Lage in der DDR (44) 24.–26.11.
26. November 1956
Information Nr. 358/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (vom 24.11.1956, um 8.00 Uhr, bis 26.11.1956, um 8.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Industrie und Verkehr
Gera
Im VEB Wollen- und Seidenweberei Elsterberg, [Kreis] Greiz, herrscht unter den Beschäftigten eine starke Verärgerung über die Prämienzahlung an Angehörige der Intelligenz und Angestellte. Ein Arbeiter aus dem Werk II brachte zum Ausdruck, dass die Kollegen der Weberei den Dreck hinwerfen und streiken müssten.
Erfurt
Im Kaliwerk Volkenroda,1 [Kreis] Mühlhausen, sind die Kumpel mit der Lohngruppe III und IV nicht einverstanden. Sie forderten bei der Abteilung Arbeit eine höhere Lohngruppe.2 Weiterhin wird von den Kumpeln die Herabsetzung der FDGB-Beiträge gefordert. Verschiedene Beschäftigte sind schon mit Beiträgen im Rückstand und wollen auch nicht weiterzahlen. Ähnliche Anzeichen der Nichtzahlung von FDGB-Beiträgen wurden noch aus dem VEB Rheinmetall Sömmerda bekannt. Dort bezahlen in der Abteilung Druckguss von 70 Kollegen nur noch 30 ihre Beiträge und in der Gießerei steht die FDGB-Beitragszahlung bei 52 %.
Neubrandenburg
Am 20.11.1956 brach bei der Privatfirma Metelmann in Neubrandenburg ein Brand aus. Die Brandursache ist vermutlich Kurzschluss. Schaden ca. 18 000 DM.
II. Schulen und Universitäten
Gera
An der Universität Jena – Fachschaft Chemie – beabsichtigen verschiedene Studenten Großveranstaltungen durchzuführen. Dabei soll über ein Flugblatt der örtlichen Parteileitung diskutiert werden, in dem Bürger der verschiedenen Berufe die Machenschaften der Studenten verurteilen und fordern, dass solche Menschen, die auf Kosten der Arbeiter studieren, an unseren Universitäten nichts zu suchen haben. Geplant ist, eine Versammlung sämtlicher Studienjahre der Chemiker am 26.11.1956, um 19.00 Uhr, im Hörsaal des Physikalischen Institutes durchzuführen. Von der Universitätsparteileitung und der FDJ wurde dazu keinerlei Erlaubnis gegeben.
III. Westberliner Studenten
Aus dem Westberliner Studentenheim in Friedenau werden folgende Diskussionen bekannt: Titos3 Erklärung, dass die sowjetischen Truppen aus Ungarn abziehen sollen, findet den Beifall der Studenten.4 Daraus schlussfolgern sie, dass Tito mit Ungarn einen Donaublock bilden will, um seinen Einfluss zu vergrößern. Tito hat mit einer Stellungnahme zu den Ereignissen in Ungarn solange gewartet, bis Kádár5 – der ein persönlicher Freund Titos ist – Ministerpräsident wurde. Es wird mit Zwiespalt im sozialistischen Lager gerechnet – besonders in der DDR – da Tito die Aufgabe hätte, den sozialistischen Block zu sprengen. Die Studenten brachten ebenfalls zum Ausdruck, dass in der jetzigen Lage mit Studenten der DDR nicht verhandelt werden könnte; das bedürfe erst einer neuen Lage. Dann aber muss mit ihnen verhandelt werden. Vorläufig jedoch müsse man sich ruhig verhalten.
IV. Lage beim Gegner
Aus Kreisen des DGB wird bekannt, dass der IBFG6 zu einem Boykott gegen die volksdemokratischen Länder aufrufen will. So wurde z. B. am 2.8.1956 in einem Seminar in Mühlheim bekannt, dass dem Berliner Komitee des IBFG neue Aufgaben zugefallen seien, die noch über den Rahmen der DDR hinausgehen und sich nicht nur mit Propaganda, sondern auch mit anderen Aufgaben beschäftigt. [sic!] Es werden ebenfalls Hetzschriften des IBFG an Betriebe der DDR versandt, deren Herausgeber der IBFG Brüssel ist.
Es wird bekannt, dass [das] »Ostbüro der FDP« bald wieder Ballons mit Hetzschriften ablassen will.7 Begründet wird es damit, dass zzt. in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg der Rücktritt des Parteivorsitzenden Dehler8 gefordert wird, da er im Bundestag mit seinen Äußerungen »Ungarn zerfleischt sich im Bruderzwist«,9 die auf Koalition mit der CDU abzielte, [sic!] die Krise in der Partei noch verschärft hat.10 So wird z. B. vom »Ostbüro der FDP« die Äußerung des Prinz von Löwenstein,11 der zu einer Konterrevolution in der DDR aufgerufen hat, unterstützt.12
V. Feindtätigkeit
Berlin
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Im Postamt N 4 wurde an einer Zimmertür ein Hetzzettel mit folgender Anschrift angebracht: »Wir haben genug von der SED, wir sagen zu Ulbrichts Lügen ›Nee‹, wir haben genug! Gebt freie Wahlen, der SSD13 soll am Galgen bezahlen!«
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Im Bezirk Treptow wurde an der Glienicker-/Ecke Wassermannstraße auf dem Fahrdamm die Hetzlosung »Nieder mit der UdSSR« festgestellt.
Dresden
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Auf der Wehlener Straße in Dresden wurde die Hetzlosung »Freiheit für Ungarn« angeschmiert.
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Im Klosett des VEB Edelstahlwerkes Freital die Hetzlosung »Tod der SED«.
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An den Fenstern des Feuerlöschgerätehauses des VEB Lederfabrik Freital wurden zwei Hakenkreuze angeschmiert.
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Am 20.11.1956 wurde am Sowjetischen Ehrenmal in Dresden am Platz der Einheit eine Frau im angetrunkenen Zustand gestellt, die Kränze durcheinander warf. Sie gab an, dass sie von zwei Arbeitskollegen zu dieser Tat aufgehetzt wurde.
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Im VEB Waggonbau Bautzen wird das Gerücht verbreitet, dass Kollegen, welche sich zum Wiederaufbau freiwillig nach Ungarn gemeldet haben, unterwegs durch Angehörige der Roten Armee verhaftet würden. Auch sollen Sanitätswagen aus der DDR nicht nach Ungarn hineingelassen werden.
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Ein Förster aus Cunnersdorf,14 [Kreis] Löbau, (CDU) erklärte bei einer Kollektivjagd, dass seine Frau, die sich in der UHA Görlitz befand und bei einem Arbeitskommando in Berzdorf war, von der Aufseherin erschossen worden sei, weil sie sich negativ gegen unseren Staat geäußert hat.
Rostock
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In der Nacht vom 24.11.1956 wurde auf der Helling15 III der Neptun-Werft Rostock an einem Frachter die Losung »Freiheit« angeschmiert. Am 23.11.1956 wurde am Mauerpfeiler des Einganges zum Objekt der Roten Armee in Rostock ein Hakenkreuz angeschmiert.
Potsdam
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In der Nacht zum 24.11.1956 wurde in Falkensee, [Kreis] Nauen, zwischen zwei Bäumen in ca. zwei Meter Höhe ein gespanntes Fahnentuch festgestellt. Dieses Fahnentuch ist 1,70 m lang und 1,30 m breit. Das Fahnentuch hat die Farbe grün, weiß und braun. Auf dem weißen Teil ist das Wort »Freiheit« mit Tinte geschrieben; die Schrift ist 1,20 m lang und 35 cm hoch, ca. 1 m vor dem Fahnentuch war eine brennende Teerfackel auf einem Weidenstock aufgestellt, die das Fahnentuch beleuchtete. Des Weiteren wurde an der gleichen Stelle eine Hetzschrift mit der Überschrift »Hilferuf an die freie Welt« gefunden.
Neubrandenburg
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Am 21.11.1956 wurden in Stavenhagen, [Kreis] Malchin,16 ca. 50 selbstgedruckte Hetzschriften in mehreren Straßen gefunden. Der Text der Hetzschriften lautet: »Wir sind ein Volk, sprechen eine Sprache und deshalb gehören wir zusammen. Darum fordern wir eine gesamtdeutsche Regierung … Abzug aller Besatzungstruppen.« Am 24.11.1956 zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr wurde in Neubrandenburg in der Beseritzer Straße17 6 an der Innenseite der Haustür eine Hetzschrift mit folgendem Wortlaut angebracht: »Morgen beginnt die Nacht der langen Messer.«18
Anlage zur Information Nr. 358/56
Betrifft: Stimmung der Westberliner Bevölkerung, Berlin, den 26.11.1956
In letzter Zeit machte sich in breiten Kreisen der Westberliner Bevölkerung eine Angstpsychose bemerkbar. Der Überfall Englands und Frankreichs auf Ägypten wird von großen Teilen der Bevölkerung verurteilt und man befürchtet den Ausbruch eines neuen Weltkrieges.19 Die Angst vor einem neuen Weltkrieg kommt in verbreiteten Hamstereinkäufen zum Ausdruck. In einer Reihe von Geschäften kam es zu Warenverknappungen bei Hülsenfrüchten und Konserven. Besonders bürgerliche Kreise befürchten eine Auseinandersetzung auch in Berlin und tragen sich mit Abreisegedanken. Der Geschäftsführer des »Orion« (Schleifscheibenwerk), ein Herr Zippwitz im Bezirk Wedding, erzählte, dass er gehört hätte, viele Firmen fangen an, ihre Erzeugnisse nur sehr zögernd abzugeben. Sie nehmen viel auf Lager, auch Rohstoffe. Man befürchtet, dass vonseiten der SU oder DDR die Autobahn gesperrt wird. Obengenannter äußerte: »Man verspricht sich im Falle einer Blockade einen höheren Gewinn.« Weiter wurde festgestellt, dass viele Leute ihre Postsparguthaben abgehoben haben. Mehr als bisher üblich fahren Fernlastzüge nach Westdeutschland, um Ware zu holen. Vielfach wird darüber diskutiert, dass die Mehrzahl der Senatoren und sonstigen Größen sich fortgesetzt in Westdeutschland aufhalten. Viele Flüchtlinge ersuchen um schnelleren Abflug aus Westberlin.
In den Diskussionen zur Lage in Ungarn macht sich die Hetze der Westpresse und des Westfunks wie »RIAS« und »Freies Berlin« bemerkbar. Dagegen werden aber auch positive Stimmen von den Werktätigen und teilweise aus bürgerlichen Kreisen und von Angehörigen der Stummpolizei20 bekannt. Der Aufruf Suhrs21 und Brandts22 zur abendlichen Fenster-Illumination fand starke Beachtung. So war in den Arbeitervierteln mehr illuminiert wie in typisch bürgerlichen Straßen. Das Eingreifen der SU in Ungarn wird von breiten Kreisen verurteilt und als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes betrachtet. Vielfach zieht man Vergleiche und setzt den Überfall Englands und Frankreichs auf Ägypten dem Eingreifen der SU in Ungarn gleich.
Zur DDR wird die Meinung vertreten, dass sie die Lage zwar nicht genügend kennen, aber es bestünden hier zweifellos nicht die Möglichkeiten einen Aufstand wie in Ungarn zu organisieren. Die deutsche Bevölkerung sei besonnener und kaltblütiger als die Polen und die Ungarn, und [in der DDR] sei die wirtschaftliche Bedrängnis nicht im Entferntesten so groß wie in den vorgenannten Ländern.
Es gibt jedoch einen Teil Stimmen mit dem Verlangen, das gesamte Weltfriedenslager zu schwächen und die Errungenschaften der Arbeiter und Bauern zu schmälern:
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dass die Ereignisse von Ungarn sich auch in der DDR abspielen würden. Man müsse die Unzufriedenheit der Ostbewohner nur geschickt ausnützen. Es müsste besser organisiert sein als 1953. (»Unsere führenden Genossen – SPD – reisen nicht zum Vergnügen in die Volksdemokratien und Kolonien, sondern sie schaffen Kontakte für Freiheit und Demokratie.«)
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dass es erst in Rumänien und der ČSR und dann in Russland selbst beginne. Der Russe könnte dann den anderen Ländern nicht helfen. (Dabei spekuliert man, dass die Polizei und die Streitkräfte der DDR ganz oder doch zu einem erheblichen Teil sich der Bewegung anschließen würden.) Z. B. erklärte ein Resident des amerikanischen Geheimdienstes: »Wir haben ja auch Leute im Westen, die 1945 und danach emigriert sind. Die werden dann in KVP-Uniform eingeschleust. Aber erst werden Rumänien und Bulgarien den Weg gehen wie Ungarn und Polen. Hier ist es für uns leichter, da die Zone ja an den Westen grenzt und nur ca. 150 000 Russen dort stationiert sind. In der KVP sind bereits Leute vorhanden, die darauf hinarbeiten.«
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Ein Konstrukteur im Dynamowerk bei Siemens äußert: »Er und seine Mitarbeiter verwerfen den Krieg der Engländer und Franzosen in Ägypten. Sie wundern sich, dass in Frankreich, wo es doch so viele Kommunisten gibt, sich die Menschen nicht gegen die Regierung auflehnen.«
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Ein Caféhausbesitzer (amerikanischer Resident) äußerte sich über die Lage in Ungarn: »In Ungarn ist es etwas mulmig geworden. Auch in der DDR wird es bald mal losgehen. Diesmal anders als 1953. Jetzt sind die Studenten und die Intelligenz am Werk. Die Frage der Waffen spielt keine Rolle, da die Nationalarmee und die Vopo genügend Waffen besitzen. In der Nationalarmee und in der Vopo sind genügend Studenten und Intellektuelle, die auf den Augenblick warten, loszuschlagen. Eine Hilfe von Westberlin darf nicht erwartet werden und wird auch nicht kommen. Es sind Anzeichen vorhanden, dass es im Gebiet der DDR gärt.«
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Ein Arzt vertrat die Auffassung, dass die UN keinerlei Befugnis habe, sich in die Ungarnfrage einzumischen.23 Die SU könne sich auf den Willen der ungarischen Regierung berufen. Die USA würden im Übrigen auch nicht tatenlos zusehen, wenn die Kommunisten in Italien oder Frankreich versuchten, die Regierung gewaltsam zu Fall zu bringen.
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Ein Direktor der Schering AG hat sich dieser Meinung nicht angeschlossen. Er sagte: »Der Ruf der freien Welt sei hin, wenn sie in Ungarn nicht doch noch eingreifen.« Weiter äußerte er, jetzt habe sich deutlich bewiesen, dass der Ausspruch, »Geht mir weg mit dem Westen, die haben Angst vor den Russen«, richtig sei.
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Leitende Mitarbeiter des Hamburger Lloyd24 und einer anderen Großfirma waren der Auffassung, dass das Vorgehen der englischen und französischen Regierung stark zu verurteilen sei, da allen Seiten erhebliche Schwierigkeiten durch die Lahmlegung des Sues-Kanals entstehen. Bezüglich Ungarn äußerten sie, »dass sie sich kein abschließendes Urteil erlauben könnten, da sich die Nachrichten widersprächen. Jedoch müsse die Bevölkerung Grund zu Protestaktionen gehabt haben, die nach ihrer Meinung missbraucht wurden.«
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Ein bürgerlicher Journalist äußert im Zusammenhang mit Ungarn: »Ungarn hat versäumt, rechtzeitig eine andere Politik einzuschlagen. Auch für die DDR ist das Problem sehr schwierig. Lässt man alles beim Alten, dann wird die Unruhe nicht beseitigt, würde man jetzt aber bestimmte Leute kaltstellen, so wäre das vielleicht der Anlass einer Volkserhebung. Kommt es zu Unruhen in der DDR, dann beginnt ein großes Blutvergießen, wo auch Westberlin einbezogen würde.«
Die Stimmung unter einem Teil der Senatsangestellten und der Stupo ist gedrückt. Die Provokation am 5. November 1956 am Brandenburger Tor wurde größtenteils verurteilt.25 Die Senatsangestellten haben der Westpolizei hoch angerechnet, dass sie eingegriffen hat und die Demonstration zerstreute. Angehörige der Stummpolizei brachten zu den Provokationen am Brandenburger Tor zum Ausdruck: »Es war eine aufgehetzte Masse von Jugendlichen, die sich tüchtig austoben wollten, denn von den wahren politischen Ereignissen haben die keine Ahnung und wie sollten sie auch, wenn man ihnen tagtäglich von dem ›heroischen Kampf‹ der Ungarn erzählt und die Zeitungen vollschmiert voll Rührseligkeiten. Ein Glück nur, dass sich die Vopo auch als wirkliche Volkspolizei verhielt, denn es wäre den Randalierenden schlimm ergangen und die Westpresse hätte alles wieder entstellt und die Jugendlichen zu Märtyrern gemacht.«
Von einigen Stummpolizisten wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie befürchten, dass der Amerikaner sich aus Europa zurückziehen und der »Russe« auch in Westberlin einmarschieren könnte. Hier traten Äußerungen auf, man müsse Mitglied der SED werden, dann wäre man wenigstens gesichert. Auf dem Revier 129 sagten Stummpolizisten: »Es ist doch Unsinn, so ein Blutvergießen zu veranstalten. Damit erreichen sie ja doch nichts. Wenn die Kommunisten ihre Fehler eingesehen hätten, solle doch das Volk erst mal abwarten, ob die Regierung ihre Politik ändere. Wir möchten mal sehen, wenn alle Kommunisten in Westdeutschland einen Aufstand machen, weil sie mit Adenauer26 nicht zufrieden sind. Dann würden die Amis bestimmt auch Panzer einsetzen.«
Der Vorsitzende der CDU im Bezirk Kreuzberg sagte: »Sowohl in der Sues- als auch in der Ungarnfrage hat sich unsere CDU ziemlich korrekt verhalten. Es ist auch richtig gehandelt von Dr. Adenauer, denn die Bestrebungen eines Zusammenschlusses, die weiter vorgeschritten sind, als man denkt, dürfen nicht gestört werden. Schon aus diesem Grunde lassen wir die anderen Parteien reden. Bis Jahresfrist kommt es zum Zusammenschluss, egal ob mit oder ohne Gesamtwahlen. Wer als Kaufmann Berlin verlässt, ist unklug, da der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zusammenschluss groß sein wird.«
Am 14.11.1956 fand eine Mitgliederversammlung der SPD in Lichterfelde statt. Nach Ausführungen des Theo Thiele,27 Landessekretär der SPD, regiere in der ›Ostzone‹ nicht W. Ulbricht, sondern die Rote Armee. In der Diskussion verlangten einige die Ausrufung des Generalstreiks in der Zone. Ihnen wurde erklärt: »Es darf nichts unüberlegt gemacht werden. Wir (er verbesserte) die Arbeiter in der Zone haben aus den Ereignissen gelernt. Die Suesaffäre hätte nicht dazwischen kommen dürfen.« Ein Diskussionsredner sagte: »Das Vergehen Englands und Frankreichs am Sues hätte der Demokratie großen Schaden zugefügt.« Ein Diskussionsredner sprach sich für die Politik der Stärke aus. Ihm wurde erwidert, dass er dann in der falschen Partei sei, er müsste zu Adenauer gehen. Theo Thiele wies im Schlusswort auf den Plan der Transportarbeiter, durch Boykott die russische Schifffahrt zu treffen, hin.
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Ein Bauhandwerker äußerte: »Natürlich, der lahme Franzose mit dem Engländer überfallen so ein kleines Volk. Ich bin zufrieden, dass wir den ›Ostsektor‹ noch haben. Sonst würden die Unternehmer anders mit uns umspringen.«
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Ein Kaufmann sagte: »Es ist nur ein Glück, dass in Ostberlin kein Aufstand zustande kam, in Ostberlin wäre es schlimmer wie in Ungarn gekommen, da dort Hunderte von Kampfgruppen28 existieren, die sofort alles im Keime ersticken würden.«
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Ein Dreher aus Westberlin: »Es ist doch alles Wahnsinn, was die da in Ungarn machen –Arbeiter schießen auf Arbeiter –, Erfolg haben sie sowieso keinen. Der Arbeiter muss immer wieder sein Kreuz hinhalten.«
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Ein Mechaniker aus Westberlin: »Wenn der ›Iwan‹ sich nicht beeilt, dann kann er nicht mehr nach Hause. Wenn das so weitergeht wie in Ungarn und Polen,29 dann wird der Nachschub bald unterbrochen.«
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Ein Arbeiter sagte: »Ist doch alles sinnlos, was in Warschau und Budapest gemacht wird. Entweder es geht zu gleicher Zeit überall los oder man lässt die Finger davon. So ein Aufstand muss besser organisiert sein, wenn er Erfolg haben soll. So werden nur sinnlos Menschen geopfert und man kann wieder Propaganda treiben.«