Lage in der DDR (5) 29.10.
29. Oktober 1956
Information Nr. 289/56 – Betrifft: Lage in der der Deutschen Demokratischen Republik (29.10.1956, 8.00 Uhr bis 17.30 Uhr, eingegangenes Material)
I. Lage in der Industrie
Gera: Im VEB Orthopädie Königsee1 – Forschungsstätte Eisenberg herrscht Unzufriedenheit unter den Beschäftigten. Ursache: In Übereinstimmung mit der HV Feinmechanik-Optik wurde im BKW des VEB Orthopädie Königsee die Verpflichtung übernommen, den Forschungsstätten 4 % zum Direktorfonds zuzuführen, wenn diese ihren Plan erfüllen.2 Durch eine Anweisung – in Form eines Rundschreibens des Ministeriums für Allgemeinen Maschinenbau – wurde der Forschungsstätte Eisenberg, obwohl diese den Plananteil erfüllt hat, die 4 % Zuführung nicht gewährt. Dadurch konnte keine Prämiierung und Auszeichnung erfolgen. Die Beschäftigten lehnen die Durchführung der Gewerkschaftswahlen ab. Schreiben des Bezirksvorstandes des FDGB an das Ministerium zur Klärung dieser Angelegenheit blieben bisher unbeantwortet.
Berlin: Im VEB Glühlampenwerk Berlin erklärte im Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen3 und Ungarn4 der Abteilungsleiter der Abteilung Permanente Inventur Folgendes: »Wenn’s mal bei uns möchte bald knallen, müsste man Waffen haben und dann die Halunken abschießen.« Die Beschäftigten der Abteilung billigen dieses Verhalten nicht, haben jedoch Angst aufgrund der politischen Äußerungen dieses Abteilungsleiters, der versucht, die dortigen Beschäftigten damit aufzuhetzen. Am 29.10.1956 brach in den Werkräumen der Fa. Kuppe (Küchengeräte) in der Kiefholzstraße ein Brand aus. Ursache unbekannt. Schaden 70 000 DM.
Magdeburg: Vom 28. zum 29.10.1956 wurden im Bahnbetriebswerk Oebisfelde an zwei abgestellten Tendern zwei Hetzlosungen folgenden Inhalts angeschmiert: »Iwan geh nach Hause mit Dampf – nimm die Funktionäre mit«, und »Deutsche an einen Tisch, heil Budapest.«
Karl-Marx-Stadt: In der Abteilung Fleyerei5 des VEB Baumwollspinnerei Hohenfichte,6 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde von mehreren Frauen das Gerücht verbreitet, dass die Regierung der Sowjetunion Polen ein Ultimatum gestellt haben soll – entweder trägt die Regierung der Volksrepublik Polen dem polnischen Volk Rechnung und verbessert die Lebenslage oder ganz Polen wird von der SU besetzt.
Stimmung zu den Ereignissen in Polen und Ungarn
Die Diskussionen über die Ereignisse in Polen haben im Gegensatz zu Ungarn nachgelassen. Der Inhalt der Diskussionen hat sich nicht wesentlich verändert. Am meisten werden auch weiterhin RIAS-Argumente verbreitet. Immer mehr Menschen erkennen, dass es sich in Ungarn und Polen um eine Provokation handelte. Vereinzelt wird der Rücktritt Walter Ulbrichts gefordert. Neue Argumente:
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Das Volk in Polen und Ungarn ist mit der Politik nicht einverstanden, deshalb kann man die Aufständischen auch nicht als Agenten bezeichnen.7
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Bei freien Wahlen in der DDR würde sich zeigen, dass viele Menschen in der DDR mit der Regierung nicht einverstanden sind.
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Dass in Polen ganze Landstriche brachliegen, weil die Polen nur so viel Land bearbeiten, wie sie für sich brauchen.
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Würde Thälmann8 noch leben, dann sehe es bei uns anders aus.
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Wenn wir alles solche Funktionäre wie Otto Grotewohl hätten, wären wir schon viel weiter.
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Es wird Zeit, dass die Kommunisten abdanken, sonst kommt es noch zu mehr Aufständen.
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Der Lebensstandard und der Durchschnittsverdienst in der DDR sind schlecht, es wird alles exportiert.
Hamann,9 ehemals LDP, ist der Meinung, dass er vollkommen rehabilitiert sei. Er hofft in der gesamtdeutschen Politik noch einmal eine große Rolle zu spielen und will der LDP wieder beitreten. Seine Frau würde auch bald von Westdeutschland nach Leipzig zurückkommen.
II. Lage und Stimmung an der Akademie der Wissenschaften
In der Akademie der Wissenschaften steht im Mittelpunkt der Diskussionen die schlechte Information der Partei, besonders über die Ereignisse in Polen. Die Arbeit des ND und unserer Presse wird in scharfen Worten verurteilt. In diesen Diskussionen wird zum Ausdruck gebracht, dass die Mitglieder der SED und die Parteilosen mit der Führung der SED nicht einverstanden sind, nicht mehr das richtige Vertrauen haben. So wurde gesagt, dass aufgrund der bei uns aufgetretenen Mängel eine personelle Veränderung in der Führung der SED vorgenommen werden sollte. Nicht nur die führenden Genossen könnten denken, auch die einfachen. Ein Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte10 erklärte auf zynische Art und Weise, dass ja in der DDR auch der Zeitpunkt gekommen sei, wo einige Köpfe rollen. So fordert z. B. ein früheres Mitglied der SPD: »Wo ist Kreikemeyer?«11 Warum wird auf die SPD-Genossen geschimpft?
Im Zusammenhang über die ungenügende Information über die Ereignisse in Polen und Ungarn wurden folgende Diskussionen geführt:
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Die Einsetzung des Genossen Gomulka12 als 1. Sekretär wird mit Skepsis betrachtet, da er eventuell seiner unrechtmäßigen Haft [wegen] »diktatorisch« gegen seine ehemaligen Ankläger vorgehen könnte. Es wäre trotz der kollektiven Leitung möglich, dass Ausschreitungen erfolgten, die zu Ungesetzlichkeiten führen würden.
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Die Lage in den Volksdemokratien sei unterschiedlich. Jedoch stehe die DDR hinter Polen und Ungarn an 3. Stelle.
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Zu den Verhältnissen in Polen kann man mit der DDR Vergleiche ziehen.
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Die Polen wollen die Ukraine. Das Stück von Deutschland bearbeiten sie ja doch nicht. Sie wollen »ihren« Sozialismus aufbauen.
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Gomulka hat vollkommen Recht – bei uns wären solche Maßnahmen auch notwendig, nur versucht es unsere Parteiführung zu verhindern.13
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Rokossowski14 habe im ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei die Anwesenheit sowjetischer Truppen bei Warschau damit erklärt, dass sie gerade von den Manövern zurückgekehrt seien. (Gelächter im ZK).
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In Albanien wurde der XX. Parteitag der KPdSU15 nicht ausgewertet, und in Bulgarien seien auch »keine« Veränderungen.
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Von unserer Presse werden die Ereignisse in Ungarn als »faschistischer Putsch« bezeichnet. Das widerspreche der Erklärung des Genossen Schepilow,16 der sagte, dass die Ursachen der Ereignisse in Ungarn Unzufriedenheit seien.
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Ein Mitglied der SED fordert in einer Parteiversammlung dazu auf, den RIAS zu hören.
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Die bisherigen Scheinmaßnahmen unserer Regierung sollen durch Maßnahmen, die auf das Vertrauen der Massen stoßen, abgelöst werden. Je länger damit gewartet wird, umso mehr sammelt sich an.
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Die bei uns durchgeführte Dezentralisierung und Demokratisierung war nur oberflächlich.
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Der RIAS ist gegenwärtig der kollektive Organisator.
In Aussprachen brachten Mitarbeiter der Akademie zum Ausdruck, dass bei uns kein Zündstoff gegeben werden darf wie in Ungarn. Um dies zu verhindern, haben sie eine Kommission (SED-Mitglieder) gebildet, die dem Politbüro ihre Vorschläge zu dem angeführten Problem übermitteln. Es ist festzustellen, dass die Parteilosen in der Akademie eine abwartende Haltung einnehmen, hingegen die Stimmung durch jüngere Mitglieder der SED hineingetragen wird. Im wirtschaftswissenschaftlichen Institut orientiert man sich nach der Westpresse (»Tagesspiegel«). Ein Tonband mit der Rede Gomulkas ist auch vorhanden.17 Die Mitglieder der SED brachten zum Ausdruck, dass sie vom ZK der SED nicht die richtige Hilfe bekommen. Ihre Arbeit würde teilweise gehemmt und ausgezeichnete Wissenschaftler zum Praktizieren [sic!] verurteilt.
Bemerkungen
Der Mitarbeiter Kaiser des Bundesverfassungsschutzamtes erklärte u. a.: Ein klares Beispiel für die Widersprüche im Lager des Bolschewismus zeigt sich in letzter Zeit in der DDR. In der Akademie der Wissenschaften steht an führender Stelle ein alter Kommunist, der zu gleicher Zeit auch ein Fachmann im Flugzeugbau ist. Dieser Fachgenosse bekam durch das ZK der SED drei junge Genossen als Kandidaten für die Akademie zugeteilt. Er lehnte sie jedoch aufgrund ihrer Qualitäten ab. Im ZK der SED versuchte man dem Genossen klarzumachen, dass es darauf ankäme, besonders Genossen als Mitglieder in die Akademie zu bekommen. Der Fachgenosse lehnte auch trotz strenger Rüge die Aufnahme der drei Genossen in die Akademie ab. »Dieses Beispiel zeigt ganz deutlich, in welcher Richtung der Westen sein Schwergewicht zu legen hat. Unterstützung der Arbeiterintelligenz um die Macht der Parteifunktionäre zu brechen ….«
III. Hetze der Westsender
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London am 27.10.1956, 20.30 Uhr:18 Nach einem Kommentar über Polen und Ungarn heißt es: »Wo Ulbricht und sein ganzes Regime bei alledem stehen? Darüber kann ja wohl kein Zweifel herrschen, unter allen reaktionären Kommunisten sind sie die reaktionärsten. Es wundert mich nicht, dass alles, was sie tun und lassen, von panischer Angst eingegeben ist. Angst ist es, die sie veranlasst, ihre jämmerlichen Drohgesten19 zu tun, da das Paradieren der Kampfgruppen20 und GST-Einheiten auf der Straße, die halb schmeichelnden, halb drohenden Ansprachen, die die Prominenten von Pankow21 in den Berliner Fabriken gehalten haben. Ulbricht an der Spitze. Noch nie war wohl so offenbar, wie sehr sie die willenlosen Kreaturen Moskaus sind ohne jede eigene Idee.«
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RIAS am 27.10.1956, 19.00 Uhr: Hetzt zu den Aussprachen von W. Ulbricht mit Arbeitern in den Berliner Betrieben:22 »In diesen Diskussionen sagte W. Ulbricht, man hätte in Budapest den Angriff der konterrevolutionären Elemente schon im Keime ersticken sollen. W. Ulbricht reihte sich damit in die [Reihe] jener reaktionären preußischen Generale, die Mitte des vorigen Jahrhunderts den Satz prägten, gegen Demokraten helfen nur Soldaten.23 Walter Ulbricht ging in die Betriebe um zu beruhigen, nicht die Sorge um die Arbeiterschaft veranlasste ihn, die Betriebe aufzusuchen, sondern die Sorge um die eigene Position.«
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RIAS am 27.10.1956, 15.30 Uhr: »Wo bleibt angesichts der Vorgänge in Polen oder Ungarn eine fordernde Stimme des FDGB oder der SED, das harte und noch immer stalinistische Regime der Sowjetzone schleunigst abzulösen? Wo bleibt ein sowjetzonaler Gomulka, der klipp und klar sagt, dass die Arbeiter der Sowjetzone ebenso deutsch fühlen, wie die polnischen Arbeiter polnisch und dass das Eintreten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen weder Landes- noch Hochverrat ist?«
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RIAS am 29.10.1956, 5.35 Uhr: »Wenn SED und FDGB hören, dass ungarische und polnische Arbeiter streiken und demonstrieren und die Arbeiter in den Betrieben der Sowjetzone über Normen und Versorgungsfragen auch nur diskutieren, dann öffnen sie die Waffenkammern, holen die Maschinenkarabiner heraus und halten terroristische Antistreikparaden der Betriebskampfgruppen ab.«
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RIAS am 28.10.1956, 16.40 Uhr: »Wenn Ulbricht und Grotewohl erklären, sie seien stark und für die DDR gelte das alles nicht, was sich in Polen und Ungarn abspielt. Auch in Pankow wird man sich den Auswirkungen der Ereignisse in Polen und Ungarn nicht entziehen können und das weiß man in Pankow selbst.«
IV. Lage in Westberlin
Inoffiziell wurde über eine Unterhaltung von zwei Männern des »British Center«24 in einem Westberliner Lokal bekannt, dass es nach ihrer Meinung »keinen 17. Juni mehr geben würde, denn innerhalb von 36 Stunden könnte Westberlin den ›Brüdern im Osten‹ die Waffen in die Hand geben, die sie zu ihrer ›Selbstbefreiung‹ gebrauchen könnten«. Weiter wurde inoffiziell bekannt, dass der amerikanische Geheimdienst seinen Agenten besonders Anweisung zur Militärspionage gibt. Dabei soll festgestellt werden: Truppentransporte der sowjetischen Streitkräfte und wohin diese transportiert werden. In diesem Zusammenhang äußerte ein Offizier des amerikanischen Geheimdienstes: »In Polen ist nun wieder Ruhe, jetzt wird in Ungarn gekämpft. Von hier wird sich die kämpferische Welle in die ČSR verlegen und von dort aus wird man in der Ostzone weitermachen.«
Der Geschäftsführer der »Schlesischen Landsmannschaft« interessiert sich vor allem für Stimmungsberichte aus der DDR zu den Ereignissen in Polen und Ungarn. Er erklärte: »Wenn wir uns jetzt nicht überrumpeln lassen, dann ist was los.« Nur sei es schwer, denn die DDR sei hinter der SU der stärkste Staat, der am meisten zur Sowjetunion steht und hält. Auch der Vorsitzende des »Breslauer Heimatvereines« sammelt Stimmungsberichte aus der DDR. Dabei interessiert ihn, welche Maßnahmen die SED, Volkspolizei, Kampfgruppen usw. planen und ob sie in Alarmbereitschaft stehen.