Lage in der DDR (47) 28.–29.11.
29. November 1956
Information Nr. 366/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (28.11., 8.00 Uhr, bis 29.11., 8.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Industrie und Verkehr
Dresden
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Im Martinwerk II des Stahlwerkes Riesa werden Diskussionen über das Arbeiten am 2. Weihnachtsfeiertag geführt. Vorgesehen war, die Arbeit am 2. Feiertag abends zu beginnen. Durch den Parteisekretär wurde bekannt gegeben, dass schon früher mit der Arbeit begonnen werden soll. Dazu sagten viele junge Arbeiter: »Wir kommen einfach nicht, denn jeden Sonn- und Feiertag arbeiten wir, da wollen wir wenigstens etwas vom Weihnachtsfest haben.«
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Im VEB Steinkohlenwerk Freital herrscht unter den Kumpels darüber Verärgerung, dass die zum Verkauf angelieferten bitteren Mandeln von den Angestellten, Wirtschaftsfunktionären, Mitgliedern der Parteileitung und BGL aufgekauft wurden.
Cottbus
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Im Synthesewerk Schwarzheide1 besteht ein Engpass in der Belieferung mit Erdöl. Der Betrieb kann noch drei Tage voll produzieren, dann muss die Spaltanlage außer Betrieb genommen werden. Bisherige Erdöllieferung aus der SU bekam das Leuna-Werk.
Leipzig
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Am 27.11.1956 brach im RAW Delitzsch ein Brand in der Wagenwaschhalle aus. Zwei Drittel der Halle wurden vernichtet sowie zwei Personenwagen teilweise beschädigt. Schaden: 50 000 DM, Ursache: Es wird Kurzschluss vermutet.
II. Landwirtschaft
Dresden
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Der Kreis Riesa erhält durch eine Aktion vom Kreis Neubrandenburg[-Land] 2 670 t und von der GST 2 629 t Pflanzkartoffeln. Davon sind schon 535,5 t erfroren bzw. angefroren.
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Vor dem Bahnhof Königswartha, [Kreis] Bautzen, liegt ein Feld der LPG, wo jetzt noch Haferpuppen stehen.2 Von der Landbevölkerung wird dazu Folgendes gesagt: »Die können sich so etwas leisten. Von uns dürfte sich keiner so etwas leisten, da wären wir dran.«
Rostock
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Am 25.11.1956 brach in der LPG »August Bebel« in Boitin-Resdorf,3 [Kreis] Grevesmühlen, ein Brand aus (kombiniertes Wohn- und Stallgebäude bis auf die Ringmauer, eine Scheune, in welcher 900 Ztr. ungedroschener Weizen und Roggen lagerte, sowie eine Schrotmühle). Schaden: 65 000 DM, Brandursache noch nicht geklärt.
Leipzig
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Am 27.11.1956 brannte die Scheune der LPG »Karl Liebknecht« in Beuden, [Ortsteil von] Kletzen,4 [Kreis] Delitzsch, nieder. Vernichtet wurden ca. 800 bis 900 Ztr. Stroh und ca. 150 Ztr. Kunstdünger. Schaden: 25 000 bis 30 000 DM. Täter waren zwei Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren.
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Im Kreis Borna brachen am 28.11.1956 zwei Scheunenbrände aus. In beiden Fällen wurden die Brände durch die Kinder der Eigentümer angelegt. Näheres darüber ist noch nicht bekannt.
Neubrandenburg
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Am 25.11.1956 brach bei einem werktätigen Bauern in Schwandt,5 [Kreis] Altentreptow, ein Brand aus, der sämtliche Futtervorräte vernichtete. Schaden: 13 000 DM, Ursache: vermutlich Brandstiftung.
III. Feindtätigkeit
Karl-Marx-Stadt
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Ein selbstgefertigtes Hetzblatt am Schwarzen Brett im VEB Motorradwerk Zschopau: »Hier spricht die Stimme der freien Welt. Liebe Mitarbeiter der Galvanik: Warum macht ihr den Zauber hier noch mit, ihr müsst noch mehr als bisher Ausschuss machen, damit sie hier baldigst auf dem letzten Loch pfeifen. Im Westen wartet man bloß darauf, dass die Bonzenwirtschaft aufhört« … Des Weiteren werden die Verhältnisse im Westen verherrlicht und sind für die Konterrevolution in Ungarn. [sic!]6
Potsdam
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An einer Baracke im Barackenlager der Reichsbahn-Bauunion in Brandenburg: »Nieder mit der SED« (mit Teer).
Leipzig
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Vor dem Eingang zum Kultursaal der »Leipziger Volkszeitung«7 mehrere Hakenkreuze. An die Tür der Bezirksbehörde der DVP Leipzig ein Hakenkreuz.
Gera
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Im Stadtgebiet von Schkölen, [Kreis] Eisenberg, an acht verschiedenen Stellen Hakenkreuze, vermutlich mit Schuhcreme (Größe 30 × 30 cm).
Suhl
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An einem Geräteschuppen der VP, Abteilung Feuerwehr, welche ca. 2,5 km hinter der Ortschaft Exdorf, [Kreis] Meiningen, stand: »Moskau – Totengräber Ungarns«.
Dresden
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Im VEB Druckguss Heidenau, [Kreis] Pirna, in der Männertoilette: Hetze gegen die Regierung der DDR und Funktionäre der Regierung (rote Ölkreide).
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Im Edelstahlwerk Freital in der Toilettenanlage des Walzwerkes: »Tod der SED« und ein Hakenkreuz mit Totenkopf.
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Der Rat der Stadt Riesa erhielt eine anonyme Postkarte mit der Forderung, »dass die sowjetischen Truppen aus Ungarn abziehen sollen und die Einstellung der Deportationen von ungarischen Bürgern nach Sibirien.«
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Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Zittau erhielt einen anonymen Brief mit ähnlichem Inhalt wie oben angeführt. Einen gleichen Brief erhielt die Konsum-Verwaltung Nossen, [Kreis] Meißen.
IV. Gerüchte
Suhl
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Der Fabrikbesitzer H. aus Neuhaus verbreitet in der Mitropa in Neuhaus Folgendes: »Die Russen haben vor der amerikanischen Küste ein U-Boot mit einer Atombombe versenkt, die im Kriegsfalle explodieren soll.«
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In Langewiesen, [Kreis] Ilmenau, kursiert seit einigen Tagen das Gerücht, »dass drei Bürger aus Langewiesen in den letzten Tagen verhaftet und nach ›Russland‹ verschleppt worden seien«.
Gera
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Unter den Großbauern von Neusitz, [Kreis] Rudolstadt, kursiert Folgendes: »Es wäre ein Gesetz in Vorbereitung, wonach diejenigen Bauern, die nicht genügend Arbeitskräfte hätten, ihr Land brachliegen lassen könnten.«
Leipzig
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Im Kraftwerk des VEB Espenhain, [Kreis] Borna, wird gegenwärtig stark das Gerücht verbreitet, »dass noch vor Weihnachten die Bergmannsprämie nachgezahlt wird«.8
Rostock
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Ein ehemaliger Angehöriger der Nationalen Volksarmee (Name bekannt), zzt. Landarbeiter in Hohenschönberg, [Kreis] Grevesmühlen, sagte: »Ich bin aus der Volksarmee entlassen worden, weil ich nicht nach Ägypten zum Einsatz wollte.«9 Die Mutter des oben Angeführten erzählt in der Gemeinde Folgendes: »Alle Offiziere mussten eines morgens antreten und erhielten den Bescheid, dass sie in Ägypten eingesetzt werden sollen. Alle Offiziere weigerten sich dagegen und wurden daraufhin entlassen.«
V. Besondere Vorkommnisse
Leipzig: In der Nacht vom 26. zum 27.11.1956 stürzte in Markranstädt, [Kreis] Leipzig[-Land], der Neubau eines 4-Familienhauses durch Witterungseinfluss ein. Baufirma ist der VEB (K) Leipzig-Land. Der vorläufige Schaden beträgt ca. 50 000 DM.
Berlin: Es wurde bekannt, dass die Zentrale der »Deutschen Liga für Menschenrechte«10 80 000 DM West für die Durchführung der am 14.11.1956 begonnenen Paketaktion durch die »Hilfsgemeinschaft für Notleidende in der sowjetisch besetzten Zone«11 zur Verfügung gestellt hat. Der Wert eines Paketes soll ca. 40,00 Westmark betragen und jedes Paket beinhaltet ungefähr:
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2 Pakete Palmin,
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2 Tafeln Schokolade,
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½ Pfund Kakao,
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½ Pfund Kaffee,
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2 Pfund Sultaninen und
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2 Pfund Kokosraspeln.