Lage unter den Studenten
31. Oktober 1956
Information Nr. 295/56 – Betrifft: Lage unter den Studenten
Neben den bisher bekannt gewordenen drei Hauptforderungen (objektive und schnelle Information durch Presse, Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichtes, Bildung selbstständiger Studentenorganisationen) trat am 30.10.1956 erstmalig die ernst zu nehmende »Forderung an alle Studenten« auf, den »Anstoß zum deutschen Freiheitskampf« zu geben.
In der Nacht vom 29./30.10.1956 wurde an der Wandzeitung der FDJ des physikalischen Institutes der Humboldt-Universität ein »Aufruf an alle Studenten« angebracht. Er fordert die Studenten auf, ihre Tätigkeit in der »kommunistischen FDJ« zu verweigern und die Ausbildung der GST dazu zu benutzen, um Ausbildung an Waffen zu erhalten. Der Aufruf weist daraufhin, dass die Masse der Bevölkerung nur auf die Initiative von oben wartet. »Studenten, gebt den Anstoß zum deutschen Freiheitskampf.« (Aufruf als Anhang).
In einem weiteren Aufruf, der am 30.10.1956 in 4-facher Ausfertigung im Berliner Universitätsgebäude angebracht war, heißt es: »Die Studenten wollen den Ereignissen nicht blind und abseits gegenüberstehen!1 Wir fordern daher:
- 1.
Schluss mit allen Vorbehalten, Verschleierungen und Lügen in Presse und Rundfunk der DDR.
- 2.
Einberufung einer Großkundgebung aller Studenten der Universität, auf der durch frei zu bestimmende Redner zur gegenwärtigen politischen Lage Stellung genommen wird.
- 3.
Offene Aussprachen sowohl mit allen Kommilitonen als auch mit jedem Einzelnen, der sich um eine klare Einschätzung der eingetretenen Situation bemüht. Scheuen wir die Wahrheit nicht …!«
Im Mittelpunkt der Forderungen der Studenten steht nach wie vor die sofortige Abschaffung des russischen Sprachunterrichtes. Besonders aktiv sind dabei die Studenten der Universität Jena. Dort brachten zwar der Prorektor, der stellvertretende Rektor und der 1. Sekretär der SED der Universität den Studenten gegenüber zum Ausdruck, dass ihre Forderungen nach Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichtes gegen jede akademische Gepflogenheit verstoße, konnten aber die Forderungen nicht unterbinden. Im 1. wie im 2. Studienjahr der medizinischen Fakultät kam zum Ausdruck, mit neuen Methoden das Studium fortzusetzen, aber die alten Forderungen beizubehalten, während die Studenten des 3. Studienjahres Medizin – nach ihrer beim Prorektor geäußerten Meinung – mit der Weiterführung des Russischunterrichtes einverstanden waren. In Wirklichkeit aber diskutierte ein Teil der Studenten weiter und beauftragte einige Studenten am 31.10.1956 um 12.00 Uhr in der Mensa ihre Forderungen zu formulieren. Es wurde ebenfalls vorbereitet, dass das 1. und 2. Studienjahr daran teilnimmt. Bei allen diesen Aussprachen wurde auf »Streik« oder »auf die Straße gehen« hingewiesen.
Auch an der Universität Halle haben die Forderungen auf sofortige Abschaffung des Russischunterrichtes ein großes Ausmaß angenommen. Die reaktionären Kräfte unter den Studenten trugen bei einer Aussprache mit den FDJ-Sekretären und Seminargruppensekretären ihre Forderungen in frecher, provokatorischer Weise vor und fanden starken Beifall. Als Beweis für die Richtigkeit dieser Forderung wurde eine »Resolution« – von 170 Studenten unterzeichnet – vorgelesen. (Resolution soll sich beim Staatssekretariat für Hochschulwesen befinden.) Bei Aussprachen mit Vertretern des Lehrkörpers kam es zu Missfallenskundgebungen. Argumente:
- –
»Wir fordern Gleichberechtigung aller Sprachen.«
- –
»Professoren können kein Russisch, sind auch gute Wissenschaftler.«
- –
»Wir Versuchskaninchen müssen ausbaden, was oben dauernd verbrochen wird.«
- –
»Unsere Wissenschaft stützt sich auf englische Veröffentlichungen, Bedeutung der Russischen Sprache geht zurück.«
- –
»Bis wann wird Russisch abgeschafft?«
Auf den Einwand, dass Studenten nicht einfach vom Russischunterricht wegbleiben könnten, kam der Zwischenruf »Arbeiter streiken auch«.
Mitglieder des Lehrkörpers und des Staatssekretariats für Hochschulwesen beeinflussten den Einfluss [sic!] der Versammlung günstig. Es ist jedoch festzustellen, dass der FDJ-Sekretär der medizinischen Fakultät, der diese Versammlung leitete, nicht Herr der Lage war und sich nicht an die vorher festgelegte Linie »Isolierung der Provokateure« hielt.
Am 29. und 30.10.1956 wurden in der Humboldt-Universität Berlin folgende Seminare im Russischunterricht nicht besucht bzw. gestört:
- –
29.10. – 1 Seminar (ca. 25 Personen) im 3. Studienjahr Medizin nahm nicht teil.
- –
29.10. – 1 Seminar (ca. 25 Personen) 2. Studienjahr Veterinärmedizin nahm nicht teil.
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30.10. – 1 Seminar der landwirtschaftlichen Fakultät kam betrunken zum Unterricht.
- –
30.10. – Im Seminar des Dozenten Brauer wurde eine Stinkbombe geworfen.
In der Hochschule für Musik – Berlin wird in einem Wandzeitungsartikel »Fragen der Studentenschaft an die Direktion unserer Hochschule« zum Ausdruck gebracht, dass die Informationen durch unsere Presse falsch und zusammenhanglos seien. Sie beweisen das anhand von Notizen aus der »Berliner Zeitung«. Sie stellen in diesem Artikel folgende Fragen:
- –
Seit wann wird in einem sozialistischen Land gerade dann die Neuwahl des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden vorgenommen, wenn ein »faschistischer Putsch« unternommen wird.
- –
Seit wann werden Regierungsumbildungen in der Presse an nebensächlicher Stelle am Ende einer Mitteilung veröffentlicht?
- –
Wie kann Ruhe und Ordnung gesichert sein, wenn die Konterrevolutionäre zwei Tage nachher erst die Waffen niederlegen?
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Wieso ist es möglich, dass sich die faschistischen Elemente eine Woche gegen die Regierung, hinter der geschlossen die Bevölkerung steht, und gegen die Sowjettruppen behaupten?
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Weshalb würde zwei Tage nach der Regierungsbildung eine neue Regierungsbildung erfolgen und am Sonnabend bereits wieder?
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Warum werden nur Kommentare, nicht aber Tatsachen mitgeteilt?
»… Wir sind der Überzeugung, dass nur ein offenes, freimütiges Gespräch zur Lösung dieser Fragen führen kann. Wir sind keine Agenten, Saboteure und Konterrevolutionäre. Wir wollen ehrlich am Aufbau des Sozialismus mitarbeiten und bitten um Antwort auf diese Frage …«
Nach einer Aussprache zwischen einem Studenten und dem Prorektor lehnte letzterer eine Versammlung über diese Fragen mit der Begründung ab, es gäbe keine Referenten. Trotzdem teilte der Student der Redaktionskommission der Wandzeitung mit, dass die Versammlung genehmigt worden sei. Daraufhin erschien an der Wandzeitung der Hinweis: »Große Diskussion am 31.10.1956«. Am Morgen des 30.10.1956 waren Abschriften des vorhin genannten Artikels im Konservatorium und in der Telefonzelle angebracht. Der oben angeführte Artikel wurde auch an eine Lehrerin der Hochschule geschickt.
Anlage zur Information Nr. 295/56
[Aufruf an der Humboldt-Universität]
Am 30.10.1956 wurde im Haupteingang der Humboldt-Universität in Berlin ein Aufruf angebracht, dessen Text nachstehend als Abschrift wiedergegeben wird. Der Verfasser des Aufrufes und Hinweise, wie viel Personen davon Kenntnis haben, sind noch nicht bekannt.
»Aufruf an alle Studenten! | Der Ernst der Lage macht es erforderlich, an das politische Verantwortungsgefühl aller Studenten zu appellieren. Die Entwicklung ist so weit vorangeschritten, dass wir den Bestrebungen der Großmächte, das deutsche Volk für immer am Boden zu halten, nicht mehr ohne unsere Antwort zusehen dürfen. Das bewusste Scheitern der beiden Genfer Konferenzen dürfte wohl jedem Deutschen die letzten Zweifel an diesen Bestrebungen genommen haben.2 Es gibt keine Macht der Welt, die daran interessiert ist, dem deutschen Volk seine Freiheit, Unabhängigkeit und sein geeintes Vaterland zurückzugeben. Allein wir Deutschen selbst können und müssen dieses große Ziel erzwingen. Eine politische Passivität kann keiner unter diesen Umständen gegenüber seinen Mitmenschen und Nachkommen verantworten. Wir rufen daher jeden Studenten auf, gegen das ausländische Joch sowohl im Westen als auch im Osten zu kämpfen. Die letzten Ereignisse aus Polen und Ungarn zeigen mit aller Deutlichkeit, dass dieser Kampf nicht aussichtslos sein wird. Der Bestand der deutschen Nation ist sehr gefährdet. Studenten! Verweigert die Tätigkeit in der kommunistischen Zwangsorganisation FDJ. Nutzt die Gelegenheit der Ausbildung an Waffen in der GST, aber denkt an eure Sicherheit. Zieht die Lehren aus dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Die Masse der Bevölkerung wartet nur auf eine Initiative von oben. | Studenten! Gebt den Anstoß zum deutschen Freiheitskampf! | gez.«