Lage in der DDR (49) 30.11.–1.12.
1. Dezember 1956
Information Nr. 369/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (vom 30.11.1956, 8.00 Uhr, bis 1.12.1956, 8.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Industrie und Verkehr
Dresden
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Am 30.11.1956, gegen 3.50 Uhr, fuhr zwischen Bahnhof Berggießhübel und Bad Gottleuba ([Bezirk] Dresden) der aus Richtung Pirna kommende Nah-Güterzug mit dem aus Richtung Bad Gottleuba kommenden Personenzug zusammen. Schaden: ca. 20 000 bis 25 000 DM (hauptsächlich Lok-Schaden.), Personenschaden: sechs leichtverletzte Eisenbahner und eine schwerverletzte Zugschaffnerin.
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Im Braunkohlenwerk Berzdorf, [Kreis] Görlitz, [Bezirk] Dresden, gibt es negative Diskussionen über die Einführung des provisorischen Wirtschaftskataloges.1 Drei Kollegen haben den Wirtschaftskatalog nicht unterschrieben und haben vermutlich noch andere Kollegen aufgefordert, diesen ebenfalls nicht zu unterschreiben. Ein Kollege von diesen drei äußerte: »Man sollte anstatt der roten Fahne lieber die schwarze Fahne hissen. In wenigen Tagen ist es sowieso so weit, der Wirtschaftskatalog kommt nicht zur Einführung, bis dahin fließt noch viel Wasser die Elbe hinunter.«
Suhl
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Im VEB Kali-Werk »Ernst Thälmann«, Merkers, [Kreis] Bad Salzungen, ist zu verzeichnen, dass den Arbeitern von der Werkbahn, die erst fünf Minuten vor Arbeitsbeginn am Bahnhof ankommen und dadurch erst ihre Kontrollkarten um 6.00 Uhr stechen können, an diesen Tagen eine halbe Stunde abgezogen bekommen. Sehr aggressive Diskussionen werden auch unter den Arbeitern des Kraftwerkes des o. g. Kali-Werkes geführt, weil sie nicht damit einverstanden sind, dass sie sich vor Schichtbeginn schon umgezogen und in Arbeitskleidung die Kontrolle stechen sollen. Sie stellen die Forderung, dass dann auch die Ingenieure eine Stechkarte bekommen müssen.
Frankfurt/O.
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Am 30.11.1956, gegen 4.55 Uhr, fuhr auf Bahnhof Goosen,2 Strecke Bad Freienwalde – Frankfurt/O. ein Personenzug auf den im Bahnhof stehenden Nahgüterzug. Schaden: ca. 40 000 bis 60 000 DM. Personenschaden entstand nicht.
Wismut
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Im Schacht 38 in Aue bringt eine Brigade berechtigte Lohnforderungen vor. Da die Brigade aufgrund ihrer Arbeit nicht im Leistungslohn arbeiten kann, wird von ihnen die Forderung auf Prämien-Zeitlohn gestellt. Diese Forderung besteht bereits seit April oder Mai 1956 und wurde bisher nicht beachtet, geschweige denn realisiert. In der Brigade selbst wird jetzt zum Ausdruck gebracht, dass sie dann eben langsamer arbeiten werden bzw. keine Reparaturen durchführen werden.
Erfurt
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Am 30.11.1956 wurde im EFR Ruhla an ein BGL-Mitglied die Forderung gestellt die Arbeit niederzulegen, falls sie nach den bisher geltenden Bestimmungen die Prämien des III. Quartals auszahlen. Diese Forderung wurde im Auftrag der mechanischen Abteilung gestellt.
Frankfurt/O.
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Am 27.11.1956 ereignete sich in der Grube Finkenheerd, [Kreis] Fürstenberg, im Schacht XIII ein Grubenunglück, das zwei Todesfälle zur Folge hatte. Die Ursache ist auf eigenes Verschulden der Verunglückten durch fahrlässiges Eindringen in eine abgesperrte Zone zurückzuführen.
II. Handel
Frankfurt/O.
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Bei der HO-Modenschau im Volkshaus Eberswalde geschah im Verlaufe derselben die Vorführung eines roten Kleides. Der Ansager erklärte dazu: »Das Kleid eignet sich besonders für weibliche Funktionäre. Wenn es abgetragen ist, kann man den Stoff noch als Fahne verwenden.«
III. Studenten
Durch einen Studenten der »Freien Universität« wurde bekannt, dass das Studium eines ägyptischen Staatsbürgers abgelehnt worden ist. (Er warf sich danach vor die S-Bahn.) Einem Engländer wurde das Studium zum gleichen Zeitpunkt genehmigt.3 Von den Studenten der »Freien Universität« wird diese Handlungsweise verurteilt.
IV. Besondere Vorkommnisse
Durch einen Brief aus Amerika wurde von einem ehemaligen amerikanischen Soldaten, der seine Militärzeit im vorigen Jahre abgeleistet hatte, bekannt, dass in Amerika alle die Personen, die ihre Militärzeit in Deutschland abgeleistet haben, ab sofort wieder eingezogen werden und nach Deutschland zurückkommen.
In der Nacht zum 28.11.1956 wurde in den Räumen des VEB Bau-Union Gera – Außenstelle Gipswerk Krölpa – ein Einbruch verübt, dabei wurden von unbekannten Tätern Bauzeichnungen und Kostenanschläge zerrissen sowie die Telefonleitung zerschnitten und Hetzlosungen gegen die DDR in ein Telefonbuch geschrieben.
Am 27.11.1956 legten in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg die Strafgefangenen der A-Schicht ca. eine Stunde die Arbeit nieder. Ursache: Den Strafgefangenen war bekannt, dass sie ihr Wettbewerbsziel mit 100,12 % erfüllt hatten. Durch eine Überprüfung des Betriebes (Burger Bekleidungswerk) wurde jedoch nur eine Erfüllung von 99,2 % errechnet. Demnach fallen die Prämien für die Strafgefangenen weg. Als der Strafgefangenen-Produktionsleiter die Strafgefangenen aufforderte, ihre Arbeit aufzunehmen, wurde er mit folgenden Worten beschimpft, »Kommunistenschwein, Arbeiterverräter«. Ein anderer Strafgefangener erklärte, er würde ihm, wenn er aus der Haft entlassen ist, den Schädel einschlagen. Auf Anweisung der Strafvollzugsanstalt wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Die Anführer der Strafgefangenen, die zur Arbeitsniederlegung aufgefordert hatten, wurden isoliert.
Die Methodisten-Kirche4 führt zzt. für ihre Mitglieder eine Spendenaktion durch. Im Stadtbezirk Friedrichshain erhielten die Mitglieder der Methodisten-Kirche pro Person ein halbes Pfund Butter, ein halbes Pfund Käse, ein Pfund Reis und Bekleidungsstücke, die jedoch bezahlt werden müssen (billiger als im Handel). Sachspenden wurden voriges Jahr ebenfalls ausgegeben. Die Bezahlung ist jedoch dieses Jahr erstmalig, sie dient der Anschaffung einer Orgel. Die Lebensmittel und Sachspenden kommen aus kapitalistischen Ländern. Aufgrund der Spendenaktion ist ein stärkerer Besuch der Gottesdienste und Bibelstunden zu verzeichnen.
Es wird bekannt, dass die Bundesregierung bei der Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen Wert auf jüngere Flüchtlinge legt. Der Volksbund für Frieden und Freiheit5 wurde vom Kaiser-Ministerium6 beauftragt, für diese Jugendlichen geschlossene Schulungen in Kolping-Häusern7 durchzuführen, um sie später beim Sender »Freies Europa«8 und in »christlichen Jugendorganisationen« einzusetzen (ein Teil soll auch in Berlin eingesetzt werden). Den Jugendlichen soll in diesen Schulungen die Kehrseite des Marxismus-Leninismus durch besonders geschulte Referenten dargelegt werden (Dr. Klein aus Bonn).
V. Feindtätigkeit
Potsdam
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Am 28.11.1956, gegen 21.30 Uhr, wurde der Leiter der Betriebsschule des VEB Karl-Marx-Werk in Potsdam-Babelsberg, als er sich auf dem Heimweg aus einer Gaststätte befand, von ca. acht bis zehn Personen niedergeschlagen. Der Leiter der Betriebsschule ist Mitglied der SED, Mitglied der Parteileitung im Werk sowie Kampfgruppen-Kommandant.
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Am 30.11.1956, gegen 17.00 Uhr, wurde der Hausmeister der SED-Kreisleitung Nauen auf dem Wege von der FDJ-Kreisleitung zur SED-Kreisleitung überfallen. An einer unbeleuchteten Stelle überholte ihn ein Pkw (F 8),9 der vor ihm anhielt und [aus dem] zwei männliche Personen ausstiegen. Diese beiden kamen auf den Genossen zu und fragten ihn, welche Hetzschriften er bei sich trage. Daraufhin rissen sie ihm die Arme nach hinten und holten sein Parteidokument hervor. Als der Genosse um Hilfe rief, sprangen die Täter in den fahrbereiten Pkw und fuhren los. Dem Genossen gelang es, einem sein Parteidokument wieder zu entreißen, wobei einige Blätter in den Händen der Täter blieben.