Probleme der Energieversorgung (2)
20. November 1956
Information Nr. 349/56 – Betrifft: Energieversorgung (2. Bericht)
Zur Lage in der Energieversorgung wurde Folgendes festgestellt: Zurzeit werden bei einer vorhandenen fahrbaren Leistung von 5 308 MW im Durchschnitt 4 380 MW = 83 % ausgefahren. Bis Jahresende werden voraussichtlich 4 700 MW Leistung gefahren, was eine Ausnutzung von 90 % beträgt [sic!]. Trotz dieser Leistung und der im Energieprogramm mit Überhängen vom Jahre 1955 ans Netz gebrachten 300 MW treten in der Spitzenzeit noch große Schwierigkeiten in der Belieferung auf. Es fehlen in der Spitzenzeit ca. 300 MW. Vor allen Dingen ist festzustellen, dass der Anstieg bei den nicht kontingentierten Verbrauchern (Haushalte und Kleinstverbraucher) – wie schon im letzten Bericht gemeldet – stark zugenommen hat und 600 MW beträgt. Demnach wird der Zuwachs des Energieprogramms voll durch die nicht kontingentierten Verbraucher benötigt. Aufgrund des Ansteigens der nicht kontingentierten Verbraucher mussten im Oktober und November von den Kontingenten 100 MW abgeschaltet werden. Trotzdem fehlen noch 245 MW. Die Kürzung der Kontingente erfolgte:
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40 MW bei der Chemie,
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48 MW bei der Kohle-Energie,
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20 MW bei der Metallurgie
und der Rest beim Maschinenbau und bei der Leichtindustrie.
Vonseiten der HV Energie wurden sämtliche Energieerzeuger bis zu den Kleinsterzeugern von 100 KW unter Kontrolle genommen. Dadurch hat die HV Energie jetzt einen Überblick über 2 000 Kraftwerke und kann jederzeit sehen, wo subjektive Schwierigkeiten vorhanden sind.
Eine wesentliche Ursache der ungenügenden Energieversorgung ist die Nichterfüllung des Energiebauprogramms. So sieht im Ministerium für Schwermaschinenbau, HV Energiemaschinenbau, die Planerfüllung für das Jahr 1956 bis 30.9.1956 wie folgt aus:
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Dampfkessel 70,0 %
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Dampfturbinen 69,4 %
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Generatoren 63,0 %.
Voraussichtlich wird die Bruttoproduktion dieser HV 1956 mit 91 % erfüllt. Das bedeutet eine Untererfüllung von ca. 36,3 Mio. DM. Als Ursache für die Nichterfüllung des Planes wird Materialmangel angegeben. So fehlen z. B. 13 000 t Walzmaterial, 200 t Schmiedestücke, 800 t Stahlguss, 170 t Grauguss und 25 000 Stück Wälzlager.
Die Erfüllung im Energieprogramm ist:
Probebetriebe: Soll: 380,26 MW – Ist: 224,85 MW = 59 %
Dauerbetriebe: Soll: 393,20 MW – Ist: 361,40 MW = 92 %
In den vergangenen Jahren war die Energielage immer äußerst stark angespannt, sodass die Aggregate voll ausgelastet wurden. Dadurch mussten die Generalreparaturen vernachlässigt werden, was zur Folge hat, dass ein großer Teil der Anlagen störungsanfällig ist. Diese Situation wird sich nach der bisher geplanten Entwicklung der Energie auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Die Elektroenergieerzeugung wird 1956 bis 1960 statt der geplanten Produktion von 153 % nur 146,2 % erreichen. Nur durch erhöhte Anstrengungen und besondere Maßnahmen wird es möglich sein, 1960 42 Mrd. kWh zu erzeugen, das sind 3,8 Mrd. kWh unter der geplanten und 6 Mrd. unter der benötigten Energiemenge.
Auswirkungen
Infolge der Disproportion zwischen Energiebedarf und Erzeugung, der Verzögerung im Energieprogramm und des ungeheuren Anwachsens der Energieentnahme durch die nicht kontingentierten Verbraucher treten in den Spitzenzeiten Versorgungsschwierigkeiten auf, die nur durch Abschaltungen behoben werden können.
Infolge der Abschaltungen der Industrie in den Spitzenzeiten treten große Produktionsschwierigkeiten in sämtlichen Industriezweigen auf, was zur Unzufriedenheit der Arbeiter führt. So hat allein die HV Lok- und Waggonbau durch Abschaltung in der Morgenspitzenbelastungszeit am 7.11. und 8.11. und der Abendspitzenzeit am 7.11. einen Ausfall von 6 797 Arbeitsstunden, was einen Lohnausfall von 19 805 DM ausmacht. In dem Werk Bautzen entstand dadurch ein Produktionsausfall von 35 % und in Zittau von 20 %. In der HV Automobilbau zeigt sich folgende Situation:
[Betrieb] | Arbeitskräfte | Arbeitsausfall Std. | Lohn pro Tag | Produktionsausfall pro Tag |
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VEB Horch1 | 1 150 | 3 500 | 10 TDM | 84 TDM |
VEB AWZ (Audi) | 541 | 1 124 | 2,5 TDM | 75 TDM |
VEB Elite Diamant2 | 758 | 1 128 | –- | 60–70 TDM |
VEB EMW Eisenach | 300 | 18 000 | 42 TDM | 300 TDM |
In der Leichtindustrie beträgt durchschnittlich eine Absenkung in der Abendspitzenbelastungszeit 51 % und in der örtlichen und Privatindustrie um 59 %.
Im VEB Press-und Stanzwerke Raguhn, [Kreis] Bitterfeld, [Bezirk] Halle, sind am 7.11.1956 durch Stromeinschränkungen 1 400 Arbeitsstunden ausgefallen, das sind 2 400 DM Lohnsumme, die gezahlt werden müssen. Der Produktionsausfall beträgt 10 %. Die Energieversorgung in der Textilindustrie des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wirkt sich so aus, dass gegenwärtig täglich 20 t Stoff weniger produziert werden. Im VEB Deutsche Kugellagerfabrik Leipzig gibt es durch die Energiesituation Unzufriedenheit und es werden von den Arbeitern Forderungen laut, auf der Straße zu demonstrieren. Im VEB Vereinigte Grobgarnwerke Kirschau, [Bezirk] Dresden, ist der Parteisekretär nicht mehr in der Lage, mit den Arbeitern über die Notwendigkeit der Stromabschaltungen zu diskutieren. Unter den Arbeitern wurden bereits Diskussionen geführt, die zu einer Arbeitsniederlegung aufforderten. Sie sind der Meinung, dass sich sonst in dieser Frage nichts ändert.
Unter einem großen Teil von Produktionsarbeitern der verschiedensten Industriezweige bestehen Unzufriedenheiten, da sie durch den Stromausfall Wartestunden schreiben müssen und dadurch eine Lohneinbuße eintritt. So z. B. in folgenden Betrieben:
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LEW Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam,
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Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam,
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RAW Potsdam,
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Lokomotivbau »Karl Marx« Potsdam-Babelsberg,
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Stahl- und Walzwerk Brandenburg, [Bezirk] Potsdam,
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Thälmann-Werft Brandenburg, [Bezirk] Potsdam,
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Tuchfabrik Cottbus,
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Sachsenwerk Niedersedlitz, [Bezirk] Dresden,
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Messgerätewerk Zwönitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt,
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Warnow-Werft Warnemünde, [Bezirk] Rostock,
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Waggonbau Bautzen, [Bezirk] Dresden,
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Wälzlager Fraureuth, [Kreis] Werdau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt.