Lage in der DDR (38) 17.11.–19.11.
19. November 1956
Information Nr. 345/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (vom 17.11.1956, 8.00 Uhr, bis 19.11.1956, 5.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Industrie und Verkehr
Berlin
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Vom VEB Bergmann-Borsig, Berlin-Wilhelmsruh, befinden sich 80 Arbeiter und Ingenieure in Ungarn. Die Angehörigen haben bisher keine Nachricht erhalten. Rundfunkmeldungen werden nicht geglaubt.1 Negative Elemente benutzen diese Situation zur Hetze.
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Im VEB Kodak, Berlin-Oberschöneweide, halten sich die Arbeiter gegenseitig zu Hamstereinkäufen an, »da es bald zu einem neuen Krieg käme«.
Dresden
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Im VEB Waggonbau Niesky fordert die Brigade 7 eine Senkung ihrer Normen. Bei Nichtdurchführung wird mit Verweigerung der Arbeitsaufnahme gedroht. Der Wortführer war bereits am 17.6.1953 beteiligt.
Karl-Marx-Stadt
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Am 17.11.1956 beabsichtigte die Fachversammlung des Kraftfahrzeughandwerks eine Resolution zu verfassen. Aus Protest gegen die bürokratische Auslegung der Gesetze durch die Abteilung Finanzen sollte die Arbeit zwei Wochen niedergelegt werden. Dem Präsidenten der Handwerkskammer gelang es, die Annahme der Resolution zu verhindern. Das Gleiche wurde auf einer Versammlung der Ofensetzer bekannt. Diese sind nicht damit einverstanden, dass jede geleistete Arbeitsstunde über acht Stunden versteuert werden muss, da sie dadurch in Steuerschulden geraten.
Halle
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In der Böttcherei der Farbenfabrik Agfa Wolfen, [Kreis] Bitterfeld, verweigern die Arbeiter die Beitragszahlung für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft aufgrund der Ereignisse in Ungarn.
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Im Entwurfsbüro für Industriebau Dessau erklärte der Chefstatiker seinen Austritt aus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Dieselbe Absicht äußerten noch mehrere Ingenieure, die alle Mitglieder der CDU sind.
Neubrandenburg
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Im VEB Sägewerk Hohenlychen lehnte ein großer Teil der Beschäftigten auf einer Betriebsversammlung den Vorschlag für eine Sonderschicht zur Unterstützung Ungarns ab.2
II. Landwirtschaft
Neubrandenburg
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Im MTS-Stützpunkt Klein Vielen, [Kreis] Neustrelitz, lehnte ein Umsiedler eine Sammlung für Ungarn ab. Seinen verleumderischen Äußerungen schlossen sich die anwesenden Traktoristen und Feldbaubrigadiere an.
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Am 18.11.1956 brannte zwischen 6.00 und 7.00 Uhr eine Strohmiete der LPG Neubrandenburg nieder. Ursache noch nicht bekannt, Schaden ca. 3 000 DM.
Magdeburg
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Am 17.11.1956 brannte in Staßfurt eine Miete von einem Großbauern mit 14 dzt Roggenstroh ab. Ursache ist vermutliche Brandstiftung, Schaden ca. 400 DM.
Leipzig
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In der Nacht zum 17.11.1956 wurde der Rinderstall und die angebaute Scheune der LPG »Clara Zetkin« in Pomßen, [Kreis] Grimma, von unbekannten Tätern in Brand gesteckt. Schaden ca. 75 000 DM.
Schwerin
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Am 17.11.1956 wurde von zwei Kindern (4 und 8 Jahre) die Scheune der LPG Baumgarten, [Kreis] Bützow, in Brand gesteckt. Dabei verbrannten 750 dzt Getreide.
Potsdam
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In der Nacht zum 18.11.1956 brannte in der LPG Falkenthal, [Kreis] Gransee, durch vermutliche Brandstiftung eine Scheune ab.
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Am 18.11.1956 brannte gegen 14.15 Uhr in der LPG Mildenberg, [Kreis] Gransee, eine Scheune ab. 18.35 Uhr brannte auf der LPG Mildenberg, ca. 250 Meter vom o. a. Brand, eine weitere Scheune nieder. Der Schaden ist beträchtlich. Untersuchungen werden geführt. Vorhandene Fußspuren lassen auf Brandstiftung schließen.
III. Versorgung
Berlin: Unter der Bevölkerung herrscht Unzufriedenheit darüber, dass es keine Wintermäntel für Kinder und keine Reißverschlüsse zu kaufen gibt.
IV. Besondere Vorkommnisse
Frankfurt/O.
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Im Lager »Helmut Just« in Stalinstadt3 wurde der Haupträdelsführer einer illegalen Gruppe festgenommen. Die Gruppe hatte sich mit dem Ziel gebildet, eine Konterrevolution in der DDR zu unterstützen. Der Rädelsführer war bereits wegen illegalem Waffenbesitz inhaftiert.
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Am 17.11.1956 wurde um 19.10 Uhr der Posten vor dem Munitionsbunker der Flakkaserne Eggersdorf,4 [Kreis] Strausberg, von drei unbekannten männlichen Personen durch einen Streif- und einen Steckschuss verletzt. Die Täter entkamen auf Fahrrädern. Die Geschosse sind vermutlich ausländischer Herkunft.
Potsdam
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Am 17.11.1956 wurden auf dem Bahnhofsgelände Treuenbrietzen zwei Weichen durch Schottersteine blockiert. Schaden entstand nicht.
Dresden
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Am 18.11.1956, gegen 1.10 Uhr, wurde der VP-Angehörige [Name 1, Vorname] in Cunnersdorf, [Kreis] Pirna, nach einem Tanzvergnügen in der Gaststätte »Heiterer Blick« blutig niedergeschlagen. Der Täter – [Name 2, Vorname] von der Bau-Union Dresden – wurde festgenommen. Vor der Schlägerei äußerte er, »dass er gleich rot sieht und rangeht, wenn er eine Uniform sieht«. Der VP-Angehörige liegt bewusstlos im Krankenhaus und konnte noch nicht vernommen werden. Er soll schon öfter in Schlägereien verwickelt gewesen sein.
Neubrandenburg
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Am 17.11.1956 meldete ein ehrenamtlicher Mitarbeiter der Nationalen Front5 in Neubrandenburg, dass bei seiner Tochter unter dem Bett eine größere Menge Leitungsdraht liegt. Diesen Draht sollte sie für zwei Soldaten der Nationalen Volksarmee aufbewahren (Namen sind bekannt). Bei der Vernehmung stellte sich heraus, dass ihre Freundin in einem Koffer fünf Trommelrevolver sowjetischer und französischer Herkunft in ihrem Zimmer versteckt hielt. Bisher wurden drei Personen festgenommen. Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.
Berlin
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Am 17.11.1956 wurden vom AZKW6 zwei weibliche Personen festgenommen. Diese wohnen in Gera und trugen im Hüftgürtel je 150 Zeitschriften der Zeugen Jehovas versteckt.7
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In der Nacht zum 15.11.1956 wurde von unbekannten Tätern der sowjetische Ehrenfriedhof in Berlin-Biesdorf geschändet. Dabei wurden 32 Grabsteine umgeworfen.8
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Am 18.11.1956 wurde bis gegen Mittag festgestellt, dass auffallend viele Friseure aus verschiedenen Gebieten der DDR nach Berlin fuhren. Allein am KPP Schönefeld passierten einige 100 solcher Personen. Eine Überprüfung ergab, dass am Funkturm eine Fachtagung der Westberliner Friseure stattfand, die am 19.11.1956 fortgesetzt werden soll.9 Über Verteilung von Hetzschriften, Päckchen usw. konnte nichts festgestellt werden. Die Ansprachen enthielten keine politischen Momente.
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Am 18.11.1956 stellte ein Spaziergänger in Berlin-Friedrichsfelde, Lincolnstraße, ca. 50 umherliegende Ampullen fest, die etwa 5 cm lang und zwei Streichholzstärken dick waren. Die Untersuchung ergab, dass es sich um ungefährlichen Riechstoff handelt.
Halle
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Auf dem Bahnhof Hohenthurm10 [bei] Halle verunglückte am 18.11.1956, gegen 16.30 Uhr, der Lokheizer [Name 3] (53 Jahre) tödlich. Beim Abkuppeln von Wagen vom Sonderzug 19933 kam er zwischen die Puffer. [Name 3] ist verheiratet und hinterlässt acht Kinder.
Magdeburg
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Am 18.11.1956, gegen 19.45 Uhr, fuhr auf dem Bahnhof Wegeleben ein Nahgüterzug einem Durchgangsgüterzug in die Flanke. Dabei entgleiste die Lok des Durchgangsgüterzuges mit allen Tenderachsen und zwei mit Kohle beladene Güterwagen wurden stark beschädigt. Schaden ca. 1 100 DM.
V. Feindtätigkeit
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Magdeburg: Am 15.11.1956 wurden in Ihleburg, [Kreis] Burg, acht selbstgefertigte Hetzschriften mit antisowjetischem Inhalt verbreitet. Die Täter konnten jetzt ermittelt werden. Es handelt sich um drei minderjährige Schüler. Sie gaben an, den Inhalt für die Hetzschriften aus westlichen Rundfunkberichten und aus Gesprächen ihrer Eltern entnommen zu haben.
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Neubrandenburg: Am 14.11.1956 wurde in Anklam wiederholt eine selbstgefertigte antisowjetische Hetzschrift angebracht.
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In der Nacht zum 13.11.1956 wurden in der Gemeinde Gielow, [Kreis] Malchin, an mehreren Stellen selbstgefertigte Hetzschriften angeklebt. Diese enthielten in zwei Fällen Aufforderungen zur Republikflucht.
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Dresden: Vom 14. bis 15.11.1956 wurden Losungen gegen die Regierung der DDR an drei Stellen im Stadtgebiet von Dresden und im VEB Spinnerei und Weberei Ebersbach, [Kreis] Löbau, angeschmiert.
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Am 15.11.1956 wurden am Bahnhof Pirna faschistische Schmierereien festgestellt.
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Frankfurt/O.: Am 15.11.1956 wurden in Neuenhagen, [Kreis] Strausberg, mehrere faschistische Schmierereien angebracht.
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Leipzig: Am 12.11.1956 wurden in Altenburg die Losungen »Alle Arbeiter streiken« und »Streik« und in Meuselwitz, [Bezirk] Leipzig, vier Hakenkreuze angeschmiert.
VI. Anonyme Anrufe und Briefe
Neubrandenburg:
In RAW Neubrandenburg wurden dem Hauptbuchhalter und dem Parteisekretär in einem anonymen Anruf mit ähnlichen Ereignissen wie in Ungarn gedroht.
Dresden
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Am 16.11.1956 wurde in der Ingenieurschule Meißen anonym angerufen und nach der Bewachung gefragt. Die SED-Kreisleitung, der Rat des Kreises und die Abteilung Gesundheitswesen erhielten am gleichen Tage Anrufe: »Wir leben noch«.
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In Zittau wurde dem sowjetischen Kommandanten ein anonymer Brief mit Verleumdung der SU per Post zugeschickt.
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In Löbau erhielt die Nationale Front einen anonymen Brief mit Mordhetze gegen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck, Verherrlichung des 17.6.1953 und der SPD.
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Der Rat der Stadt Glashütte, [Kreis] Dippoldiswalde, erhielt einen Brief aus Westfalen, in dem er um Zusendung eines Abdruckes des Stadtwappens für Werbezwecke gebeten wurde. Absender des Briefes: Fa. Zentralbüro Abeler, Münster/Westfalen, Piusallee 34.
Schwerin
Dem VEB Sauerstoffwerk Bützow wurden zwei Einladungen »zur Besichtigung der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen« zugesandt. Hierbei handelt es sich um Fälschungen der KgU.11
Leipzig
Zwei Studenten aus Leipzig erhielten einen Brief mit folgendem Text: »Es ist angebracht, sich in allen Dingen etwas ruhiger zu verhalten. Das ist zunächst keine Drohung sondern eine Aufforderung und bezieht sich nicht nur auf persönliches Verhalten. – Jemand, dem Du unsympathisch bist.«
VII. Studenten und Schulen
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Berlin: An der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin-Weißensee werden zzt. Unterschriften gegen den Russisch- und Gewi-Unterricht gesammelt.12 Politisch organisierte Studenten werden von der Sammlung ausgeschlossen.
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Dresden: In der Berufsschule Meißen drohte eine Klasse ihrem Lehrer mit Streik, wenn er die geschriebenen Arbeiten nicht zurückgibt.
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Gera: Die Medizinstudenten der Universität Jena beabsichtigen auf einem Medizinerball am 24.11.1956 den Russisch- und Gewi-Unterricht lächerlich zu machen.
VIII. Lage in Westberlin
Am 18.11.1956 sollte um 11.00 Uhr in der Mensa der Technischen Universität eine »Totengedenkfeier« ausnahmslos für Studenten stattfinden. Dort sollten Dr. Vockel,13 Vertreter des VDS und ehemalige Inhaftierte sprechen.