Landesparteitag der SPD und Stellungnahmen zum Ostbüro der SPD (1)
9. Mai 1956
Information zum 13. Landesparteitag der SPD in Westberlin mit Stellungnahmen zur Tätigkeit des SPD-Ostbüros [Information Nr. M99/56]
Wiedervereinigung Deutschlands
Die SPD-Führer sehen sich gezwungen, die sture Politik Adenauers1 in der Frage der deutschen Einheit zu kritisieren, die nach Ausführungen von Mellies2 offensichtlich »verfehlt« ist und »ohne Programm und ohne eigene Aktivität dasteht«.3 Die SPD müsse ihre eigenen Vorstellungen über die Wiedervereinigung formulieren, forderte Willy Brandt4 und wies auf die neuen Chancen aus der Abrüstungsdebatte und anderen Veränderungen in der internationalen Politik sowie in der sowjetischen Politik hin. Außer der Ersetzung der Begriffsformel »Frontstadt Berlin« durch »Hauptstadt«, woraus sich »Konsequenzen in der Aufbaupolitik und geistigen Ausrichtung« ergeben würden, verlangte er eine Aktivierung der Berliner SPD-Organisationen, um sie »wirklich zu einem Motor der sich wandelnden Wiedervereinigungspolitik zu machen«.
Brandt rief zur aktiven offensiven Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus auf, der seit Bestehen die erste ideologische Krise erlebe, »wenn auch auf dem Hintergrund eines an sich konsolidierten sowjetischen Regimes«. Man müsse sich darüber einig werden, »wie wir die Partei auf Touren bringen, wo sie es nicht ist, um sie mit wirklichem politischen Inhalt zu erfüllen und geistig lebendig werden zu lassen, damit diese die Aufgabe in der sich um uns wandelnden Welt lebendig, aktiv, aber dabei auch grundsatzfest lösen kann«.
Soweit das für die SPD-Organisationen im demokratischen Sektor zutrifft,5 erklärte Brandt vorher, dass die SPD daran interessiert sei, im »Osten« mit öffentlichen Versammlungen aufzutreten. Die Organisation werde aufgrund der allgemeinen politischen Lage den Zeitpunkt hierfür prüfen und bestimmen. Zum politischen Inhalt der Maßnahmen sagte er: »Erreicht werden muss die Einheit der Menschen dieser Stadt (Berlin) und das Tätigwerden der legalen, der inneren (?)6 Sozialdemokratie, auch auf der anderen Seite des Potsdamer Platzes und des Brandenburger Tores.« Und weiter: »Nicht mit Ulbricht, aber mit der Bevölkerung werden wir sprechen, und indem wir mit der Bevölkerung sprechen, auch Ulbricht und seinen Leuten einige unangenehme Fragen stellen, angefangen vom Schicksal unserer Freunde bis zur eigentlichen Frage, wann nämlich Schluss sein soll mit der brutalsten Form der Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Landes, wie sie die Zonenbewohner erleiden müssen«.
Aktionseinheit der Arbeiterklasse
Ebenso lehnen die übrigen Redner vorwiegend unter Berufung auf das »Terrorregime« und vorgenommene Verhaftungen die Aktionseinheit und jede offizielle Kontaktaufnahme mit der SED ab.7 Mellies forderte eine volle Rehabilitierung der Verhafteten und führte unter Bezugnahme auf den XX. Parteitag8 und die 3. Parteikonferenz9 aus: »… Die Änderung, die eintreten soll, wird man nur daran messen können, ob man bereit ist, nicht nur die zu Unrecht Verurteilten freizugeben, sondern das durch die Verbrechen der Regierung erlittene Unrecht, soweit so etwas überhaupt menschenmöglich ist, auch wiedergutzumachen.«
Zur Frage der Verhafteten
Insbesondere befasste sich Franz Neumann10 mit der Frage der Verhafteten und führte eine Anzahl von Personen an, die der SPD angehört haben sollen. Aus dem Protokoll des Bundestages vom 17. und 18.3.1950 (47./48. Sitzung) zitierte er sich selbst: »Der Polizeimajor Karl Heinrich11 ist während der Jahre 1933 bis 1945 acht Jahre im Moor und im Zuchthaus gewesen. Er ist von den Russen zum Kommandeur der Berliner Schutzpolizei ernannt worden … am 2. August 1945 ist … Heinrich … aus dem Zimmer des Polizeipräsidenten Markgraf12 verschwunden.«13
Er zitierte weiter aus demselben Protokoll, dass vier »Junge Falken«14 1948 verhaftet und verurteilt wurden, von denen Lothar Otter, Horst Glanck und Günter Schlierf inzwischen amnestiert worden seien, wogegen der kranke Gerhard Sperling noch in Haft sei.15 Dazu verlas er ein Schreiben unseres Justizministers, in dem der Mutter wegen der Schwere des Verbrechens die Weiterleitung eines Gnadengesuches abgelehnt wird. Die Verurteilten sollen SPD-Flugschriften verteilt haben. Mit der offenkundigen Zielsetzung, die »Falken« abzuschrecken und zur Stange zu halten, beschäftigt sich Neumann anschließend mit der Verurteilung von sieben namentlich bekannten Jugendlichen, vorwiegend aus der sogenannten »Telegraf-Aktion«. Er berichtet dann, wie der SPD-Kreissekretär von Weißensee, Herbert Mießner, »liquidiert« worden sei16 und schildert das angebliche Schicksal von vier SPD-Kreissekretären aus Rostock.
Neumann verlas ferner einen Ordnungsstrafbescheid des Magistrats von Groß-Berlin, Referat Wirtschaftsstrafrecht, wie er mehrfach vorgekommen sein soll. Es wurden darin Geldstrafen bis zu 800 DM ausgesprochen, weil Bewohner des demokratischen Sektors in Westberlin Arbeit aufgenommen hätten, ohne vorher die notwendige Genehmigung ihrer Abteilung Arbeit und Berufsausbildung einzuholen.
Ostbüro der SPD17
Indem Neumann den verbrecherischen Charakter des Ostbüros bestritt, verlangte er wie auch Mellies die Fortsetzung der Agententätigkeit bis »… das Ostbüro der Sozialdemokratischen Partei überflüssig wird durch die Tatsache, dass der Parteivorstand der Sozialdemokratie auch seine politische Arbeit in der sowjetisch-besetzten Zone eines Tages recht bald wieder aufnehmen darf«. Das Ostbüro sei auch weiter notwendig, »solange die Terrormaßnahmen in der sowjetisch-besetzten Zone vorhanden sind«, um dieselben zu registrieren und den Betroffenen zu helfen.
Wie weiter bekannt wurde, will das Ostbüro den Schwerpunkt seiner Tätigkeit vom demokratischen Sektor in die DDR verlegen und dort die Zahl seiner Agenten erhöhen. In Berlin sollen die SPD-Kreise im demokratischen Sektor überprüft und aktiviert werden. Sie sollen zu einem Teil als Informationsquellen dienen, aber nicht durch direkte Verbindung zum Ostbüro gefährdet werden. Verbindungen gehen vermutlich über den Landessekretär Theo Thiele18 und den »Telegraf«-Redakteur Werner Nieke.19 Die Propaganda und Agitation soll ausgehend vom »Stalinkult« Parallelen zur Führung der SED ziehen und besonders Genossen Ulbricht diffamieren. Presse, Funk, Kabarett und die sogenannten »Grenzveranstaltungen« sollen einbezogen werden. Man will den Genossen Ulbricht als »bösartige Groteske« lächerlich machen. Alle Schwierigkeiten und Mängel in der DDR sollen mit ihm in Verbindung gebracht werden, um eine Massenstimmung gegen die Führung der SED zu erzeugen. Zweck und Ziel gipfeln in der Aufforderung: »Ulbricht muss verschwinden«.
Das Ostbüro ist der Ansicht, dass die Anbahnung von Kontakten zwischen Ost und West im Bereich der Möglichkeiten liegt. Daher soll noch vorher die derzeitige Führung der SED zum Abtreten gezwungen werden. Das SPD-Ostbüro misst der Ausnutzung der Kulturstätten der DDR und des demokratischen Sektors zur Beeinflussung der Bevölkerung große Bedeutung bei. Hierzu zählen vor allem Theater, Varietés und die Darbietungen der Gastspieldirektionen. Letztere sollen auch gleichzeitig zur organisatorischen Verbindung zu Betrieben und Dienststellen (auch sowjetische) dienen. Gleichzeitig sollen die Programme im Sinne der SPD-Propaganda beeinflusst und die leichten Unterhaltungsprogramme, die bei der Bevölkerung beliebt sind, besonders ausgenutzt werden.
Um dieses zu erreichen versucht das Ostbüro Personen aus Künstlerkreisen zu gewinnen, insbesondere solche, die selbst in Westberlin wohnen, Verbindungen nach dort haben, aus irgendwelchen Gründen mit der demokratischen Entwicklung oder aus persönlichen Gründen unzufrieden sind. Ferner sollen Gesamtberliner Künstlertreffen unter Teilnahme von Künstlern aus Ost und West zu demselben Zweck organisiert werden. Die Einladung von Künstlern des demokratischen Sektors zu Gastspielen nach Westberlin ist vorgesehen.
Stellungnahmen aus der SPD-Mitgliedschaft
Auf einer Abteilungsversammlung der SPD in Weißensee (30 Anwesende) berichtete der Vorsitzende über den Parteitag. Nach einer Verurteilung des übertriebenen Huldigungskults mit Neumann wandte er sich gegen das Ostbüro der SPD und sagte: »Wir können leider nicht in einen Lobgesang für dieses Büro eintreten, denn es gefährdet unsere und unserer Freunde Arbeit. Ich habe nun schon mehrere Exemplare dieses Büros gelesen und kann nicht begreifen, wieso die SPD ihren Namen für diese Machwerke missbrauchen lässt. Es sind Artikel mit nur hetzerischem Inhalt, die dazu angetan sind, den Arbeiter in der Zone gegen die SPD aufzuhetzen … ich habe mich davon überzeugen können, dass diese Exemplare in sogenannten freiheitlichen Verlagen in Westberlin hergestellt werden und dort wird auch die »Tarantel«20 gedruckt, die unter dem Deckmantel des antibolschewistischen Kampfes eine wüste Hetze gegen Marxismus und Sozialismus betreibt.« Er habe sich auch deswegen an Mellies gewandt und den Parteivorstand zum Engreifen aufgefordert. In Zusammenhang mit dem XX. Parteitag und der 3. Parteikonferenz sprach der Referent sich gegen die Aktionseinheit aus und meinte, »wenn man auch gelegentlich die Figuren auswechselt, das Diktatursystem ist geblieben«. Er sagte ferner, dass niemand ein Gespräch mit »der anderen Seite« verbietet, »aber wir sollten dieses nur tun, wenn wir sicher sind, das Gespräch erfolgreich zu beschließen. Wir sollten auch den Zeitpunkt bestimmen und uns nichts aufdrängen lassen«. Ein Diskussionsredner forderte die Mitglieder zur »Wachsamkeit« auf, denn die Nationale Front21 versuche mit allen Mitteln SPD-Genossen zur Mitarbeit heranzuziehen.
Anlage zur Information Nr. M99/56
Franz Neumann nannte in seiner Rede folgende Verurteilte aus SPD-Kreisen namentlich:
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Lothar Böttcher – 10 Jahre Zuchthaus, Brandenburg,22
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Erich Czyrny – 25 Jahre Arbeitslager,23
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Willi Heubeck – 25 Jahre Arbeitslager,24
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Loni Fitzner25
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Leo Klement – 3 Jahre Gefängnis,26
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Herbert Kluge – 15 Jahre,27
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Arthur Knaak – 25 Jahre Bautzen, seit September 1951 in Waldheim,28
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Herbert Mießner – SPD-Kreissekretär in Weißensee,29
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Werner Rüdiger – Waldheim.30
2. SPD-Sekretäre aus Rostock: