Lage in der LDPD
9. November 1956
Information Nr. 320/56 – Betrifft: Zur Lage in der LDP
Die nachstehende Einschätzung befasst sich hauptsächlich mit der Stimmung
und einigen, wahrscheinlich zum Teil davon abgeleiteten Forderungen wie Veränderung der Parteiführung und deren Politik, mehr Selbstständigkeit für die LDP usw.
Die große Mehrheit der LDP-Mitglieder lehnt den Überfall – besonders durch England und Frankreich – auf Ägypten ab, meist mit den Begründungen, dass dadurch ein Dritter Weltkrieg heraufbeschworen werden kann, dass der Übergriff rechtswidrig und Ausdruck der immer mehr auf Schwierigkeiten stoßenden Kolonialpolitik Englands und Frankreichs ist, dass Ägypten mit Recht seine Souveränität verteidigt und siegen müsste. Nur wenige Stimmen billigen den Überfall und berufen sich dabei auf den Vertrag, der von Ägypten gebrochen worden sei.4 Die Äußerungen – positiver und negativer Art – unterscheiden sich in keiner Weise von den bisher berichteten Argumenten der übrigen Bevölkerung.
Bedeutend unterschiedlicher sind die Stellungnahmen zu den Ereignissen in Ungarn. Da zurzeit noch ein großer Teil mit seiner Meinung zurückhält, kann zwar nicht genau eingeschätzt werden, welche Argumente überwiegen; aber die negativen sind zahlreich. Oft ist dabei die Unsicherheit verratende Tendenz »wenn (oder ob) es bei uns anders kommt?« zu bemerken, bzw. ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens. Auch die Information durch Presse und Rundfunk wird von vielen LDP-Mitgliedern bemängelt und – neben dem Bedürfnis »objektiv« zu sein – als Ursache hingestellt, dass viele sich durch die Westsender orientierten. Parallelen westlichen Einflusses drücken sich dann auch, besonders wo das Vertrauen in das sozialistische Lager schwach ist oder fehlt, in den Diskussionen aus. Folgende Argumente werden angeführt:
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Was wollen die sowjetischen Truppen in Ungarn? (allgemein verbreitet)
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Die Ungarn wollen nur frei wählen – wir auch (Cottbus)
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Die Revolution wird endlich auch bei uns die Freiheit einziehen lassen (Forderung nach einem neuen Wahlgesetz englischen und französischen Musters) (Frankfurt/O.)
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Die Unruhen in Ungarn werden von Tito5 – Jugoslawien aus geleitet. (Leipzig)
Die positiven Stimmen ähneln alle den bereits bekannten und berichteten und sind in allen Bezirken und Kreisen vorhanden.
Die Kontaktaufnahme zwischen LDP und FDP wird im Prinzip von fast allen LDP-Mitgliedern als eine gute Maßnahme angesehen. Doch um sie erfolgreich zu verwirklichen,
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»müssten auch die unteren Verbände Gespräche führen«,
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»müssten von beiden Partnern Kompromisse geschlossen werden« (Potsdam),
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»müsste die LDP große Vollmachten haben und hätte sie sich nicht an den demokratischen Block6 binden dürfen« (Halle),
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»müssten FDP-Referenten in den Mitgliederversammlungen sprechen« (Karl-Marx-Stadt),
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»dürfte die LDP kein Anhängsel der SED sein« (Karl-Marx-Stadt).
Unter diesem Aspekt sind auch die folgenden Anzeichen zu sehen, die auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb der LDP bzw. deren Verweichlichung und Schwächung im schlechten Sinne hinweisen. Wenn es sich auch noch um Einzelerscheinungen handelt, können diese doch eine große Resonanz finden:
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In der LDP-Ortsgruppe Löbejün, [Bezirk] Halle, forderte man, dass Dr. Loch7 als Parteivorsitzender zurücktreten soll. Falls der Kreisvorstand dies nicht unterstützt, will man geschlossen die Mitgliedsbücher abgeben. (Parteifreund Dr. Dieckmann8 wird von den Mitgliedern sehr geschätzt und als eine alle anderen Politiker und Diplomaten der DDR überragende Persönlichkeit angesehen.)
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Im Bezirk Suhl erklärte ein Mitglied, dass bald eine Spaltung der Partei eintreten würde und eine Gruppe bereits einmal in Bad Salzungen getagt hätte. Die nächste Zusammenkunft soll Anfang bis Mitte November in Bad Liebenstein erfolgen.
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In einer Mitgliederversammlung in Kütten, [Bezirk] Halle, wurde die Rehabilitierung und Wiederaufnahme Dr. Hamanns9 verlangt.
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Im Kreisgebiet Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, und [in] Fienstedt, [Bezirk] Halle, erklärten die Mitglieder, dass die Parteileitung zu feige sei, Neuwahlen zu veranlassen.
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In der Ortsgruppe Gößnitz, [Bezirk] Leipzig, trat der Vorsitzende aus und löste die Ortsgruppe auf. Die Mitgliedsbücher gab er innerhalb der Umtauschaktion zurück. Ein anderes Parteimitglied trat mit der Bemerkung aus: Wir erklären uns mit Westdeutschland in der Trauer um die Freiheitsbewegung in Ungarn solidarisch.