Lage in der DDR (8) 30.–31.10.
31. Oktober 1956
Information Nr. 293/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (30.10., 17.30 Uhr, bis 31.10.1956, 8.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Lage in der Industrie
Magdeburg: Am 30.10.1956 legten von 6.00 Uhr bis 11.30 Uhr im Georgi-Dimitroff-Werk Magdeburg Werk B in der mechanischen Abteilung 30 Jugendliche die Arbeit nieder. Die Ursache dazu war ein Zeitungsartikel der »Volksstimme« vom 29.10.1956, der besagt, dass das FDJ-Aktiv des Betriebes eine Grußadresse an die Jugendleitung der Waggonfabrik »Wilhelm Pieck« in Budapest1 gerichtet hat.2 Die Jugendlichen verlangten eine Klärung, wer diese Grußadresse abgefasst hat und außerdem seien sie mit dem Inhalt nicht einverstanden. Sie brachten zum Ausdruck, dass die FDJ-Funktionäre des Betriebes von ihnen nicht anerkannt werden. Außerdem hätten die konterrevolutionären Elemente in Ungarn gesiegt. Ein Lokführer der Reichsbahn Salzwedel äußerte zu einem Genossen der Kreisleitung der SED, indem er auf das Parteiabzeichen zeigte, dass es bei uns in 14 Tagen genauso wie in Ungarn ist. In der Zuckerfabrik Salzwedel haben einige Genossen der SED ihr Parteidokument abgegeben. Als Begründung geben sie familiäre Angelegenheiten an. Lediglich ein Genosse erklärte, dass er in Westdeutschland weilte und von dort stark beeindruckt sei.
Dresden: Drei Angestellte der Mitropa-Gaststätte Dresden-Neustadt sagten: »Man müsste nun endlich bei uns in der DDR auch anfangen, um der Regierung zu zeigen, was die Arbeiter fordern.«
Erfurt: Die Arbeiter des Kalischachtes von Sondershausen sind sehr unzufrieden über die schlechte Versorgungslage sowie über den aufgeblähten Verwaltungsapparat. In Gesprächen bringen sie zum Ausdruck, dass sie die Beispiele von Polen und Ungarn anwenden wollen.
Rostock: Nach den Äußerungen einer Schaffnerin vom VEB Nahverkehrsbetrieb Rostock gibt es unter den Schaffnern Unzufriedenheiten. Die betreffende Schaffnerin eines Wagens der Linie 2 äußerte beim Absteigen einer Hallenleiterin Folgendes: »Jetzt sitzen schon vier von diesen Hallenleiterinnen bei uns, obwohl zwei vollkommen genügen. Eine Hallenleiterin erhält 600 DM im Monat. Uns dagegen, die wir die Arbeit machen, streicht man die Treueprämie3 und die Frostzulage. Wir werden uns dies nicht mehr lange ansehen und werden drei bis vier Tage streiken, um zu unseren Forderungen zu kommen, d. h. Einführung der Treuezulage und Zahlung der Frostzulage.«
II. Übrige Bevölkerung
Karl-Marx-Stadt: Ein Pelzhändler aus Klingenthal4 äußerte sich gegenüber dem Leiter der HO-Gaststätte »Albert-Halle« [sic!] wie folgt: »Wir arbeiten langsam aber sicher. Wir bauen Stein auf Stein. Hast du gehört, was gestern in Magdeburg los war?5 Du wirst dein blaues Wunder erleben am 2. November. Ich sage dir heute noch nichts und bitte um größte Verschwiegenheit. Umsonst war ich nicht acht Tage in Berlin. Halt dein Geschäft fest, denn im Frühjahr gibt es keine HO mehr.«
III. Grenzprovokation
Suhl: Am 30.10.1956, gegen 10.15 Uhr, trafen am Schlagbaum Almerswind, [Kreis] Sonneberg, zwei Wagen mit fünf amerikanischen Soldaten [ein], wovon vier Soldaten die Wagen verließen und sich mit den Grenzpolizeiangehörigen unterhielten. Sie sprachen über die Auswirkungen in Polen und Ungarn und forderten die Grenzpolizisten auf, nach drüben zu kommen, da es noch nicht zu spät sei.
IV. Besondere Vorkommnisse
Erfurt: Im Bereich der Grenzbereitschaft Eisenach ereignete sich am 30.10.1956 Folgendes: Gegen 14.30 Uhr erschienen auf westlicher Seite bei Großburschla vier Panzer schwereren Typs. Sie nahmen Standpunkt an der Demarkationslinie und führten Schießübungen in westlicher Richtung durch. Gegen 16.30 Uhr erschienen zwei Lkw mit Soldaten und führten gemeinsam mit den Panzern einen Sturmangriff in Richtung Westen durch. Gegen 18.10 Uhr kamen aus der Richtung Heldra ca. 18 Fahrzeuge und fuhren in Richtung Wanfried.6 Die vier Panzer schlossen sich dieser Kolonne an. Art der Fahrzeuge konnte wegen Dunkelheit nicht festgestellt werden. Gegen 18.30 Uhr fuhren ca. 20 Fahrzeuge aus Richtung Wanfried kommend in Richtung Heldra. Es waren Kommandorufe in deutscher Sprache zu hören, die Art der Einheit konnte jedoch nicht festgestellt werden.
Dresden: Am 30.10.1956, gegen 16.30 Uhr, explodierte im VEB Waggonbau Niesky die Dampfmaschine, welche zur Stromerzeugung eingesetzt war. Die Ursache dazu war das Brechen eines Pleuellagerbolzen. Schaden ca. 100 000 DM. Produktionsstörung trat nicht ein, da der Strom aus dem Netz entnommen wird.
V. Feindtätigkeit
Hetzlosungen
Dresden
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Großenhain, Stadtgebiet.
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»Fort mit Ulbricht«
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»Freie Wahlen«
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»Es lebe der Kampf in Ungarn«.
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In Meißen an einer Stützmauer zur Elbe: – »Kein Sozialismus ohne Demokratie – keine Demokratie ohne Freiheit – Russen raus.« Die Länge der Losung beträgt 37 Meter.
Halle:
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Im Thomas-Müntzer-Schacht Sangerhausen: – »Nieder mit Pankow7 – SPD – Nieder mit der roten Diktatur.«
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Im Ernst-Thälmann-Schacht Eisleben. Hetzlosungen gegen W. Ulbricht und faschistische Zeichen.
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Roßlau, Stadtgebiet. – »Deutschland lebt«, und faschistische Zeichen.
Karl-Marx-Stadt
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Im Stadtgebiet an einem Schaukasten der »Volksstimme«: »Rentner hungern, Ulbricht muss weg.«
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Aue, Oberer Bahnhof: »Ungarn hat gesiegt, wir werden auch siegen.«
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Steinkohlenwerk »Karl Liebknecht« Oelsnitz, [Kreis] Stollberg, an einem Hunt:8 »Wir sitzen tief im Dreck, Walter Ulbricht muss weg.«
Erfurt
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Am Eingangstor des VEB Druckerei »Fortschritt« Erfurt: – »Helft Ungarn, Arbeiter, Jugendliche, Bauern, Soldaten und Wissenschaftler helft Ungarn. Soldaten schießt nicht auf uns, Arbeiter führt Streiks durch, noch kämpfen die Ungarn. Besorgt Waffen und helft ihnen damit, kämpft gegen die Russen. Demonstriert.«
Magdeburg
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Im Stadtgebiet Halberstadt an drei verschiedenen Stellen:
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Freie Wahlen
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Arbeiter streikt, folgt dem Beispiel der Ungarn.
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Hetzschriften
Halle
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Im Kraftwerk der Filmfabrik Wolfen, [Kreis] Bitterfeld, sechs Hetzzettel mit Schreibmaschine geschrieben. – »Budapest, was machen wir?«
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Im Stadtgebiet Merseburg elf Hetzzettel mit Kinderdruckkasten gefertigt. – »Russen go home.«
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Im Stadtgebiet Dessau Nord 15 Hetzzettel mit Druckkasten hergestellt. – Hetze gegen W. Ulbricht, Otto Grotewohl und gegen die SU.
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In Esperstedt, [Kreis] Artern, ein Paket mit 3 000 Flugblätter gefunden: – »Genosse kehre um.«
Gerüchte
Berlin
Am 30.10.1956 tauchte in zwei Fällen in der Straßenbahn das Gerücht auf: »Mitglieder des Politbüros der SED hätten in einer Sitzung den Rücktritt des Genossen Walter Ulbricht gefordert.«
Magdeburg
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Im Kreis Schönebeck tritt vereinzelt das Gerücht auf, »dass der Amerikaner die Gebiete, die er 1945 besetzt hatte, wieder übernimmt«.9
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Im VEB Maschinenbau Zerbst kursiert das Gerücht, »dass zwei Minister unserer Regierung mit 6 bis 7 Millionen DM nach den Westen flüchtig geworden seien«.
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Im Faserplattenwerk10 wird das Gerücht verbreitet, »dass in Polen, den noch dort wohnenden Menschen, hauptsächlich Deutschen, sämtliches Eigentum weggenommen wird. Die Deutschen würden ab sofort nichts mehr zu Essen bekommen und keine Arbeit erhalten.«
Anonymer Brief
Karl-Marx-Stadt
Am 30.10.1956 erhielt der Leiter vom Sender Plauen durch die Post einen anonymen Brief. In diesem Brief wird er aufgefordert, die Verstärkeranlage des Senders zu zerstören. Wenn er dieser Aufforderung nicht nachkommt, soll er entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden. Man droht in diesem Brief mit Gefahr an Leib und Leben.
Waffen- und Munitionsfund
Karl-Marx-Stadt
Am 30.10.1956 wurde gegen 10.00 Uhr in Rodewisch,11 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, an einem Gartenzaun hängend eine Pistole 08 mit zwei Magazinen und sieben Schuss Munition gefunden. Die Munition war zu Dum-Dum-Geschossen abgefeilt. An der Pistole selbst hing ein Zettel, auf dem mit Blockschrift geschrieben stand: »Wir haben noch mehr und bessere«.