Meinungen zur Bildung von Arbeiterkomitees (1)
4. Dezember 1956
Information Nr. 371/56 – Betrifft: Meinungen zur Bildung von Arbeiterkomitees in den Betrieben [1. Bericht]
Seit Veröffentlichung des Vorschlages des ZK der SED über die Bildung von Arbeiterkomitees1 wurde eine Anzahl von vorwiegend zustimmenden Stellungnahmen aus Volkseigenen Betrieben bekannt, in denen besonders Arbeiter, Wirtschaftsfunktionäre und Gewerkschaftsfunktionäre dazu ihre Meinungen äußern. Es wird darin der Einfluss hervorgehoben, den diese Komitees auf die Regelung betrieblicher Fragen nehmen könnten.
Charakteristisch dafür sind u. a. folgende Meinungen: »Bei Eintreten von Planschwierigkeiten und Ähnlichem ist es richtig, wenn sich die Arbeiterkomitees einschalten und durch Arbeiter Aussprachen hinsichtlich dieser Schwierigkeiten mit den Wirtschaftsfunktionären erzwungen werden. Die Wirtschaftsfunktionäre müssen dann besser als bisher vor den Arbeitern Rede und Antwort stehen.« (Beschäftigte im VEB PWS Schmölln, [Bezirk] Leipzig).
»Die Arbeiterkomitees hätten schon längst eingeführt werden müssen, dann wäre schon Verschiedenes anders. Nun wird es auch schneller und besser vorwärtsgehen.« (Beschäftigte im VEB LEW Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam).
Neben diesen Meinungen wurde jedoch eine beträchtliche Anzahl Stellungnahmen bekannt, die ziemliche Unklarheiten aufweisen. Ein großer Teil dieser Stellungnahmen ist deshalb auch in Form von Fragen gehalten, auf die Antwort erwartet wird. Im Einzelnen wurden dazu folgende Meinungen bekannt:
Unter Arbeitern
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In welchem Verhältnis sollen die Arbeiterkomitees zur Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) stehen? Welche Rolle sollen die BGL im Betrieb erhalten? (Arbeiter im VEB Nahrungsmittelkombinat Wurzen, VEB PWS Schmölln, [Bezirk] Leipzig, und VEB »Heinrich Rau« Wildau, [Bezirk] Potsdam).
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Es gibt schon genügend Kommissionen, warum noch eine bilden? Nach welchen Gesichtspunkten soll das Arbeiterkomitee arbeiten, da doch eine Arbeiterkontrolle u. a. vorhanden ist?2 (Arbeiter im VEB Kirow-Werk Leipzig, Volkswerft Stralsund, [Bezirk] Rostock, EKS Stalinstadt und Kranbau Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O.).
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Vor der Bildung von Arbeiterkomitees erst einmal Verwaltung abbauen. Es ist zu erwarten, dass die Mitglieder der Arbeiterkomitees für die Produktion ausfallen, den Betrieb Geld kosten und wieder zahlreiche Sitzungen durchgeführt werden. (Arbeiter im VEB PWS Schmölln).
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Die Arbeiterkomitees nutzen auch nichts, wenn kein Material da ist. Einige werden nur wieder gut bezahlte Posten erhalten, aber ändern wird sich nichts. (Arbeiter im VEB VTA Leipzig).
Unter Angehörigen der Intelligenz und Wirtschaftsfunktionären
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Die Bildung von Arbeiterkomitees ist nicht richtig. Auf die Wirtschaftsfunktionäre wird es sich so auswirken, dass viele ihre Funktionen niederlegen. (Wirtschaftsfunktionäre im VEB Schiffswerft Magdeburg; ähnliche Meinungen vertreten Wirtschaftsfunktionäre und Angehörige der Intelligenz im VEB PWS Schmölln, [Bezirk] Leipzig, Funkwerk Berlin-Köpenick und RAW Schöneweide.)
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Durch Bildung der Komitees werden noch mehr Kontrolleure geschaffen, am Ende brauche keiner mehr arbeiten. (Wirtschaftsfunktionäre im IKT Rostock, VEB Kirow-Werk Leipzig, Emaillierwerk Wurzen, [Bezirk] Leipzig).
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Alle Maßnahmen müsse er allein verantworten und er lässt sich von keiner Kommission reinreden. (Werkleiter VEB Hammerschuh Roßwein, [Bezirk] Leipzig).
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Die Bildung von Arbeiterkomitees ist ein Zugeständnis, das die Arbeiter gar nicht gefordert haben. Dafür sollten lieber andere Forderungen erfüllt werden wie z. B. offene Aussprache aller Schwierigkeiten in der Presse. (Angehörige der Intelligenz im VEB »Heinrich Rau« Wildau, [Bezirk] Potsdam).
Unter Gewerkschaftsfunktionären
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Eine gute Arbeit der Komitees ist infrage gestellt, da die meisten Arbeiter im Leistungslohn arbeiten und bei der Ausübung ihrer Funktionen wieder Diskussionen über die Bezahlung auftreten werden. (Mehrzahl der BGL-Mitglieder im VEB PWS Schmölln, [Bezirk] Leipzig).
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Die Bildung von Arbeiterkomitees erfolgt nicht zum richtigen Zeitpunkt, sondern beeinflusst die Gewerkschaftswahlen im negativen Sinne, da für diese Wahlen ebenfalls Urwahl gefordert werden wird. (Gewerkschaftsfunktionäre der IG Post- und Fernmeldewesen Dresden).
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Über die Bildung der Arbeiterkomitees sollen auch negative Äußerungen in der Presse zur Diskussion gestellt werden. Warum die Bildung von Arbeiterkomitees gerade während der Gewerkschaftswahlen? Damit wird in den Betrieben viel Wirrwarr erzeugt. Wer soll die Arbeiterkomitees anleiten, wenn die SED schon jetzt die BGL-Arbeit nicht richtig unterstützen kann? Wer soll dem Arbeiterkomitee angehören, da die Besten schon in der BGL, BPO und Verwaltungsfunktionen tätig sind? (Gewerkschaftsfunktionäre der Gewerkschaftsschule Güldengossa, [Kreis] Leipzig[-Land]).
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Durch die Bildung von Arbeiterkomitees wird der BGL die Arbeit abgenommen. (BGL-Mitglieder im VEB Hammerschuh Roßwein, [Bezirk] Leipzig).
Anlage zur Information Nr. 371/56
Betrifft: Feindpropaganda zur Bildung von Arbeiterkomitees in den Betrieben der DDR
Feindpropaganda zur Bildung von Arbeiterkomitees wurde bisher nur aus Sendungen der Hetzsender »Freies Berlin« und »RIAS« bekannt. Beide Sender benutzen den Vorschlag des ZK der SED über die Bildung von Arbeiterkomitees zur Hetze gegen das ZK der SED; besonders gegen den Genossen W. Ulbricht. Unter Hinzuziehung der Ereignisse in Polen3 und Ungarn4 wird in den Kommentaren versucht, den Hörern in der DDR klarzumachen, dass innerhalb des ZK der SED ernste Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Diese Meinungsverschiedenheiten wären auch der Anlass gewesen, den Arbeitern die Bildung von Arbeiterkomitees zuzugestehen. Dabei ist kennzeichnend für alle Sendungen, dass versucht wird, den Arbeitern für diese Komitees die Bezeichnung Arbeiterräte aufzuzwingen. In diesem Zusammenhang wird angeführt, welche Rechte die Arbeiterräte in Jugoslawien, Polen und Ungarn hätten und danach erklärt, dass es sich bei der Bildung von Arbeiterkomitees nur »um einen propagandistischen Trick handelt, mit dem die SED die Arbeiter täuschen und von ihren Forderungen abbringen will«. Ausgehend von dieser Behauptung werden die Arbeiter dann aufgehetzt, »gleiche Rechte« wie die Arbeiterräte in Jugoslawien, Polen und Ungarn zu erzwingen, »da die Zeit jetzt dazu günstig wäre«. Im Folgenden nun einige Argumente aus den Sendungen des RIAS, mit denen versucht wird, die Arbeiter in der DDR aufzuhetzen und zu beeinflussen.
I. »Sicher werden die Arbeiter diskutieren, aber über Arbeiterräte, die diesen Namen auch verdienen, über Arbeiterräte, denen die Betriebsleitung verantwortlich ist. Nicht über Arbeiterkomitees als pseudo-demokratische Feigenblätter der staatlichen Alleinherrschaft über die Betriebe. Die Arbeiter der Sowjetzone als höchst qualifizierte Arbeitnehmerschaft aller Länder des Ostblocks werden sich nicht mit einem schwachen Abglanz jener Selbstverantwortlichkeit abspeisen lassen, die ihren jugoslawischen und polnischen Kollegen gewährt wurde und die sich die ungarischen Arbeiter selbst gewährt haben.« (RIAS in einer Sendung am 27.11.1956)
II. »Aber dennoch ist die Tatsache, dass die SED sich wenigstens formell zu vorerst nur optischen Zugeständnissen an die Arbeiterforderungen nach Mitbestimmung bequemen musste, sehr bedeutsam. Man kann deshalb die weitere Diskussion über die Arbeiterräte – wer Arbeiterkomitees sagt, kommt den Absichten der SED nämlich schon auf halbem Wege entgegen – nicht denen überlassen, die das neu zu schaffende Organ im Geiste schon Normenerhöhungen durchführen sehen, an die sich die Betriebsleitungen allein bisher nicht herangewagt haben. Das Arbeiterkomitee wird nur dann zu einem echten Arbeiterrat, wenn ihm und nicht dem Staat oder dessen Beauftragten vom Betriebsplan über den Betriebskollektivvertrag bis zu den tariflichen Einstufungen und Prämien das entscheidendste Wort gegeben wird.« (RIAS in einer Sendung am 29.11.1956).
III. Die Übertragung der Entscheidung bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Arbeiterkomitees und Betriebsleitungen an die zuständigen Ministerien wird zum Anlass genommen, in folgender Weise zu hetzen: »Das kann man nun wirklich nicht Selbstbestimmungsrecht der Arbeiter, ja nicht einmal Mitbestimmungsrecht nennen. Es ist allenfalls eine bescheidene Form der Dezentralisierung, doch das Wort Demokratisierung sollte man dagegen im Zusammenhang mit diesem SED-Vorschlag besser nicht in den Mund nehmen oder vielleicht noch nicht. Denn 1.) ist klar, dass die Arbeiter in der Zone von der betrieblichen Selbstverwaltung und den Funktionen von Arbeiterräten wesentlich weitgehende Vorstellungen haben und 2.) ist die gegenwärtige Lage dazu angetan, der SED weitere und noch größere Zugeständnisse abzuringen. Die Arbeiter in der Zone werden sich mit einer rein formellen Nachahmung des jugoslawischen und polnischen Beispiels gewiss nicht abspeisen lassen, denn um eine rein formelle Nachahmung handelt es sich bei diesem Vorhaben doch, solange unter der irreführenden Bezeichnung der Arbeiterkomitees hier lediglich der Besänftigung wegen eine Institution ohne wirklich demokratischen Inhalt geschaffen werden soll. Immerhin das Stichwort ist gegeben, Diskussionen sind erlaubt, die Arbeiter in der Zone könnten jetzt sogar wörtliche Übersetzungen der entsprechenden jugoslawischen und polnischen Verordnungen über die Arbeiterräte und deren Rechte von der SED und dem FDGB verlangen …« (RIAS in einer Sendung am 27.11.1956).