Neue Flugschriften (8)
26. November 1956
Information Nr. 359/56 – Betrifft: Neue Hetzschriften
In der letzten Zeit wurden von den Feindzentralen auf dem Postwege sowie durch Ballons nachstehende Hetzschriften und Flugblätter verbreitet:
1.) Der Brief Nr. 24 der »SED-Opposition«1 trägt die Überschrift: »Die Ulbrichtgruppe muss fallen!«2
Als Begründung für diese Forderung wird angegeben, dass die »Ulbrichtgruppe« nicht gewillt sei, die richtigen »Konsequenzen« aus dem XX. Parteitag der KPdSU zu ziehen.3 Um glaubhaft zu machen, dass dies innerhalb der SED gefordert wurde, heißt es u. a.: »Im Staatsapparat sprechen Funktionäre untereinander von der baldigen Umbildung des Führungsgremiums der Partei und blicken aufmerksam zu Franz Dahlem,4 dessen Wort zunehmend an Gewicht gewinnt.« … Und an einer anderen Stelle heißt es: »Die Wahrheit ist die, dass Ulbricht und seine Mitgeschworenen einen neuen 17. Juni fürchten, einen 17. Juni der Partei. War es 1953 die Arbeiterklasse, die forderte: Weg mit Ulbricht, so wird heute diese Forderung in immer größerem Ausmaße in der Partei selbst erhoben … Der Widerstand in der Partei kann nicht mit Panzern gebrochen werden, sondern nur ideologisch.«
In der weiteren Folge wird auf den 17. Juni eingegangen und dazu folgende Aufforderung gegeben: »1953 war eine ähnliche Situation wie heute: Die Ulbrichtgruppe konnte nicht mehr in der alten Manier weiterwirtschaften und die Volksmassen waren nicht mehr gewillt, den Ulbrichtterror zu dulden. Sie nutzten die Verwirrung und Schwäche des Ulbrichtsystems aus und brachten es an einem einzigen Tag bis an den Rand des Abgrundes …« Eingehend auf die »Plattform Herrnstadt – Zaisser«5 heißt es dazu: »Wenn es 1953 einen echten Ansatz zu einer Neuorientierung der Partei gegeben hat, so lag er in der Opposition der Genossen Herrnstadt – Zaisser, die von Ulbricht genauso abgewürgt wurde, wie er heute den vom XX. Parteitag der KPdSU eingeleiteten Demokratisierungsprozess als nicht verbindlich für die DDR erklärt und die gegenwärtige Parteiopposition als parteifeindliche Agentenbewegung diffamiert …«
Die Hetze gipfelt vor allem in folgenden Forderungen:
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Liquidierung des Stalinschen Systems in Partei und Regierung.
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Bestrafung Materns6 – der den Tod des Genossen Lex Ende7 verschuldet und Parteiprozesse gegen so verdiente Genossen wie Paul Merker8 und Franz Dahlem mit gefälschten Materialien inszeniert hat.
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Aburteilung der Ulbrichtschen Parteigänger, die wissentlich im Prozess gegen Slánský9 und seine Mitangeklagten in der DDR falsche Aussagen gemacht haben.
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Peter Florin10 soll zur Verantwortung gezogen werden, weil er noch heute auf internen Parteiversammlungen im Partei- und Staatsapparat das sozialistische Jugoslawien verleumdet.
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Eine geheime Urabstimmung in der Partei, die darüber entscheiden soll, ob die Ulbrichtgruppe noch länger die Partei missbrauchen darf.
Mit der Darstellung, dass die Bevölkerung die »Ulbrichtgruppe« ebenfalls ablehne, wird die Forderung verbunden, dass »die Mitglieder daraus die Konsequenzen ziehen und die Ulbrichtgruppe aus der Partei fegen« sollten, »damit nicht eines nicht allzu fernen Tages ihre Verbrechen auch den Mitgliedern zur Last gelegt werden, damit sie sich den Vorwurf ersparen, gewusst und nichts getan zu haben«. Abschließend heißt es dann weiter: »Genossen! In der Partei existieren zwei Parteien: Die Ulbrichtanhänger und die Ulbrichtgegner. Schließt euch den Ulbrichtgegnern an, tretet mit der SED-Opposition in Verbindung.«
2.) Unbekannter Herkunft ist ein Flugblatt mit der Überschrift: »Genosse! Kehr um!«
Es ist unterzeichnet mit: »Ausschuss für Freiheit und Recht in der sowjetischen Besatzungszone«.
In primitiver Form werden die Mitglieder der SED angesprochen und aufgefordert, »die Parteiämter niederzulegen und wieder ehrlicher Arbeit nachzugehen; nach Gleichgesinnten zu suchen, die auch vom Bolschewismus loskommen möchten, aber nicht den Mut dazu haben«. Diese Handlungsweise würde ihnen bei der Wiedervereinigung Deutschlands zugutekommen, indem man »ihre Fehler oder gar Vergehen milde beurteilen wird, weil sie sich aufgrund der eigenen Erkenntnis noch rechtzeitig darauf besonnen haben, dass sie Deutsche sind …«
3.) In einem Flugblatt der KgU11 mit der Überschrift: »Der Terrorapparat der Partei auf der Anklagebank« werden in verfälschter Form die Veränderungen in der Parteiführung von Volkspolen12 und die Ereignisse in Ungarn13 dargestellt und in diesem Zusammenhang folgende Forderungen erhoben:
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Überprüfung aller Untersuchungsverfahren des SSD!14
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Revision der politischen Prozesse;
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Freilassung der immer noch 10 000 politischen Gefangenen;
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Öffentliche Gerichtsverhandlungen gegen alle für den bisherigen Terror im MfS und in der Parteispitze verantwortlichen Verbrecher.
4.) Ähnlichen Inhalts ist ein Flugblatt der SPD mit der Überschrift: »Tage, die die Welt erschüttern.«15
Nach eingehender Schilderung der Konterrevolution in Ungarn wird auf die Situation in der DDR eingegangen und folgendermaßen gehetzt: »Aufgabe der Arbeiter, Bauern und Soldaten Mitteldeutschlands ist es heute, aus der gegebenen taktischen Situation mit eigenen Mitteln am Sturz des Ulbricht-Regimes zu arbeiten. Die Situation in der Zone ist anders als die in Ungarn oder Polen. Politische Methoden müssen deshalb im Vordergrund des Kampfes stehen.« Abschließend wird zu Nachstehendem aufgefordert:
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die Funktionäre in den Betrieben werden isoliert –
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Versammlungen und Veranstaltungen beantworten mit dem Boykott des Schweigens –
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jeder Bauer weigert sich, in eine LPG einzutreten –
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wer kann, tritt aus der SED und den Massenorganisationen aus –
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im Betrieb kämpfen wir mit gewerkschaftlichen Mitteln gegen Normerhöhung, Lohnraub und Antreiberei –«
5.) In einem anderen Flugblatt der SPD werden die Werktätigen in der DDR zum »langsam arbeiten – länger leben« aufgefordert. Als Begründung dazu wird angegeben, dass »die Arbeiter sowieso von den Planerfüllungen nicht profitieren und es besser ist, die Wiedervereinigung gesund zu erleben, als mit der Aktivistennadel vorzeitig ins Grab [sic!] zu beißen«. Die Forderungen der Arbeiter müssten deshalb darin bestehen: »Erst besseren Lohn – bessere Versorgung – mehr Rechte, dann kann über eine Beschleunigung des Arbeitstempos, über höhere Normen geredet werden.«
6.) Ein Flugblatt (unbekannter Herkunft) trägt die Überschrift: »›BZ am Abend‹ verboten!«16
Das Ganze handelt sich um eine Wiedergabe einzelner Auszüge aus der Rede Gomulkas, wobei einleitend gegen das ZK der SED gehetzt wird. So heißt es z. B.: »Ulbricht und Genossen können es sich nicht leisten, dem unzufriedenen Volk in der Sowjetzone etwas vom Kurswechsel in Polen zu sagen, deshalb die Beschlagnahme der ›BZ am Abend‹ vom 22.10.1956 mit Auszügen aus der Rede Gomułkas.«17
7.) In einem Flugblatt mit der Überschrift: »Gewerkschaftswahlen – was ist zu tun?« gibt der UfJ18 folgende Hinweise:
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»Seht euch die Kandidaten auf ihr bisheriges Verhalten an:
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Wer bisher die Planerfüllung für wichtiger hielt, als die sozialen Interessen der Arbeiter und Angestellten, verdient nicht gewählt zu werden.
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Jeder, der eine Funktion in der SED bekleidet oder als einfaches Mitglied sich besonders linientreu zeigte, hat aus der BGL zu verschwinden.
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Wer als Prämienhascher und Normentreiber die Kollegen bei der Arbeit hetzte oder ihnen den Lohn schmähte, hat in der BGL nichts zu suchen.
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Streicht diejenigen, notfalls alle, von der Wahlvorschlagsliste, die sich gegen die Rechte der Arbeiter vergangen haben.«
8.) Mit einem Flugblatt wendet sich der UfJ an die »Technische Intelligenz!«. Darin wird u. a. gehetzt: »Melsheimer19 hat versprochen, die Staatsanwaltschaft aufzufordern, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen20 und Ulbricht hat auf dem Parteikongress und mehrmals danach eine Ära des gesunden Wettbewerbs aller Schaffenden angekündigt.«21
Inzwischen seien aber Monate vergangen ohne dass eine »Freizügigkeit« für die technische Intelligenz zu spüren sei. Auch würden die Forderungen der techn. Intelligenz von der Regierung nicht gewährt, die darin bestehen:
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»freie Disposition nach fachmännischen Grundsätzen und Erfahrungen in den Betrieben –
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politische Freizügigkeit –
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die Möglichkeit, den Arbeitsplatz in Deutschland frei und unabhängig wählen zu können«.
In der weiteren Folge gibt der UfJ den Rat: »Wer sich bei den verschiedensten Rechtsbrüchen nicht erfolgreich wehren kann und in Gefahr gerät, verhaftet zu werden, findet keinen anderen Ausweg, als den der Flucht, umso mehr, als inzwischen bekannt wurde, dass Kollegen, die diesen Weg bereits gegangen sind, vielfach in der Bundesrepublik in gut bezahlten Stellungen in der Maschinenindustrie, in chemischen Werken, im Bergbau und in der Bauwirtschaft ein auskömmliches Leben ohne Bedrängnis führen.«
Damit »sich niemand in Gefahr bringt, wenn er selbst Kontakte in Westdeutschland anknüpft« bietet der UfJ seine »Hilfe« an, indem er darauf hinweist, »die Beratungsstelle für die technischen Intelligenz des UfJ in Anspruch zu nehmen, wo geholfen und der bestmöglichste Weg gefunden werden soll.«
9.) Mit einem anderen Flugblatt wendet sich der UfJ an das Handwerk und den privaten Einzelhandel in der DDR und hetzt sie auf, Folgendes zu fordern:
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»die als Schulung bezeichnete Anleitung der Angestellten des staatlichen und genossenschaftlichen Handels zur Beschränkung und letztlich zur Liquidierung des Privathandels sofort einzustellen –
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das Schulungsheft ›Was geschah in der Verkaufsstelle 308?‹22 vom Ministerium für Handel und Versorgung zurückzuziehen und entsprechend zu berichtigen.«
10.) Die KgU verschickt auf dem Postwege an die Bürger der DDR Hetzbriefe gegen das Ungarn-Hilfskomitee in Lietzow, [Kreis] Rügen. Einleitend wird in verfälschter und verleumderischer Form zu den Ereignissen in Ungarn Stellung genommen. Wörtlich heißt es dazu u. a.: »Nicht die Aufrechten und Guten werdet ihr unterstützen in eurem Hilfskomitee für Ungarn, sondern nur die Verräter und Unterdrücker eines freiheitlichen Volkes …« Abschließend wird dann weiter gegen die Sowjetunion und gegen die Spendenaktion für Ungarn gehetzt.