Lage in der DDR (7) 30.10.
30. Oktober 1956
Information Nr. 292/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (30.10.1956, 8.00 Uhr bis 17.30 Uhr, eingegangenes Material)
I. Lage in der Industrie
Gera: Aus dem VEB Zeiss Jena wurden Lohnforderungen unter den Saalhelfern bekannt. Sie bringen zum Ausdruck, nicht mehr arbeiten zu wollen, wenn sie nicht besser bezahlt werden. Aus dem VEB Maxhütte Unterwellenborn wurde Unzufriedenheit über Arbeitsnormen bekannt. In der Ofenanlage ist eine Produktionsübererfüllung von 250 % vorhanden. Die Arbeiter rechnen aufgrund dessen mit einer Überprüfung der Arbeitsnormen und bringen dazu zum Ausdruck, »dass man vonseiten der Werkleitung ja nicht dazu übergehen soll, die Norm zu erhöhen. Wenn die Norm erhöht wird, dann passiert etwas, dann stürzen diejenigen in den Ofen, selbst wenn 100 Polizisten mitkommen.«
Erfurt: Im VEB Erfurter Mälzerei und Speicherbau werden die Ereignisse in Ungarn1 nicht als konterrevolutionäre Tätigkeit, sondern als Ausdruck des Unwillens und der Unzufriedenheit der Bevölkerung angesehen. Unter der Belegschaft wurde im Zusammenhang damit über die Frage eines Streikes gesprochen. Näheres darüber ist nicht bekannt. (Diese Meldung fand bisher durch keine weiteren Meldungen Bestätigung.)
Cottbus: Am 29.10.1956, 11.30 Uhr, wurde im VEB Schraubenfabrik Finsterwalde in den Abteilungen Wärmerei und Presserei auf Anweisung einer Ärztekommission die Produktion eingestellt. Ursache: Durch das in den Abteilungen verwendete Brennöl traten Vergiftungserscheinungen und Schorfbildungen an Lippen, Mundwinkeln und Atmungsorganen der Beschäftigten auf. Hervorgerufen werden diese Erscheinungen durch den hohen Schwefelgehalt des Öles, das aus den Leuna-Werken geliefert wird. Das Leunawerk ist nicht in der Lage, schwefelfreies Öl zu liefern, da die Importrohstoffe aus Österreich ausbleiben und jetzt aus Krasnodar, SU, bezogen werden. Die in den Abteilungen Beschäftigten werden zzt. mit anderen Arbeiten beschäftigt, sodass kein wesentlicher Ausfall in der Entlohnung entsteht. Wenn jedoch in zwei bis drei Tagen keine Änderung erfolgt, müssen auch alle anderen Abteilungen, die bisher noch an einem gewissen Vorlauf arbeiten, stillgelegt werden.
Dresden: Im VEB Stahlwerk Gröditz, [Kreis] Riesa, kaufmännische Abteilung, wird das Gerücht verbreitet, dass in Dresden schon Konsumlager geräumt und zur Hilfe nach Ungarn geschickt wurden. Im VEB Kraftwerks- und Industriebau Dresden wird unter den Arbeitern das Gerücht verbreitet, dass es in Magdeburg 30 bis 40 Tote gegeben habe.2 In der Straßenbahn von Coswig, [Kreis] Meißen, nach Dresden erklärte ein Maurerpolier, »die Bauarbeiter einer Baugenossenschaft in Klotzsche, [Stadtteil von ] Dresden, wollen nächste Woche zwecks Lohnerhöhung in den Streik treten«. Im VEB Segeltuchweberei Pulsnitz, [Kreis] Bischofswerda, wurde im Anschluss an eine Versammlung einstimmig ein Schreiben an die Partei der Ungarischen Werktätigen angenommen. Ein Zugführer einer Kampfgruppe3 verlangte dem Schreiben den Zusatz zu geben, die ungarischen Arbeiter sollten mitteilen, aus welcher Zusammensetzung die ungarischen Banden bestehen.
Frankfurt/O.: Am 29.10.1956 entgleiste auf dem Bahnhof Frankfurt/O. (Anschlussgleis der DSU und Zubringergleis zum Verschiebebahnhof) aus bisher unbekannter Ursache eine Diesellok. Am 29.10.1956, gegen 17.27 Uhr, traf auf dem Verschiebebahnhof Frankfurt/O. ein Transport mit 235 Repatriierten aus der Volksrepublik Polen ein. Der Transport wurde 18.58 Uhr in das Zentrallager Fürstenwalde weitergeleitet. Zu besonderen Vorkommnissen kam es während des Transportes nicht.
Schwerin: Am 30.10.1956 wurde bekannt, dass in der Vermessungsdienststelle Schwerin große Unzufriedenheit – die bald an Meuterei grenzt – unter den Mitarbeitern herrscht. Ursache: Den Mitarbeitern wurde Gehaltsaufbesserung zugesagt, jedoch bisher nicht verwirklicht. Wenn bis 1.11.1956 diese Gehaltsaufbesserung nicht erfolgt, will die Vermessungsdienststelle Schwerin am 1.11.1956 eine Delegation zum Ministerium für Arbeit und Ministerium des Innern entsenden. Ähnlich soll es in der Vermessungsdienststelle Ost Dresden sein.
Objekte der Wismut: Ergänzend zur Meldung in der Information Nr. 290/56 über das Vorkommnis im Schacht Schmierchau, [Bezirk] Gera, wurde bekannt, dass kurze Zeit nachdem die drei Personen verschüttet wurden, weitere 13 Personen verschüttet wurden, die bereits wieder geborgen sind. Der Schichtleiter dieser Schicht war durch die Geologen gewarnt worden, den Überhau weiter zu fahren. Trotz dieser Warnung gab er dazu Anweisung und es kam zu den berichteten Unfällen.
II. Hochschulen und Universitäten
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Ein Theologiestudent der Martin-Luther-Universität Halle äußerte während einer Diskussion über die Ereignisse in Polen4 und Ungarn, »dass es in der DDR nicht einmal eine Rede- und Pressefreiheit gäbe. Er lehnt die Arbeiter- und Bauernmacht ab und wünscht sich eine Freiheit wie in Westdeutschland. Er würde gern auf das Stipendium verzichten, wenn er frei leben könnte.«
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Die Studenten der Fachrichtung Slawistik an der Universität Greifswald beziehen für ihr Studium die Zeitung »Trybuna Ludu«5 und haben daraus die Rede Gomulkas übersetzt.6 Sie haben den Text mit den Ausführungen im »Neuen Deutschland« verglichen und sind der Meinung, dass das ND lügenhafte Meldungen veröffentlicht.7
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Vier Studenten des pädagogischen Instituts Erfurt äußerten in einer Diskussion mit einem Lehrer: »An anderen Universitäten mucken die Studenten ganz schön auf. Wenn wir mehr zusammenhielten, würden wir auch mehr erreichen. Wenn uns was nicht passt, müssten wir einfach nicht zum Unterricht gehen.«
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Zwei Studenten der Hochschule für Architektur in Weimar wollen in einem Brief an das Zentralorgan der Studenten »Forum«8 erklären, dass die Architektur frei von politischen Richtungen gehalten werden müsste.
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Am Nachmittag des 29.10.1956 hatte das 2. Studienjahr der medizinischen Fakultät der Universität Jena eine Versammlung, wovon die FDJ-Hochschulgruppenleitung kurz vor Beginn benachrichtigt wurde. In dieser Versammlung stimmten alle anwesenden 180 Studenten für die sofortige Ablehnung des obligatorischen Russisch-Unterrichtes. Vier Studenten wurden von der Versammlung beauftragt, das Ergebnis dem Prorektor mitzuteilen. Diese Delegation trat mit der gleichen Forderung an die Leitung der Fakultät Slawistik, die jedoch die Studenten auf ihre Fehler aufmerksam machte. Am 29.10.1956 teilte eine Gruppe von fünf Studenten dem Leiter der Abteilung Sprachunterricht des Hygieneinstituts mit, dass sie beabsichtigen, einen Studentenstreik durchzuführen, um zu erreichen, dass der obligatorische Russisch-Unterricht ab sofort wegfällt. In Diskussionen kommt zum Ausdruck:
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Warum wurde uns über die Verhältnisse in Polen keine Aufklärung gegeben, obwohl bekannt war, dass in der landwirtschaftlichen Entwicklung ein Rückgang eingetreten war und die Arbeitsproduktivität im Gegensatz zur DDR gesunken ist.9
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Der Prorektor der Universität ist der Meinung, dass in der jetzigen Situation keine Zugeständnisse an die Studenten gemacht werden dürften, da es sonst zu Krawallen kommen könnte.
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Im technisch-physischen Institut wird die Meinung vertreten, dass es in der DDR auch bald losgeht.
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Die Studenten der Fakultät Physik (3. Studienjahr) der Pädagogischen Hochschule Potsdam forderten in einem Seminar über Gesellschaftswissenschaften den vorgesehenen Seminarstoff nicht zu behandeln, sondern eine Diskussion über die Vorgänge in Ungarn durchzuführen. Es trat eine Verzögerung des Seminars um 30 Minuten auf.
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Unter den Assistenten an der Technischen Hochschule Dresden ist die Unzufriedenheit über die Bezahlung stärker geworden. Die Assistenten an der Technischen Hochschule verdienen trotz ihrer besseren fachlichen Qualifikation weniger als ein Wissenschaftler in der Industrie, der nicht diesen Grad der Qualifikation besitzt.
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In der Abteilung Sprachunterricht wird bekannt, dass sich die Übersetzerinnen wiederholt um eine Tätigkeit in der Industrie und im Luftfahrtwesen bewerben, da dort bessere Verdienstmöglichkeiten bestehen. (Besonderes Interesse für Luftfahrtwesen)
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Im Institut für Wirtschaftswissenschaften der Universität Leipzig wird die Meinung vertreten, dass an den Ausschreitungen in Ungarn das Eingreifen der Sowjettruppen Schuld sei.
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Verschiedene Professoren der Hochschule für Elektrotechnik in Ilmenau, [Bezirk] Suhl, erhielten die ihnen zugesagten Mengen als Koks für Hausbrand nicht. Unter den Betroffenen befindet sich auch ein westdeutscher Professor, der vor einem Jahr in die DDR kam. Seine Ehefrau äußerte gegenüber dem Kohlebeauftragten des Rates des Kreises, dass es sich ihr Ehemann, der zu einer Tagung nach Westdeutschland fährt, überlegen wird, ob er wieder in die DDR zurückkehrt, wo nicht einmal die Kohleversorgung klappt.
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An der Bergakademie Freiberg wird diskutiert:10
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»Jetzt war in Polen und Ungarn was los. Dann wird wohl Bulgarien, Rumänien und die DDR drankommen.«
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»Durch diese Ereignisse geht langsam aber sicher meine sozialistische Weltanschauung flöten. Diese Ereignisse (Polen und Ungarn), sind ein Ergebnis des XX. Parteitages.«11
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Am 29.10.1956 forderte der beste Student der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität die Studenten auf, dem Russischunterricht fernzubleiben. Der größte Teil der Studenten tat dies auch. Dieser Student ist Mitglied der FDJ-Leitung.
III. Hetze der Westsender
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen und Ungarn wird weiterhin gegen die SED gehetzt, besonders gegen Walter Ulbricht und Otto Grotewohl. Im Mittelpunkt dieser Hetze steht dabei das Gespräch vor dem Fernsehfunk am 27.10.1956.12
»Sender Freies Berlin« am 29.10.1956: »Mit der Dreistigkeit von gewerbsmäßigen Provokateuren haben Ulbricht und Grotewohl zu den Ereignissen in Ungarn und Polen Stellung genommen. Sie dächten nicht im Traume daran, irgendwelche Lehren daraus zu ziehen und sie würden in der stalinistisch regierten Zone nichts ändern. Nun, dass von dieser Seite etwas geändert würde, hat auch keiner erwartet. Auch in Polen und Ungarn haben die Stalinisten nichts geändert, sondern es wurde gegen ihren Willen und über ihren Sturz die große Wende herbeigeführt.« Auch andere Kommentare des Senders »RIAS« befassen sich hauptsächlich mit dem Gespräch und hetzen in diesem Zusammenhang gegen den Genossen Walter Ulbricht.
IV. Besondere Vorkommnisse
Leipzig: Am 28.10.1956 betrat der [Name, Vorname] die Gaststätte »Decker« in Oberhain,13 [Kreis] Geithain, und führte gegen vier Mitglieder der SED und einigen Bauern folgende provokatorische Äußerungen: »Ihr Kommunistenschweine, ihr SED-Bonzen. Die Bevölkerung in der DDR ist sowieso nicht mit der Regierung einverstanden. In der DDR herrschen doch Zustände. Im Westen dagegen ist alles viel besser. Umsonst bin ich nicht in die DDR gekommen.« [Name] ist Anfang 1955 illegal nach Westdeutschland gegangen und am 27.10.1956 illegal über Plauen wieder nach Oberhain zurückgekehrt. [Name] ist nicht polizeilich gemeldet und machte diese Äußerung in stark angetrunkenem Zustand.