Republikflucht auf dem Lande
31. August 1956
Information Nr. 181/56 – Betrifft: Die Republikflucht auf dem Lande
I. Allgemeine Situation und zahlenmäßige Übersicht
Die Republikflucht unter der Landbevölkerung – besonders unter den Bauern – vollzieht sich unter anderen Verhältnissen als in der Industrie. Sie konzentriert sich besonders auf die Gebiete der DDR, in denen vor 1945 das Junkertum herrschte, sowie auf die Bezirke, in denen nach 1945 bei der Durchführung der Bodenreform mit der Landverteilung in starkem Maße Umsiedler sesshaft geworden sind. Die ehemaligen Gutsbesitzer versuchen von Westdeutschland her unter einem Teil der Landbevölkerung ihren schädlichen Einfluss geltend zu machen, der nicht selten auch die Ursache bei einer Anzahl von Verbrechen auf dem Lande war. Die ehemaligen Umsiedler haben zahlreiche Verbindungen zu Verwandten und Bekannten und zu den sogenannten »Landsmannschaften« und »Vertriebenenverbänden« in Westdeutschland und Westberlin. Beide Faktoren wirken sich auf die Republikflucht in entscheidendem Maße aus.
In diesem Zusammenhang ist ein Artikel erwähnenswert, der vom »Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen« in einer Broschüre unter dem Titel »Bauern auf der Flucht« veröffentlicht wurde und in dem die ganze Unterwürfigkeit eines Menschen zum Ausdruck kommt. In dem Artikel, der die Aussagen eines republikflüchtigen Neubauern vor dem »Bundesnotaufnahmeverfahren«1 schildert, heißt es: »Ein Neusiedler saß vor uns und trug seine Fluchtgründe vor. Es war ein alter Gärtner. In seinem Auftreten merkte man den ehemaligen Herrschaftsdiener. Bei der Bodenreform hatte er sich ein Stück Land vom Gut seines Herrn geben lassen und war geblieben, weil sein Herr nicht bleiben konnte. Und nun sammelte er alle Erinnerungen und baute aus den Splittern einer gebrochenen Welt das Heiligtum der guten alten Zeit. Er musste im Verborgenen bleiben. Das Misstrauen der SED-Gewaltigen war schon lange wach gegen ihn. Und doch wussten es die meisten im Dorfe und kamen, um sich Rat zu holen, wie sie sich bei ihrem Herrn Rat geholt hatten. Er war der Verweser eines Herrn und versuchte ihre Schwierigkeiten mit den Parteistellen und Behörden aus dem Weg zu räumen. Er war der alte Diener seines Herrn, der sich bemühte, so zu handeln, wie sein Herr gehandelt hätte. Das Dorf war leergeworden von seinen Vertrauten und nun floh auch er …«2
Der Beweis für die Republikfluchten durch Verbindungen nach Westberlin oder Westdeutschland wurde bei einer Untersuchung der Ursachen und Gründe im Bezirk Neubrandenburg erbracht. Dort wurden innerhalb einer Woche 42 Verbindungen festgestellt, die Beeinflussung zur Republikflucht enthielten. Davon waren allein in 28 Fällen die Bürger der DDR mit denen in Westdeutschland und Westberlin ersten oder zweiten Grades verwandt. Fast alle Verbindungen enthielten die direkte Aufforderung, nicht länger in der DDR zu bleiben und schnellstens nach dem Westen zu kommen, wo vielfach eine Wohnung und Arbeit mit guter Bezahlung in Aussicht gestellt wurde. Weiterhin war bekannt geworden, dass eine Anzahl von Personen bereits im Juni 1956 eine Einladung für ein Treffen der »Landsmannschaft der Mecklenburger« erhalten hatte, welches Anfang September in Bremen stattfinden soll.
Die Ursache für die Republikflucht von Jugendlichen im Bezirk Neubrandenburg wird besonders darin gesehen, dass es nicht möglich ist, 1956 ca. 600 Jugendlichen eine Lehrstelle zu vermitteln, da in diesem Bezirk nur wenig Industriebetriebe vorhanden sind und diese Jugendlichen kein Interesse für die Arbeit in der Landwirtschaft zeigen.
Neben Angst vor einer Bestrafung bei kriminellen Vergehen sowie Verärgerung durch bürokratische Arbeitsweisen der örtlichen Verwaltungsorgane, feindliche Einstellung zur DDR und vermutliche Abwerbung, wurden Sollrückstände, Schulden, Wirtschaftsschwierigkeiten, persönliche und familiäre Gründe und Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte in Westberlin und Westdeutschland als die Hauptursachen für die Mehrzahl der Republikfluchten angegeben.
Z. B. wurden im April 1956 aus dem Bezirk Dresden 38 Bauernfamilien mit ca. 50 Personen republikflüchtig. Die dafür angegebenen Ursachen gliedern sich in:
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15: Sollrückstände, Schulden und wirtschaftliche Schwierigkeiten,
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acht: persönliche und familiäre Gründe,
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sechs: Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte,
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zwei: Angst vor Bestrafung,
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eine: schlechte Arbeit der Verwaltungsorgane,
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eine: negative Einstellung gegen die DDR,
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eine: vermutliche Abwerbung,
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vier: unbekannt.
Im Monat Juni 1956 wurden aus dem Bezirk Potsdam ebenfalls 38 Republikfluchten gemeldet, deren Gründe und Ursachen sich wie folgt zusammensetzen:
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elf: Sollrückstände, wirtschaftliche Gründe und Steuerschulden,
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sieben: Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte,
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sieben: persönliche und familiäre Gründe,
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sechs: Angst vor Strafe und kriminelle Vergehen,
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zwei: vermutliche Abwerbung,
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eine: feindliche Einstellung zur DDR,
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vier: unbekannt.
Es gibt auch Erscheinungen, wo die Republikflucht als Methode zur Erlangung von Vorteilen oder zur Durchsetzung unberechtigter Forderungen angewendet wird. Diese Fälle sind jedoch selten. So wurde z. B. aus dem Kreis Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, mitgeteilt, dass der ehemalige Neubauer [Name 1] aus Gröningen, [Kreis] Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, versuchte, seine Neubauernstelle abzugeben und die Konzession als Gastwirt zu erlangen. Da dies nicht genehmigt wurde, ging er ca. fünf Monate nach Westdeutschland. Bei seiner Rückkehr erhielt er die Konzession als Gastwirt und außerdem einen Kredit.
Als Schwerpunkte für die Republikflucht unter den Bauern sind die Bezirke Neubrandenburg, Magdeburg, Rostock, Potsdam und Schwerin zu betrachten, wo die Republikflucht besonders stark in Erscheinung tritt.
Nachfolgende Zahlenübersicht soll die Republikflucht der Monate Januar bis Juni 1955 in der Gegenüberstellung zu dem gleichen Zeitraum im Jahre 1956 veranschaulichen. Die Zahlen wurden den statistischen Berichtsbögen der HVDVP entnommen.
[Tabelle für 1955]1955 | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Gesamt |
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Großbauern | 19 | 16 | 11 | 28 | 28 | 28 | 130 |
Mittelauern | 55 | 38 | 60 | 50 | 77 | 77 | 357 |
Kleinbauern | 59 | 67 | 80 | 135 | 135 | 104 | 580 |
Neubauern | Zahlen liegen nicht vor!3 | Zahlen liegen nicht vor! | Zahlen liegen nicht vor! | Zahlen liegen nicht vor! | Zahlen liegen nicht vor! | Zahlen liegen nicht vor! | Zahlen liegen nicht vor! |
LPG-Mitglieder | 126 | 114 | 162 | 164 | 172 | 187 | 925 |
Gesamt | 259 | 235 | 3134 | 377 | 4125 | 3966 | 1 992 |
1956 | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Gesamt |
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Großbauern | 40 | 45 | 31 | 34 | 51 | 39 | 240 |
Mittelauern | 75 | 79 | 94 | 152 | 97 | 110 | 607 |
Kleinbauern | 145 | 167 | 147 | 277 | 163 | 66 | 965 |
Neubauern | 124 | 133 | 120 | 175 | 124 | 80 | 756 |
LPG-Mitglieder | 151 | 144 | 170 | 216 | 162 | 192 | 1 035 |
Gesamt | 535 | 568 | 562 | 854 | 597 | 487 | 3 603 |
Die Zahlen der HVDVP wiesen somit im I. Halbjahr 1956 eine Steigerung der Republikflucht unter den Bauern auf 181 % gegenüber dem 1. Halbjahr 1955 aus.
Zahlenmäßige Übersicht über die Republikflucht der Bauern in den Schwerpunktbezirken in den Monaten Januar bis Juni 1956
[Januar bis Juni 1956 Bezirk Neubrandenburg]Bezirk | Groß-bauern | Mittel-bauern | Klein-bauern | Neu-bauern | LPG-Mitglieder | Gesamt | Monat |
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Neubrandenburg | 2 | 13 | 50 | 2 | 6 | 73 | Januar |
[Neubrandenburg] | 5 | 4 | 47 | 2 | 19 | 77 | Februar |
[Neubrandenburg] | 2 | 5 | 52 | – | 27 | 86 | März |
[Neubrandenburg] | 2 | 16 | 83 | 9 | 22 | 132 | April |
[Neubrandenburg] | 12 | 4 | 51 | – | 16 | 83 | Mai |
[Neubrandenburg] | 2 | 9 | 48 | – | 7 | 66 | Juni |
Gesamt | 25 | 51 | 331 | 13 | 97 | 517 | I. Halbj. |
Magdeburg | 5 | 9 | 6 | 19 | 30 | 69 | Januar |
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[Magdeburg] | 4 | 9 | 14 | 9 | 19 | 55 | Februar |
[Magdeburg] | 3 | 11 | 13 | 24 | 52 | 103 | März |
[Magdeburg] | 6 | 10 | 28 | 32 | 39 | 115 | April |
[Magdeburg] | 9 | 8 | 12 | 12 | 20 | 61 | Mai |
[Magdeburg] | 5 | 10 | 11 | 13 | 42 | 81 | Juni |
Gesamt | 32 | 57 | 84 | 109 | 202 | 484 | I. Halbj. |
Rostock | 5 | 9 | 20 | 42 | 25 | 101 | Januar |
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[Rostock] | 2 | 5 | 20 | 27 | 21 | 75 | Februar |
[Rostock] | 1 | 4 | 24 | 22 | 15 | 66 | März |
[Rostock] | 2 | 8 | 28 | 34 | 24 | 96 | April |
[Rostock] | – | 6 | 9 | 27 | 24 | 66 | Mai |
[Rostock] | 3 | 11 | 17 | 11 | 19 | 61 | Juni |
Gesamt | 13 | 43 | 118 | 163 | 128 | 465 | I. Halbj. |
Potsdam | 3 | 6 | 18 | 10 | 26 | 63 | Januar |
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[Potsdam] | 2 | 8 | 9 | 16 | 18 | 53 | Februar |
[Potsdam] | 3 | 7 | 8 | 22 | 18 | 58 | März |
[Potsdam] | 5 | 12 | 22 | 38 | 43 | 120 | April |
[Potsdam] | 3 | 17 | 10 | 26 | 24 | 80 | Mai |
[Potsdam] | 5 | 5 | 11 | 17 | 30 | 68 | Juni |
Gesamt | 21 | 55 | 78 | 129 | 159 | 442 | I. Halbj. |
Schwerin | 6 | 4 | 15 | 12 | 6 | 43 | Januar |
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[Schwerin] | 8 | 5 | 32 | 16 | 17 | 78 | Februar |
[Schwerin] | 11 | 3 | 9 | 13 | 5 | 41 | März |
[Schwerin] | 4 | 12 | 33 | 22 | 16 | 87 | April |
[Schwerin] | 8 | 10 | 20 | 15 | 8 | 61 | Mai |
[Schwerin] | 4 | 9 | 17 | 12 | 25 | 67 | Juni |
Gesamt | 417 | 43 | 126 | 90 | 77 | 377 | I. Halbj. |
II. Ursachen der Republikflucht
Die Ursachen der Republikflucht unter den Bauern sind vielfältig und müssen individuell betrachtet werden. Wie bereits angeführt, werden sie in Sollschwierigkeiten, Schulden, wirtschaftlichen und familiären Gründen, Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte in Westdeutschland und Westberlin usw. angegeben. Republikfluchten durch direkte Abwerbung oder aus einer feindlichen Haltung gegenüber der DDR sind selten oder können nicht erwiesen werden. Von 74 im April 1956 gemeldeten Republikfluchten aus dem Bezirk Rostock, von denen allerdings 51 aus Vormonaten waren und erst zu einem späteren Zeitpunkt bekannt wurden, erfolgte die Mehrzahl aus wirtschaftlichen und familiären Gründen.
Entscheidend wird der Gedanke zur Republikflucht auch durch die Stimmung genährt. Z. B. fand in der Gemeinde Steckby, [Kreis] Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, nach erfolgter Streichung der Sollrückstände bei über 20 % Schaden durch Hochwasser eine Bauernversammlung statt. Auf dieser Versammlung erklärten fünf werktätige Bauern, dass sie mit einer Sollfestlegung überhaupt nicht einverstanden wären und sich absetzen würden, wenn keine Streichung der übrigen Sollrückstände erfolgt.
Aus dem Bezirk Magdeburg wird weiter berichtet, dass unter den Bauern große Unzufriedenheit herrscht, die trotz mehr als 20%igen Wasserschaden ihr Soll für 1955 durch Zukauf von Hülsenfrüchten usw. oder auf Kosten des Viehbestandes erfüllt haben. Davon sind in der Gemeinde Kloster Gröningen, [Bezirk] Magdeburg, ca. 20 werktätige Bauern und die LPG »Morgenrot« betroffen. Die werktätigen Bauern [Name 2] und [Name 3], die auf diese Art ihre Sollrückstände abdeckten, erhielten nach einer Verordnung des Rates des Bezirkes keine Sollabsetzung. Sie sind höchst unzufrieden darüber, dass der Großbauer [Name 4], der nie sein Soll erfüllt, 200 Doppelzentner Sollabstreichung erhielt. Sie äußerten darüber: »… Diese Faulpelze kriegen alles erlassen und wir werden dafür bestraft …«
Am 14.7.1956 kam es bei einer Bauernversammlung in Lübars, [Kreis] Loburg, [Bezirk] Magdeburg, zu negativen Äußerungen. Die Bauern [Name 5] und [Name 6] sagten zu den ca. 80 Anwesenden, dass sie republikflüchtig würden, wenn ihre Forderung auf Streichung der Sollrückstände unberücksichtigt bliebe. Der werktätige Bauer [Name 7] erklärte hierzu, dass alle Bauern in der DDR hungern müssten und deshalb nach dem Westen gehen, weil sie dort besser leben könnten. Diese Äußerung wurde von den Bauern mit Beifall aufgenommen.
Aus Potsdam wurde mitgeteilt, dass in Zachow, Kreis Nauen, ein Gerücht im Umlauf ist, wonach jeder werktätige Bauer, der sich vor der Ernte nach dem Westen absetzt, in Westberlin 2 000 Westmark Entschädigung erhält. (Die Quelle des Gerüchts konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.)
a) Vermutliche Abwerbung
Konkrete Beispiele für die Republikflucht durch Abwerbung sind in den seltensten Fällen vorhanden, sodass diese zumeist nur vermutet werden können. Besonders müssen dabei verwandtschaftliche Bindungen ersten und zweiten Grades in Betracht bezogen werden, die oft Republikfluchten aus Gründen der Familienzusammenführung zur Folge haben. Individuell betrachtet können diese Republikfluchten nicht als Abwerbung angesehen werden, obwohl sie sich vielfach unter denselben Merkmalen vollziehen.
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Der ehemalige Bürgermeister und Instrukteur Räth8 aus der Gemeinde Dossow, [Kreis] Wittstock, [Bezirk] Potsdam, war vor 1945 bei dem Gutsbesitzer Grätz beschäftigt. 1955 wurde er wegen laufenden übermäßigen Alkoholgenusses seiner Funktion enthoben und setzte sich nach dem Westen ab. Es wurde bekannt, dass R. in Westdeutschland bei dem früheren Gutsbesitzer G. arbeitet und in dessen Auftrag Personen nach Westdeutschland abzieht, die früher ebenfalls bei ihm beschäftigt waren.
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Aus Neustrelitz wurde berichtet, dass in starkem Maße die ehemaligen Gutsbesitzer und Unternehmer ihren Einfluss auf die Arbeiter und Bauern ausüben und diese zur Republikflucht veranlassen. Allein aus einer Gemeinde verließen sieben Familien mit insgesamt 25 Personen durch briefliche Aufforderung ihres ehemaligen Arbeitgebers die DDR und sind heute bei ihnen in Westdeutschland tätig.
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Im April 1956 verließen drei Familien mit insgesamt 16 Personen aus Neu Boltenhagen, [Kreis] Greifswald, [Bezirk] Rostock, die DDR: Die Personen waren Mitglieder einer »Baptistengemeinschaft«9 und hielten jeden Sonnabend in ihren Wohnungen Zusammenkünfte ab. Es ist anzunehmen, dass diese Personen im Zusammenhang mit ihrem Glaubensbekenntnis zur Republikflucht aufgefordert wurden.
b) Republikflucht durch Beeinflussung von Verwandten und Bekannten
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Der Sohn des LPG-Mitgliedes [Name 8], von der LPG Garlitz, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, hat in Westdeutschland eine Landwirtschaft. Er beeinflusste seine Eltern laufend, sodass diese republikflüchtig wurden.
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Die gleiche Ursache trifft zu für den LPG-Bauern [Name 9] von der LPG Penzlin, [Kreis] Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, und für eine LPG-Bäuerin aus Pessin, [Kreis] Nauen, [Bezirk] Potsdam.
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Der Werkstattleiter [Name 10] von der MTS Kuhlrade, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, unterlag durch ständigen Briefverkehr mit seinen Verwandten in Westdeutschland und mit dem republikflüchtigen ehemaligen Betriebsleiter der MTS deren Beeinflussung. [Name 10] setzte sich nach Westdeutschland ab.
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Der werktätige Bauer [Name 11] aus Semlow, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, stand mit einem Republikflüchtigen in Briefwechsel und war dadurch stark für den Westen eingenommen. Er trat in die LPG ein, um dadurch seine Sollrückstände loszuwerden und wurde republikflüchtig, nachdem er sein Vieh und seine Geräte verkauft hatte.
c) Sollrückstände, Schulden und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Ursache für die Republikflucht
Beim überwiegenden Teil der Republikfluchten unter den Bauern werden Sollrückstände, Schulden und sonstige wirtschaftliche Schwierigkeiten als Ursache angegeben. Obwohl das in vielen Fällen zutreffen mag, gibt es auch zweifellos eine Anzahl Bauern, die auf die Hilfe des Staates rechnen und ihre Wirtschaften aus Unfähigkeit und mangelnden landwirtschaftlichen Kenntnissen zum Erliegen bringen.
In diesem Zusammenhang erklärte der werktätige Bauer [Name 12] aus Voßhagen, [Kreis] Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg: »… den Bauern in der DDR geht es nicht schlecht und viele sind sogar zu einem Wohlstand gekommen. Die Regierung hat jedoch einen Fehler gemacht, der sich heute erst auswirkt, indem sie nach 1945 an eine Anzahl von Menschen Boden vergeben hat, die von der Landwirtschaft keine Ahnung haben und ihre Wirtschaften verloddern lassen. Wenn sie dann nicht weiterkommen, geben sie ihre Wirtschaften ab oder werden republikflüchtig.«
Der Neubauer [Name 13] aus Tautendorf, [Kreis] Döbeln, [Bezirk] Leipzig, hatte die Felder seiner Neubauernstelle schlecht bestellt und verunkrauten lassen. Viehfutter war ebenfalls in nur geringem Maße vorhanden und die ganze Wirtschaft wies Schäden auf. Dies gab [Name 13] Anlass zur Republikflucht.
Der werktätige Bauer [Name 14] aus Breezen,10 [Kreis] Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, war nicht in der Lage seine Wirtschaft ordentlich zu führen. Er wollte deshalb seine Wirtschaft an den ÖLB übergeben,11 wo er mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern mitarbeiten wollte. Von der Abteilung Landwirtschaft wurde ihm mitgeteilt, dass er seine Wirtschaft weiterführen muss, worauf er mit seiner Frau republikflüchtig wurde. Das Gehöft wurde dem ÖLB übergeben. Die Töchter nahmen daraufhin bei einem Bauern im Kreis Anklam Arbeit auf und gingen dem ÖLB als Arbeitskräfte verloren.
Die Neubauern [Name 15] aus Karstädt, [Kreis] Ludwigslust, und [Name 16] aus Gadebusch, beide im Bezirk Schwerin, stellten an den Rat des Kreises den Antrag um Abnahme ihrer Wirtschaften, da sie diese aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr bearbeiten konnten. Diese Anträge wurden abgelehnt, worauf die beiden Neubauern republikflüchtig wurden.
Der Mittelbauer [Name 17] aus Groß Molzahn, [Kreis] Gadebusch, [Bezirk] Schwerin, teilte aus dem Flüchtlingslager in Berlin-Lichtenrade mit,12 dass die Ursachen seiner Republikflucht in der Ablieferung zu suchen sei. In seinem Brief heißt es: »… ich wurde ständig gequält meine Arbeit von der MTS ausführen zu lassen. Dauernd wurde mein Viehbestand und mein Getreide kontrolliert. Ich musste immer die Augen zumachen, wenn der Bürgermeister meinen Stall betrat. Dabei hatte ich voriges Jahr einen schlechten Roggen und sollte das ganze Soll aufbringen …«
Die Tochter einer Bäuerin aus dem Kreis Gera schreibt: »… Mutti war gesundheitlich nicht auf der Höhe und die viele Arbeit häufte sich nur so an. Das Vieh wollte besorgt sein, das Feld, der Garten, der Hof und keine Hilfe dazu. Man hat der Mutti sogar gedroht, dass sie eingesperrt wird, wenn sie nicht dafür sorgt, dass das Feld richtig bestellt wird. Weil es aber nicht mehr zu schaffen war und wir schon viel Trauriges erlebt haben, mussten Mutti und [Vorname] schleunigst fort …«
d) Republikflucht aus persönlichen und familiären Gründen
Bei einer Anzahl von Republikfluchten werden persönliche und familiäre Gründe wie Verärgerung, Ehestreitigkeiten usw. als Ursache angegeben.
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Z. B. besuchte ein Mitglied der LPG Steinhagen, [Bezirk] Schwerin, einen längeren Brigadier-Lehrgang. Obwohl er diesen Lehrgang mit »gut« abgeschlossen hatte, wurde er nicht als Brigadier eingesetzt, worauf er aus Verärgerung die DDR verließ.
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In Neppermin, [Kreis] Wolgast, [Bezirk] Rostock, wurde der Traktorist [Name 18] mit seiner Familie vom Bürgermeister zwangsweise aus seiner Wohnung gewiesen und sollte mit seiner Frau und seiner Tochter zum Schwiegervater ziehen, obwohl dieser nur eine 2-Zimmer-Wohnung besaß. [Name 18] verließ daraufhin mit seiner Familie die DDR.
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Der werktätige Bauer [Name 19] aus Garlewitz, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, stand sich wirtschaftlich sehr gut. Er unterhielt jedoch ein Verhältnis zu einer Frau, die von ihm ein Kind erwartete. Er ging mit seiner Familie illegal nach Westdeutschland, um dadurch dem Gerede im Ort zu entgehen.
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Der Schweizer13 »[Name 20]«14 von der LPG Marlow, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, war Mitglied der CDU und nahm am gesellschaftlichen Leben aktiven Anteil. Er verließ die DDR wegen Familienstreitigkeiten.
e) Republikflucht aus Angst vor Strafe
In mehreren Fällen sind strafbare Handlungen die Ursache für die Republikflucht, um sich dadurch einer eventuellen Bestrafung oder Inhaftierung zu entziehen.
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Z. B. setzte sich der Vorsitzende der LPG Rochau, [Kreis] Stendal, [Bezirk] Magdeburg, nach dem Westen ab, da ihm eine schlechte Wirtschaftsführung nachgewiesen wurde. Gegen ihn und den Buchhalter der LPG wurde ein Strafverfahren wegen Schiebereien mit Heu und Getreide eingeleitet, dem er sich durch die Republikflucht entziehen wollte.
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Von der LPG Dossow, [Kreis] Wittstock, [Bezirk] Potsdam, wurde der [Name 21, Vorname] aus Angst vor einer Verhaftung republikflüchtig. Im April 1956 wurden in einem Sack mit Futtergetreide Hetzschriften gefunden, die [Name 21] selbst gelegt hatte, um sich als »Finder« damit zu brüsten.
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In Seedorf, [Kreis] Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, wurden sechs LPG-Mitglieder durch das diktatorische Verhalten des LPG-Vorsitzenden republikflüchtig. Der LPG-Vorsitzende Spickermann (SED) drohte jedem mit Staatssicherheit, VP und Staatsanwalt, der seine »Anweisungen« nicht befolgte. Sein Verhalten richtete sich besonders gegen Nichtmitglieder der LPG, die Wohnraum der LPG bewohnten. Ihnen stellte er kurzfristig Räumungstermine und drohte mit weiteren Maßnahmen, falls seine Anordnungen nicht befolgt würden.
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Ein werktätiger Bauer aus dem Kreis Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde zu einer Aussprache über seine schlechte Wirtschaftsführung zum VPKA, Abteilung »K«,15 vorgeladen, obwohl derartige Aussprachen nicht zum Aufgabenbereich der VP gehören. Der Betreffende fürchtete eine Bestrafung und wurde republikflüchtig.
f) Republikflucht durch bürokratische und formale Arbeitsweise der Verwaltungsorgane in den Bezirken und Kreisen
Vielfach wird über die zum Teil noch sehr bürokratische und formale Arbeitsweise der unteren Organe Klage geführt, die nach vorliegenden Berichten noch stark verbreitet ist und zur Republikflucht führt.
Der werktätige Bauer [Name 22] aus Poppentin,16 [Kreis] Röbel, [Bezirk] Neubrandenburg, hatte in seinem Acker große Wasserstellen, die er nicht bebauen konnte. Trotzdem war diese Fläche in seinem Soll veranlagt. Mehrere Anträge, das Soll dementsprechend herabzusetzen, wurden vom Rat des Kreises Röbel nicht berücksichtigt. Um dem ständigen Druck durch den Rat des Kreises Röbel über seine bestehenden Ablieferungspflichten zu entgehen, verließ er illegal die DDR. Nach seiner Republikflucht übernahm ein anderer Bauer seine Wirtschaft mit einem sofortigen Sollerlass von 75 %.
Dem Mittelbauer [Name 23] aus dem Kreis Pasewalk war durch Erbschaftsteilung die Futtergrundlage für sein Vieh verloren gegangen. Aus diesem Grunde stellte er den Antrag um Aufnahme in die LPG, welcher vom Rat des Kreises abgelehnt wurde, obwohl [Name 23] als ein vorbildlicher Bauer bekannt war. [Name 23] setzte sich deshalb nach dem Westen ab und übersandte der LPG von Westberlin eine beglaubigte Bescheinigung, wonach er der LPG seine Wirtschaft kostenlos überlässt.
Vom Rat des Kreises Angermünde erhielten 15 Bauern ohne Wissen des Vorsitzenden des Rates des Kreises ein Schreiben wegen ihrer Ablieferungsrückstände mit folgendem Inhalt:
»Aufforderung! | Wie wir feststellen mussten, haben Sie in der Pflichtablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse erhebliche Ablieferungsschulden an den Staat aufzuweisen. Durch diese Ablieferungsschulden haben Sie dazu beigetragen, dass der Kreis Angermünde nicht in voller Höhe seinen Lieferverpflichtungen nachkommen konnte. Wir verwarnen Sie daher und fordern Sie auf, bis zum 1. Juni 1956 folgende Mengen landwirtschaftlicher Erzeugnisse zur Ablieferung zu bringen: 934 kg Rind, 1 995 kg Schwein, 7 266 Milch, 3 700 Eier, 8 634 kg Getreide, 36 308 kg Kartoffeln, 712 kg Ölsaaten. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, sehen wir uns gezwungen Maßnahmen entsprechend § 62 der Verordnung vom 10.11.1955 gegen Sie einzuleiten.17 | gez. Abteilungsleiter.«
Daraufhin wurden drei werktätige Bauern republikflüchtig. Einer von ihnen schrieb an den Bürgermeister: »… Es ist uns ja schwergefallen von hier zu gehen, aber wir mussten ja gehen, da wir Angst hatten, man würde uns wegen dem Soll einsperren …«
Der Kleinbauer [Name 24] aus Kirchworbis, [Bezirk] Erfurt, besaß keine Anbaufrüchte und stellte einen Antrag auf Saatgut an den Rat des Kreises. Dort blieb der Antrag unbeantwortet in einer Schublade liegen. Der Kleinbauer [Name 24] setzte sich infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten nach dem Westen ab.
Aus dem Bezirk Dresden wurde mitgeteilt, dass im Kreis Niesky die eingeleiteten Maßnahmen zur Verhinderung der Republikflucht von den staatlichen Organen sehr bürokratisch durchgeführt werden. Z. B. wollte eine Landarbeiterin aus Gebelzig, [Kreis] Niesky, [Bezirk] Dresden, aus gesundheitlichen Gründen in einem anderen Beruf arbeiten. Da die Abteilung Landwirtschaft beim Rat des Kreises keine Freistellung erteilte, wurde sie republikflüchtig.
Verärgerung unter der Landbevölkerung
Der Beschluss der Regierung über die Streichung der Sollrückstände bei Hochwasserschäden und anderen Härten wird von den Bauern allgemein anerkannt.18 Er löst aber gleichzeitig in allen ländlichen Bezirken bei einer Anzahl Bauern große Unzufriedenheit und Missstimmung aus. Diese Bauern haben selbst unter größten Anstrengungen ihr Soll erfüllt und sind der Meinung, dass bei derartigen Sollstreichungen – besonders bei Kartoffelrückständen – die Ablieferungsmoral nicht gefördert, sondern dass damit den Spekulanten Tür und Tor geöffnet wird.
Die werktätige Bäuerin [Name 25] (SED) aus Lehmhagen, [Bezirk] Rostock, sagt hierzu Folgendes: »Wir haben im vergangenen Jahr unser Soll sofort abgeliefert, hatten für unsere Schweine kein Futter und für uns wenig zu essen. In diesem Jahr sind wir schlauer und werden erst an uns denken, sonst haben diejenigen wieder die Vorteile, die ihre Kartoffeln frei verkaufen und ihr Soll nicht erfüllen und wir haben die Nachteile.« Der Landwirt [Name 26] aus Dretzen, [Kreis] Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, erklärte: »Wenn es so ist, dass allen Bauern die Rückstände gestrichen werden, dann werden wir es in Zukunft auch so machen und nicht das Kartoffelsoll erfüllen; denn wir kommen besser weg, wenn wir die Kartoffeln den Schweinen geben.« Ähnliche Diskussionen werden von mehreren Bauern im Kreis Brandenburg geführt, die immer ihr Soll erfüllt haben.
Auch in der Gemeinde Königsaue, [Kreis] Aschersleben, [Bezirk] Halle, gibt es in dieser Form Unstimmigkeiten. Die Bauern, die bisher ihren Sollverpflichtungen in vorbildlicher Weise nachkamen, brachten in einer Diskussion zum Ausdruck, dass auch sie dieses Jahr weniger Wert auf eine termingemäße Ablieferung legen werden, da ja nächstes Jahr dieselbe Situation eintreten kann.
In der Gemeinde Crispendorf,19 [Kreis] Schleiz, [Bezirk] Gera, sind Diskussionen im Gange, dass es nicht richtig sei, denjenigen Bauern die Kartoffelrückstände zu erlassen, die in der letzten Zeit Schweine als freie Spitzen verkauft hätten.20 Die Bauern, die bisher ihr Ablieferungssoll ständig erfüllt haben, wollen im nächsten Jahr ihr Soll ebenfalls nicht erfüllen und sich dafür lieber Schweine mästen. Auch in den LPG werden solche Diskussionen geführt. Nach einer Meldung aus dem Kreis Stadtroda, [Bezirk] Gera, soll in der Gemeinde Bethenhausen21 unter den Bauern die Forderung nach »freier Wirtschaft« und Auflösung der LPG aufgetreten sein.
Ursachen der Republikflucht
In der Gemeinde Sassen, [Kreis] Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte der Vorsitzende der VdgB: »Die Republikfluchten in der Landwirtschaft sind darauf zurückzuführen, dass die Anbauplanung nicht korrekt ist. Ein werktätiger Bauer hat z. B. eine Hektarzahl Rüben zu bearbeiten, die er gar nicht schaffen kann. Von den höheren Institutionen wird aber auf Sauberhaltung und Bearbeitung gedrungen. In der Endkonsequenz weiß er schließlich keinen Ausweg mehr und setzt sich ab, um nicht mit den Behörden in Konflikt zu kommen.«