Arbeiter bringen zum Ausdruck: »Das können wir nicht verstehen, dass elf Jahre nach Kriegsende immer noch nicht genügend Strom zur Verfügung steht und sie darunter leiden müssen. Gerade jetzt vor Weihnachten, wo wir mit jedem Pfennig rechnen müssen, um unseren Angehörigen zum Weihnachtsfest eine Freude bereiten zu können.« Diese Diskussionen traten im VEB Messgerät Zwönitz,1 in den Bauwollspinnereien des Kreises Flöha, in den Strumpfwerken des Kreises Stollberg, im VEB Renak, Reichenbach, im VEB Textilwerk »Einheit« in Glauchau und im VEB Feinspinnerei Burgstädt, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, auf.

Ferner ist ein Engpass in verschiedenen Betrieben in der Kohleversorgung eingetreten. Der VEB Feinstrumpfwerk Oberlungwitz, [Kreis] Hohenstein-Ernstthal, verfügt über keinen Bestand mehr. Am 11.10.1956 wurden 40 t vom Hausbrandbedarf der Bevölkerung zur Verfügung gestellt, welche bis zum 13.11.1956 reicht. Der VEB Erzgebirgische Möbel und Spielwarenfabrik Niedersaida,2 [Kreis] Marienberg, verfügt ebenfalls nur noch über einen Kohlebestand für zwei Tage. Die DHZ Kohle Karl-Marx-Stadt ist in ihrer Lieferung mit 55 t Siebkohle und 60 t Rohbraunkohle im Rückstand. Die Betriebe des Kreises Plauen können mit Brennstoff gleichfalls nur auf das Notwendigste bevorratet werden, da auch hier eine empfindliche Kürzung von 500 t erfolgte.

Im VEB Schnittwerkzeuge Mewa, Klingenthal, bestehen Schwierigkeiten in der Belieferung mit Stahlsand durch den privaten Zulieferbetrieb Oskar Hohlfeld, Beiersdorf OL, welcher seit August des Jahres mit der Belieferung von drei Tonnen im Rückstand liegt. Die Lieferfirma begründet ihren Lieferverzug damit, dass sie nicht genügend Vormaterial zur Herstellung des Stahlsandes vom VEB Motorenwerk Cunewald erhält. Durch diesen Umstand wird die Produktion von Fleischwölfen und Fruchtpressen, welche vorwiegend für den Export in die Volksrepublik Polen bestimmt sind, erheblich betroffen.

In den Steinkohlenwerken besteht noch immer ein Mangel an Gummibändern, Schrauben, Muttern und Blechen sowie an Nilos-Haken; in den technisch Physischen Werkstätten Thalheim,3 [Kreis] Stollberg, an Kondensatoren-Widerständen.

Der Maschinenpark des VEB Trikotagenwerk Limbach-Oberfrohna, [Kreis] Karl-Marx-Stadt[-Land], ist veraltet (Konfektionsmaschinen). Ersatzteile stehen in völlig ungenügendem Maße zur Verfügung und oftmals weisen sie eine schlechte Qualität auf. In der Abteilung Schmiede des VEB Renak, Reichenbach, ist aufgrund einer Planreduzierung für das Jahr 1956 zu verzeichnen, dass nur noch bis Ende dieses Monats Arbeit vorhanden ist. Dann tritt ein Stillstand für mehrere Wochen ein. In der 6. Abteilung des Martin-Hoop-Werkes Zwickau wurde ein Brandgeruch festgestellt. In einem Hunt,4 der mit Bahnlagern beladen war, wurde glimmendes, in Wachs getränktes Papier festgestellt. Schaden ist keiner entstanden. Täter noch unbekannt.

Wismut: Im Kombinat 277 – Auerbach – besteht in der Teufe5 362 Mangel an Hunten. Dazu sind Diskussionen in Umlauf: Man müsste ebenfalls Krach machen wie in Ungarn6 und nicht mehr arbeiten. Ein Schlosser (Umsiedler) – Kompr. Station 95 – Freital – äußerte: »In den Sanitätszügen der DDR nach Ungarn waren in verschiedenen Kisten Waffen und kein Sanitätsmaterial. Das habe ich vom Schweizer Rundfunk und der ist neutral.« Ein Arbeiter, [Name 1], Ronneburg: »Bei uns ist es nur die Ruhe vor dem großen Sturm und es kommt auch lediglich darauf an, abzuwarten, wie es in Ungarn und Polen7 ausgeht. Jetzt hat es keinen Zweck, etwas zu unternehmen. In Greifswald haben die Studenten demonstriert und damit Ruhe ist, haben die oben klein beigegeben.«

Schwerin: Im Zellstoffwerk Wittenberge ist der Engpass an Spinnpumpen noch nicht behoben. Des Weiteren wird durch die Stromumschaltungen besonders das Nähmaschinenwerk betroffen. Um die Produktion nicht zu unterbrechen, wurde die Arbeitszeit auf zwei Stunden zurückverlegt. Dieses führte zur Verärgerung unter den Frauen.

Rostock: Unter den Werkern der Warnow-Werft Warnemünde wurde bekannt, dass die Werftarbeiter auf Anraten der Hauptverwaltung Berlin den Stromverbrauch einzuschränken hat. Dieses sollte durch eine administrative Regelung in Bezug auf Weglass bzw. Einschränkung der Tagesschicht geschehen, sodass hauptsächlich wieder Früh- und Nachtschicht gearbeitet werden soll. In vielen Abteilungen der Werft wurde sofort negativ diskutiert: In der Sowjetunion wird die Nachtschicht abgeschafft und wir müssen wieder Nachtschicht fahren. Auf der Werft hat man angefangen ein Stromaggregat zu bauen und es wird überhaupt nicht fertig. Es ist traurig, nach zehn Jahren noch nicht genug Energie zu schaffen. Daraufhin erklärte der BGL-Vorsitzende Günter, dass wie bisher weitergearbeitet wird.

Potsdam: In nachstehenden Betrieben wird von einem großen Teil der Arbeiter negativ über die Hilfe der Sowjetarmee in Ungarn diskutiert:

  • VEB Zähler- und Apparatebau Teltow, [Kreis] Potsdam-Land

  • VEB Baumechanik Niederneuendorf, [Kreis] Oranienburg,

  • VEB LEW Hennigsdorf, [Kreis] Oranienburg, Abteilung Blechschlosserei (ca. 50 % der Kollegen).

Der Stützpunktleiter der GST im VEB »Karl Marx« in Potsdam-Babelsberg8 äußerte: Wenn man in Ungarn die Kommunisten aufgehangen hat, dann werden sie es verdient haben. Arbeiterinnen aus dem VEB Tischlerei Pritzwalk sagten, dass man sich schon jetzt Vorräte an Lebensmitteln und Textilien schaffen müsste, denn die Ereignisse, wie sie in Ungarn waren, würden auch bald in der DDR eintreten.

II. Landwirtschaft

Potsdam: Der Schweinemeister der LPG »Einheit« in Kremmen, [Kreis] Oranienburg, fand am 4.11.1956 in einem Futtertrog für fünf Sauen zerbrochene Rasierklingen. Einige Tage zuvor fand er im Futtertrog eines Ebers verrostete Nägel. Ein Großbauer aus Kampehl, [Kreis] Kyritz, äußerte: Jetzt zurzeit müsste kein Bauer die Kartoffeln abliefern. Die Arbeiter müssen in den Städten erst Hunger bekommen, damit sie aktive Aktionen gegen den Staat durchführen. Diese Äußerungen unterstützten noch zwei Großbauern.

Karl-Marx-Stadt: Am 6.11.1956 brach bei einem Mittelbauern in Lichtenberg, [Kreis] Brand-Erbisdorf, ein Scheunenbrand aus. Totalschaden in Höhe von 15 000 DM. Nach Gutachten der Brandkommission liegt Brandstiftung vor. Täter noch unbekannt. Am 11.11.1956 brach in der LPG »Fortschritt« in Wilkau-Haßlau, [Kreis] Zwickau[-Land], ein Scheunenbrand aus. Schaden 20 000 DM. Brandursache und Täter noch unbekannt.

III. Versorgung

Gera: Im Kreis Stadtroda kam es bei Anlieferung von HO-Butter in Hermsdorf zur Schlangenbildung. Frauen, die bereits zwei Stunden anstanden, sagten: Man müsste diese Schlange fotografieren und die Bilder nach Westdeutschland schicken. Im gleichen Ort herrscht Verärgerung, weil noch nicht alle Haushalte mit Einkellerungskartoffeln beliefert sind. Grund dafür ist, dass die Bauern ihren Sollverpflichtungen nur schleppend nachkommen und mit der Ablieferung erst einmal warten wollen, um zu sehen, wie die politische Lage sich entwickelt.

Schwerin: In den Kreisen Perleberg, Parchim und Ludwigslust traten ebenfalls negative Diskussionen über die ungenügende Versorgung von Einkellerungskartoffeln auf.

Wismut: Aus Auerbach werden Hamstereinkäufe an Mehl, Öl und Haferflocken gemeldet. Ein gewisser [Name 2] aus der Mitropa Plauen sagte: Man soll kaufen wenn man kann, um die Hungersnot zu überbrücken.

IV. Besondere Vorkommnisse

Wismut: Am 6.11.1956 kam es nach einer Veranstaltung zu einer Schlägerei zwischen Funktionären der SED-Kreisleitung und der FDJ. Erst wurde miteinander getrunken, dann schnitten sie sich die Krawatten ab und einem zerrissen sie das Hemd.

Rostock: Der Dekan Prof. Dr. Ing. Krause9 von der Universität Rostock wurde bei einer Tagung in Berlin von Abteilungsleiter Rudolf, Staatssekretär für Hochschulwesen, zum Staatssekretariat gebracht. Dort wurde er um eine Stellungnahme zum Russisch-Unterricht gebeten, die angeblich für eine ZK-Vorlage gebraucht wurde. K. diktierte einer Sekretärin seine Meinung zu dieser Frage. Am 31.10.1956 erschien im »Neuen Deutschland« diese Stellungnahme, als »von ihm eingereicht«.10 K. ist über diese Art empört und hat den Artikel dementiert und um Aufklärung hierüber gebeten.

Potsdam: Am 10.11.1956 sangen in der HO-Gaststätte »Thomas Müntzer« in Golm vier Offiziere der Nationalen Volksarmee faschistische Lieder und veranlassten die Kapelle, ebensolche zu spielen. Als Angehörige des MfS die Gaststätte betraten, sagten die Offiziere zur Kapelle: Aufhören, die Roten kommen. In der Nacht zum 10.11.1956 wurde am Gebäude der SED-Stadtleitung Potsdam eine Fensterscheibe eingeschlagen.

Gera: Aus den Kreisen Gera und Jena ist in der Zeit vom 1. bis 6.11.1956 ein erheblicher Spareinlage-Rückgang zu verzeichnen. Jena: Stadt- und Kreissparkasse 40 000 DM. Vorwiegend werden von älteren Personen 300 bis 400 DM abgehoben. Zu erwähnen ist, dass Angestellte der Stadt- und Kreissparkasse Gera bei Einsätzen in VEB zwecks Werbung von Sparern von Arbeitern Folgendes gesagt wurde: Es wird Krieg, da verfressen wir lieber unser Geld. Am 11.11.1956, gegen 16.50 Uhr, schoss eine unbekannte Person, vermutlich mit einem KK-Gewehr, auf einen Personenzug, der auf dem Bahnhof Rudolstadt hielt. Ein Geschoss durchschlug ein Fenster eines Abteils, ein zweites Geschoss schlug gegen die Außenwand des Wagens. Personen wurden nicht verletzt.

V. Feindtätigkeit

Frankfurt/O.: Auf die Rückseite einer Einladung für eine Kundgebung der Nationalen Front11 in Beeskow wurde mit Schreibmaschine eine wüste Hetze gegen die SED und die SU geschrieben. In der Nacht zum 12.11.1956 wurden im Walzwerk Finow (Neuwerk), [Kreis] Eberswalde, in einer Werkhalle mehrere Hakenkreuze angeschmiert.

Berlin: Am 12.11.1956 wurden eine größere Anzahl Flugblätter der KgU an der Sektorengrenze und im Stadtbezirk Lichtenberg festgestellt.12 (Art der Verbreitung nicht bekannt.)

Dresden: Am 12.11.1956, gegen 4.00 Uhr, wurde in einer Straßenbahn der Linie 18 (Dresden-Cotta)13 ein maschinengeschriebenes Hetzblatt zur Aufforderung zum Streik gefunden.

Potsdam: Im DEFA-Spielfilmstudio wurde im Clubraum ein Tischwimpel der FDJ mit Kopierstift überschrieben »HJ«.

Gera: Am 10.11.1956 wurden in Pößneck acht selbstgefertigte Hetzzettel, die Hetze gegen die SU beinhalten, gefunden.

Rostock: Im Studentenheim Rostock, Thierfelderstraße,14 wurde an einer Wandzeitung die Überschrift »Die Konterrevolution in Ungarn ist niedergeschlagen« – in »Die Revolution in Ungarn ist niedergeschlagen« umgeändert.

Leipzig: Am 12.11.1956 wurden in Döbeln 1 000 Hetzschriften der KgU mit Ballon sichergestellt.

Karl-Marx-Stadt

  • Sechs selbstgefertigte Hetzblätter in der Zentralen Mittelschule in Oelsnitz: Hetze gegen unsere Regierung.

  • Von fünf verschiedenen Anschlagtafeln in der Gemeinde St. Michaelis,15 [Kreis] Brand-Erbisdorf, wurden die Plakate der Jugendweihe abgerissen.16

  • In einem Personenwagen der Reichsbahn (Strecke Rechenberg-Bienenmühle17 – Freiberg) an Reklameschildern folgende Hetzlosungen: »Wie lange sollen wir noch geknechtet werden? Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern. Wir wollen frei sein wie unsere Väter es waren.«18

  • An einer Hauswand in Reichenbach Hetze gegen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl.

  • In Penig, [Kreis] Rochlitz, an einer Brücke Hetze gegen die SU.

  • An sechs Anschlagtafeln und an einer Hauswand in Diethensdorf,19 [Kreis] Karl-Marx-Stadt[-Land], Hetze gegen die Sowjetarmee.

  • In Zwickau im Speisesaal des Haftanstaltlagers Steinkohle ein selbstgefertigter Hetzzettel: »Kameraden, stört die Kohlenförderung. Wir wollen keinen Faschismus, aber auch keine Ausbeutung des Arbeiters durch den Arbeiter. Denkt daran, wir sind nicht allein.« Unterschrift: »Gruppe guter Deutscher«.

VI. Universitäten und Schulen

Potsdam

  • In der Schule Groß Glienicke, [Kreis] Potsdam-Land, wird seit den Ereignissen in Ungarn der Schulunterricht von den Lehrern nicht mehr mit dem Pioniergruß wie bisher eröffnet.

  • In der landwirtschaftlichen Berufsschule wurden zwei Fahnen von dem besten Schüler (18 Jahre alt) sowie aktives FDJ-Mitglied auf Halbmast gesetzt. Er erklärte, er habe sich nichts dabei gedacht, aber unsere Presse sage nicht die Wahrheit und er wüsste viel mehr. Der Schüler wurde belehrt.

  • Die Schüler der 8. Klasse der Zentralschule Baruth, [Kreis] Zossen, diskutierten mit dem Lehrer [Name 3] über Ungarn. Die Diskussionen der Schüler waren negativ und es kam soweit, dass sie riefen: »[Name 3] lügt, RIAS siegt«. Ferner warfen sie mit Bleistiften nach dem Lehrer.

VII. Anonyme Anrufe und Briefe

Potsdam: Ein Professor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft »Walter Ulbricht«, Babelsberg, erhielt einen anonymen Brief mit Drohungen: »Es würde einmal zur Abrechnung kommen …«

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    13. November 1956
    Information Nr. 331/56 – Betrifft: Die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik, in der Zeit vom 13. November 1956, 8.00 Uhr, bis 13. November 1956, 20.00 Uhr, eingegangenes Material

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    12. November 1956
    Information Nr. 328/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik – in der Zeit vom 10. November 1956, 8.00 Uhr, bis 12. November 1956, 8.00 Uhr, eingegangenes Material