Republikflucht im September 1956
16. November 1956
Information Nr. 340/56 – Betrifft: Republikflucht im September 1956
I. Zahlenübersicht und Vergleichszahlen westlicher Registrierstellen
Zahlen der HVDVP:[Gruppe] | Juli [1956] | August [1956] | September [1956] |
---|---|---|---|
Männer | 8 890 | 10 301 | 12 744 |
Frauen | 9 966 | 11 602 | 14 322 |
Kinder | 3 907 | 4 757 | 5 760 |
Gesamt | 22 763 | 26 660 | 32 826 |
Zahlen westlicher Registrierstellen | 23 124 | 27 522 | 25 647 |
Die Zahlen der HVDVP weisen im September im Vergleich zu den Zahlen westlicher Registrierstellen eine erhebliche Differenz auf (7 179).
Soziale Aufgliederung in den wichtigsten Gruppen:[Gruppe] | Juli [1956] | August [1956] | September [1956] |
---|---|---|---|
Spezialarbeiter | 555 | 709 | 891 |
Bergarbeiter | 121 | 181 | 263 |
Arbeiter | 7 076 | 8 645 | 11 281 |
Angestellte | 3 391 | 3 651 | 4 288 |
Bauern (gesamt) | 397 | 400 | 307 |
Wissenschaftler | 1 | 6 | 3 |
Ingenieure | 105 | 126 | 141 |
Techniker | 19 | 25 | 18 |
Ärzte | 47 | 37 | 44 |
Lehrer (gesamt) | 65 | 169 | 249 |
Bei der Gesamtzahl der Bauern bilden die LPG-Mitglieder mit 142 Republikfluchten den Hauptanteil. In dieser Zahl sind 51 aus dem »Berichtsmonat« und 91 »aus Vormonaten« enthalten. In der Gesamtzahl der Lehrer mit 249 sind im September allein 200 Grundschullehrer enthalten. Davon 33 aus dem »Berichtsmonat« und 167 »aus Vormonaten«. Die Zahl der Ingenieure mit 141 Republikfluchten setzt sich ebenfalls aus 23 aus dem »Berichtsmonat« und 118 »aus Vormonaten« zusammen.
II. Allgemeine Lage in der Republikflucht
Nach der Statistik der HVDVP sind die Republikfluchten von 26 660 im August auf 32 826 im September angestiegen. Die Westpresse berichtet im gleichen Zeitraum von einem Rückgang der Republikfluchten von 27 522 im August auf 25 647 im September. Das sind 1 875 = 6,8 % weniger als im Vormonat.
Wenn man berücksichtigt, dass die Zahlen der HVDVP durch die Nachregistrierung »aus Vormonaten« ständig Differenzen unterworfen sind, so tritt das im September besonders krass in Erscheinung. Hierbei machen sich die Nachmeldungen aus der vergangenen Urlaubssaison besonders stark bemerkbar, sodass die Fluktuation nach dem Westen im September besonders hoch erscheint. Von den durch die HVDVP erfassten 32 826 Republikfluchten im September sind allein 26 196 »aus Vormonaten« nachregistriert worden. Das sind schon mehr, als die Gesamtzahl des Notaufnahmeverfahrens mit 25 647 beträgt.1
Bezeichnend für die Republikflucht der letzten Monate ist, dass der überwiegende Teil der flüchtigen Personen mit PM 12a zu Verwandten und Bekannten nach Westdeutschland in Urlaub fuhr.2 Die Hauptursache für den Verbleib dieser Menschen in Westdeutschland ist in der zzt. noch in Westdeutschland herrschenden Konjunktur und in der wirtschaftlichen Verblendung dieser Menschen zu suchen. Die damit zusammenhängende Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte in Westdeutschland wirkt sich durch das zurückgebliebene sozialistische Bewusstsein dieser Personen besonders nachhaltig auf die Republikflucht aus, die darüber hinaus durch Schwierigkeiten im beruflichen oder privaten Leben begünstigt wird.
Die Menschen erhoffen sich in Westdeutschland ein besseres Leben. Aber auch ehemalige Beamte spekulieren wegen dem in Westdeutschland bestehenden »131-er Gesetz« auf Pensionszahlung.3 Witwen und Rentner erwarten höhere Renten. Bei den Jugendlichen wird ein großer Teil aus »Abenteuerlust« republikflüchtig. Republikfluchten als Ausweg bei begangenen kriminellen Delikten oder wegen unmoralischem Verhalten, wie Entzug der Unterhaltspflicht für die Familie oder für uneheliche Kinder usw., sind verhältnismäßig gering.
Unter den Angestellten des Bundesnotaufnahmeverfahrens wird die Meinung vertreten, dass zu 97 % nicht von einer »Republikflucht« gesprochen werden kann, da »wirkliche Fluchtgründe« nur in den seltensten Fällen vorliegen. Wenn diese Personen hätten »flüchten« müssen, wäre ihnen niemals eine PM 12a ausgehändigt worden. Z. B. werden Besuchern aus der DDR in Westdeutschland Vergünstigungen aller Art, wie Freifahrtscheine für die Verkehrsmittel, Lebensmittelpakete und je nach dem Einkommen der Verwandten, bei denen sie wohnen, auch kostenlose Rückfahrt in die DDR usw. gewährt. Gleichzeitig wird in der Presse der Bedarf an Arbeitskräften in den verschiedenen Berufsgruppen propagiert.
Die vom Gegner angewendete Methode der Zusendung von Hetzschriften mit dem Charakter der Abwerbung ist seit Juni 1956 beträchtlich zurückgegangen. Im September wurden derartige Sendungen überhaupt nicht festgestellt.
III. Gründe und Ursachen der Republikflucht
a) Republikflucht durch Abwerbung
Die VE-Braunkohlenwerke in Völpke und Harbke,4 [Kreis] Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, liegen den »Braunschweiger Kohlenbergwerken« (BKB) direkt gegenüber. Im September wurden aus Harbke drei Jugendliche zum BKB republikflüchtig, nachdem eine westdeutsche Fußballmannschaft in Harbke war. Die Angehörigen dieser Mannschaft haben über »bessere soziale Verhältnisse« in den BKB berichtet, u. a. soll die 43-Stunden-Woche eingeführt worden sein und die Bezahlung sei ebenfalls höher als in der DDR.
Ein Ingenieur aus der Entwicklungsplanung des VEB Zeiss Jena besuchte im Urlaub seine Verwandten in Oberursel/Westdeutschland. Dort wurde er von einem Amerikaner angesprochen, der ihn für den Konkurrenzbetrieb in Heidenheim abziehen wollte.5 Als der Ingenieur nicht einwilligte, versuchte der Amerikaner ihn für Geld zur Feindtätigkeit zu gewinnen. Der Institutsleiter der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Miersdorf,6 [Bezirk] Potsdam, wurde bei einer Tagung in Oberwolfach7 (Westdeutschland) vom amerikanischen Geheimdienst angesprochen und zum Verlassen der DDR aufgefordert.
In Letmathe8 bei Iserlohn (Nordrhein-Westfalen) werden den Urlaubern aus der DDR sofort Arbeitsangebote gemacht um sie zum Verbleiben zu beeinflussen. Dabei werden ihnen Stundenlöhne bis zu 4,00 DM angeboten. Z. B. eine Elektrofirma beabsichtigt zur Erweiterung des Betriebes sofort 20 bis 30 Arbeiter einzustellen und bietet einen Stundenlohn von 1,80 bis 2,80 DM. Eine Fabrik für Fleischereieinrichtungen will sofort noch 200 bis 300 Arbeiter einstellen. Der Stundenlohn für ungelernte Arbeiter beträgt im Akkord fast 3,00 DM und für gelernte Arbeitskräfte sogar ca. 4,00 DM. Beide Betriebe haben zzt. eine Hochkonjunktur im Verkauf, bekommen aber trotz guter Bezahlung keine Arbeitskräfte, da die Eisenhüttenwerke sämtliche Arbeitskräfte abziehen, indem sie einen Stundenlohn von fast 5,00 DM zahlen. Die Kamerawerke »Voigtländer« in Braunschweig zahlen einem 18-jährigen Mechaniker einen Anfangslohn von 2,25 DM pro Stunde.
In München sind in den Straßenbahnen Aushänge mit dem Hinweis angebracht, dass dringend Arbeitskräfte gesucht werden. Der Anfangslohn für Schaffner beträgt 2,20 DM und für Straßenbahnführer 2,60 DM. Gleichzeitig wird aus Dresden berichtet, dass der frühere Leiter der Straßenbahn nach Stuttgart republikflüchtig wurde und dort in leitender Stellung tätig ist. Er soll laufend Schaffnerinnen und Schaffner bei der Stuttgarter Straßenbahn zur Einstellung bringen, denen gleichzeitig in einer sogenannten »Dresdner Siedlung« Neubauwohnungen zur Verfügung gestellt werden. Der Verdienst soll gegenüber der Dresdner Straßenbahn mit 1,39 DM, 1,89 DM betragen.
Aus dem Bezirk Halle wurde bekannt, dass das Junkers-Werk in Kassel-Lohhausen9 seit ca. einem halben Jahr wieder auf Hochtouren arbeitet. Von diesem Betrieb aus erhielten in letzter Zeit ehemalige Junkers-Spezialisten aus der Forschung und Entwicklung die briefliche Aufforderung, nach dem Westen zu kommen. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Beschäftigten in diesem Werk die Anweisung erhielten, ehemalige Mitarbeiter von Junkers aus ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis aufzufordern nach drüben zu kommen. Einzelne Republikfluchten sind bisher bekannt geworden.
Aus dem Bezirk Erfurt wurde mitgeteilt, dass am 19.10.1956, gegen 18.15 Uhr, ein Funkwagen in der Nähe der Werrabrücke bei Großburschla,10 [Kreis] Eisenach, auf westlicher Seite vorfuhr. Nach dem Abspielen von Schallplatten mit Tanzmusik wurde durch den Lautsprecher gerufen: »Kommt zu uns herüber, hier habt ihr Arbeit und Brot.« Nach nochmaligem Abspielen von Schallplatten fuhr der Wagen in westlicher Richtung davon.
b) Republikflucht durch Beeinflussung von Verwandten und Bekannten sowie durch wirtschaftliche Verblendung in Westdeutschland
In allen Teilen der Deutschen Demokratischen Republik wurde festgestellt, dass in den vergangenen Monaten der größte Teil der Republikfluchten mit einer PM 12a erfolgte. Dabei werden als Ursachen vorwiegend Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte in Westdeutschland angegeben, die den betreffenden Personen Anlass gab, nicht wieder in die DDR zurückzukehren. Neben diesen Ursachen wirken noch einige bewusste Maßnahmen des Bonner Staates auf die Besucher aus der DDR in Westdeutschland ein. Z. B. erhalten Besucher aus der DDR in Bremen Lebensmittelpakete von 20 bis 25 Pfund. Weiter werden kostenlos Eintrittskarten zum Besuch von Ausstellungen, Museen, Kinos usw. ausgegeben. Die Rückreise in die DDR wird je nach dem Einkommen der Verwandten, bei denen sie wohnen, kostenlos gewährt.
In der letzten Zeit wurde wieder eine größere Anzahl Personen aus dem VEB Zeiss Jena nach Oberkochen republikflüchtig. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um Jugendliche, die zum Ausdruck brachten, dass sie sich etwas leisten wollten. Besonders wollen sie sich im Westen ein Motorrad kaufen und Urlaubsreisen in das Ausland unternehmen. Diese Republikfluchten werden besonders durch zahlreiche briefliche Verbindungen und durch Urlaubsbesuche nach Westdeutschland hervorgerufen, die zur Beeinflussung in weitestem Maße beitragen. Republikflüchtige aus dem VEB Zeiss Jena äußerten in Oberkochen, dass sie trotz niedriger Bezahlung im Westen besser leben könnten als in Jena, da die Preise niedriger seien und man alles zu kaufen bekäme ohne stundenlang anstehen zu müssen. Außerdem fühlen sie sich in Oberkochen wohler, da es keine Versammlungen und Sitzungen gäbe. Die Gesamtzahl der Republikflüchtigen aus dem VEB Zeiss Jena im September beträgt 60 Personen.
Stellenangebote und Artikel über fehlende Arbeitskräfte in den verschiedensten Berufsgruppen in der westdeutschen Presse tragen ebenfalls zur Beeinflussung der Bürger aus der DDR bei.
- –
Z. B. schreibt der »Telegraf« vom 25.8.1956: »Bundesbahn stellt Jungwerker ein! Die Bewerber müssen mindestens 14 und können höchstens 16 Jahre alt sein. Die Ausbildungszeit beträgt drei Jahre. Als Vergütung erhalten die Jungwerker in den Ausbildungsjahren zwischen 75,00 und 110 DM monatlich.«11
- –
»Der Abend« vom 27.8.1956: »Postinspektoren-Anwärter, Postassistenten-Anwärter und Postjungboten stellt die Landespostdirektion Berlin ein. Gleichzeitig nimmt die Landespostdirektion Vermittlungen für Postinspektoren-Anwärter vor, die bei einer Oberpostdirektion im Bundesgebiet eingestellt werden wollen.«12
- –
»Die Welt« vom 29.8.1956: »Lehrlingsmangel. In der Bundesrepublik macht sich ein wachsender Lehrlingsmangel bemerkbar. Gegenüber dem Vorjahr hat sich die Zahl der unbesetzten Lehrstellen um rund 35 000 auf 120 000 erhöht. Den 120 000 offenen Stellen stehen 100 000 Jugendliche gegenüber.«13
- –
»Nachrichten aus der freien Welt« Nr. 81: »30 000 Krankenschwestern fehlen.« … »Wenn man die normale Arbeitszeit von 48 Stunden erreichen und die Lücken in der Schwesternschaft ausfüllen will, muss die Zahl der Krankenschwestern um 30 000 erhöht werden …«14
- –
In »Die Welt« vom 11.9.1956 wird darauf hingewiesen, dass der Mangel an Elektro-Ingenieuren zu erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen wird, wenn nicht für weitere Ausbildungsmöglichkeiten gesorgt wird.15
- –
In »Die Welt« vom 16.10.1956 weist der Westberliner Senat darauf hin, dass die Kunsthochschulen und die Hochschulen für Politik noch Studierende aufnehmen. Auch für die pädagogische Hochschule sei aufgrund des Lehrermangels keine Beschränkung vorgesehen. Bei der Festlegung der Studentenzahlen für die beiden Westberliner Universitäten wurde festgestellt, dass am 15.6.1956 von den 16 835 Studenten 4 064 aus der DDR waren.16
Es gibt zahlreiche Hinweise, wo Kinder von Angehörigen der Intelligenz in der DDR nicht zum Studium zugelassen wurden und in Westberlin oder in Westdeutschland ihr Studium aufgenommen haben. Auch Briefverbindungen von Personen aus der DDR mit Republikflüchtigen und anderen Personen in Westdeutschland tragen entscheidend zur Republikflucht bei. In solchen Briefen werden die Verhältnisse in Westdeutschland in den rosigsten Farben geschildert und die Empfänger zur Republikflucht beeinflusst.
Ein Dreher aus dem VEB Zeiss Jena schrieb über die Gründe der Republikflucht Folgendes: »… Bei meinem Aufenthalt in Westdeutschland wurde mir eine Beschäftigung im Beruf angeboten, die sehr günstig ist. 520 DM brutto und Aussicht auf Weiterentwicklung. Sie werden mich bestimmt verstehen können, denn mit 300 DM kann keine große Familie unterhalten werden. In der G-Dreherei hätte ich wahrscheinlich noch 1½ Jahre arbeiten können um auf 400 DM zu kommen. Ich kann von meiner Frau nicht verlangen, dass sie noch jahrelang mitarbeiten geht, nur um leben zu können.«
Ein republikflüchtiger Jugendlicher schreibt: »… Ich sah mich hier in meinem Urlaub ein wenig nach Arbeit um und fand dabei bessere Arbeitsbedingungen vor. Man machte mir mehrere Vorschläge und Angebote. Da habe ich mich entschlossen und hier Arbeit angenommen …«
Ein Facharbeiter aus Oberndorf [am] Neckar antwortet einem Facharbeiter in Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »… Wir sind gern bereit, sie als Spitzenweber in unserem Betrieb einzustellen. Die Arbeitsbedingungen sind bei uns sehr angenehme und der Verdienst eines Spitzenwebers liegt je nach Leistung zwischen 2,50 und 3,00 DM pro Stunde. Die Beschaffung einer Wohnung würde keine Schwierigkeiten bereiten. Teilen Sie uns deshalb bitte ihre Wünsche in dieser Hinsicht mit. Wenn Möglichkeiten bestehen, dass Ihr Haushalt nach hier überführt werden kann, würden wir die Umzugskosten übernehmen …«
Eine weitere Methode zur Beeinflussung zur Republikflucht ist die Verbreitung von Gerüchten. Aus dem Bezirk Rostock wurde bekannt, dass in einigen Orten des Kreises Grimmen, [Bezirk] Rostock, das Gerücht im Umlauf ist, »dass zwischen Westdeutschland und der ČSR Verhandlungen geführt werden, wonach aus Westdeutschland wieder Personen in die ČSR repatriiert werden, die früher im Gebiet der ČSR gewohnt haben. Dort sollen sie ihre Höfe wieder erhalten.« Eine Überprüfung ergab, dass seit Juni bis Ende September aus diesem Kreis 27 Personen (6 Familien und 2 Einzelpersonen) republikflüchtig wurden, deren ehemaliger Wohnsitz in der ČSR war.
Im September ergaben sich besonders im Kreis Merseburg, [Bezirk] Halle, einige Schwerpunkte für die Republikflucht, deren Ursachen in Unzufriedenheit über die Entlohnung angegeben werden. So setzten sich z. B. aus dem
- –
VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« 26,
- –
VEB Chemische Werke Buna 30,
- –
VEB Braunkohlenwerk Pfännerhall 14,
- –
VEB Mineralölwerke Lützkendorf 8,
- –
VEB Braunkohlenwerk Großkayna17 7,
- –
insgesamt 85
Personen aus Gründen der Entlohnung nach dem Westen ab. Hierbei handelt es sich in der Mehrzahl um Arbeiter in den Lohngruppen III, IV und V,18 die zum Ausdruck brachten, dass sie in der DDR nicht die Möglichkeit hätten in eine höhere Lohngruppe eingestuft zu werden und dass sie sich im Westen ein besseres Leben erhoffen.
Die Instrukteurin [Vorname Name 1] von der DSF Schwerin teilte nach ihrer Republikflucht mit: »Ich habe es mit meinen fünf Kleinkindern sehr schwer gehabt, da mein Mann gefallen ist. Ich konnte mit meinem Gehalt meine Familie nicht mehr ernähren. Hier im Westen bekomme ich für meinen gefallenen Mann eine Unterstützung und für die Kinder Waisenrente, was bereits mehr beträgt als mein dortiges Gehalt.«
Ein Arbeiter aus Bad Sachsa/Westdeutschland schrieb: »… Ich bin nach hier gefahren um meinen Urlaub zu verleben. Da wurde mir mein alter Arbeitsplatz wieder angeboten, den ich sieben Jahre vor dem Kriege innehatte. Da der Verdienst 80 % höher liegt und ich in Bleicherode ([Bezirk] Erfurt) nicht mit einer Lohnerhöhung rechnen kann, da mir im vergangenen Jahr die Lohngruppe 6 als einzigste [sic!] versagt wurde, bleibe ich hier. Gleichzeitig bekomme ich eine schöne Wohnung. Ich müsste ja Schläge kriegen, wenn ich dieses Angebot nicht annehme. Es ist keine Flucht, sondern eine Verbesserung.«
Im VEB Kaliwerk Volkerode,19 [Kreis] Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, erfolgten im September fünf Republikfluchten. Die Untersuchungen ergaben, dass zzt. im Betrieb nur Reparaturschichten gefahren werden und der Durchschnittsverdienst um 100 bis 150 DM gesunken ist.
c) Republikflucht durch Verärgerungen aller Art
Der Assistenzarzt der Universitäts-Ohrenklinik in Jena, Dr. [Name 2] wurde republikflüchtig, da ihm der Antrag auf Eröffnung einer Praxis vom Oberarzt der Klinik mit der Begründung abgelehnt worden ist, dass er zu jung wäre und dafür nur verdiente Ärzte des Volkes infrage kämen. Dr. [Name 2] war gleichzeitig Vertragsarzt der VP und wurde in der Klinik als »Spitzel« bezeichnet. Vom Oberarzt wurde ihm gesagt, dass er in der Klinik überflüssig sei.
Der Friseurmeister [Name 3] aus Rehna, [Bezirk] Schwerin, erhielt zum Ausbau seines Geschäftes die Baugenehmigung. Nachdem er das Baumaterial hatte anfahren lassen, wurde ihm die Baugenehmigung wieder entzogen, mit der Begründung, dass ein Irrtum des Verwaltungsangestellten vorgelegen habe. Aus Verärgerung darüber wurde er republikflüchtig.
Bei einer Überprüfung der Gründe für die Republikflucht von Lehrern in Dessau, [Bezirk] Halle, wurde festgestellt, dass die Ausbildungs- und Schulleiter der Betriebsberufsschulen darüber stark verärgert sind, dass nach einer Verordnung nur noch Ingenieure mit pädagogischer Abschlussprüfung unterrichten dürfen. Lehrer ohne Ingenieur-Examen dürften nicht länger im Berufsschuldienst bleiben.20
Eine Familie bewohnte in Guben ein Zimmer mit Küche, was zu klein war. Da die Familie bei dem VEB Gubener Wolle arbeitete, versuchte sie, eine freigewordene Werkswohnung zu bekommen. Obwohl wirklich Dringlichkeit vorlag, da der Vater Tbc-krank ist, wurde die Wohnung anderweitig vergeben. Aus Verärgerung hierüber ging ein Sohn dieser Familie nach dem Westen.
Der Arbeiter [Name 4] aus Möglenz, [Kreis Bad] Liebenwerda, [Bezirk] Cottbus, wohnte mit seiner Familie in schlechten Wohnverhältnissen. In seiner Wohnung ist der Schwamm. Die Bemühungen, anderen Wohnraum zu erhalten, waren erfolglos und die Wohnungskommission machte die Bemerkung: »Der Schwamm hält warm.« [Name 4] wurde aus diesem Grunde republikflüchtig.
Die Familie [Name 5] aus Sielow, [Kreis] Cottbus[-Land], verließ ebenfalls wegen schlechten Wohnverhältnissen und Verärgerung durch den Bürgermeister die DDR. Fünf Erwachsene und ein Kind schliefen in einem Raum. Der Antrag nach größerem Wohnraum wurde vom Bürgermeister mit den Worten abgetan, sie sollten sich ein Zelt bauen um darin zu wohnen.
Aus dem Synthesewerk Schwarzheide, [Kreis] Senftenberg, wurden im September der Diplom-Ingenieur [Name 6] und der Leiter der Montageabteilung Paulick republikflüchtig. Beide waren Mitglieder der SED und befinden sich im Ruhrgebiet. [Name 6] erklärte, dass er wieder als Konstrukteur arbeiten möchte, da er sich als Betriebsleiter des Kraftwerkes nicht glücklich fühlte. Seinem Wunsche wurde nicht stattgegeben. Außerdem sollte er an einem Fernstudium teilnehmen, wogegen er sich wehrte. Vor Monaten soll er zu einem Arbeiter geäußert haben, dass er abhaut, wenn man ihn mit der Schulung nicht in Ruhe lässt. Paulick kündigte 1950 seinen Einzelvertrag um auf Auslandsmontage für die DDR zu arbeiten. Wegen der »menschenüberwachenden Kaderabteilung« sei es ihm aber nicht gelungen, in einem Betrieb unterzukommen, der Auslandsmontagen durchführt. Mit diesen Verhältnissen konnte sich P. nicht einverstanden erklären und verließ die DDR.
Die Lohnabrechnerin [Vorname Name 7] aus dem VEB Sachsenwerk Radeberg, [Kreis] Dresden[-Land], hat ihre Angehörigen in der Volksrepublik Polen und stellte wiederholt den Antrag auf Zuzugsgenehmigung für ihren Vater und drei Geschwister, der jedes Mal abgelehnt wurde. Ihr wurde der Vorschlag gemacht nach Polen zu fahren, da es leichter sei in Polen eine Person unterzubringen, als in der DDR vier Personen. Die M. fuhr nach Westdeutschland in Urlaub und kam nicht zurück. Aus Westdeutschland schrieb sie, dass sie bei ihren Verwandten untergekommen sei und mithilfe der Bundesregierung auch ihre Verwandten aus Schlesien nach dort kommen lassen kann.
d) Republikfluchten von Rentnern, Witwen, ehemaligen Beamten des faschistischen Staatsapparates und Haftentlassenen
Aus allen Bezirken liegen Hinweise vor, dass Rentner und Witwen die DDR verlassen, weil sie sich in Westdeutschland eine höhere Rente erhoffen. Ehemalige Nazis wollen durch Inanspruchnahme des 131-er Gesetzes in den Besitz von Pensionen kommen, während Haftentlassene in Westdeutschland mit einer finanziellen Entschädigung rechnen oder in der DDR keine Arbeitsstelle bekommen.
Eine Arbeiterin aus Camburg, [Kreis] Jena, [Bezirk] Gera, wurde republikflüchtig, weil ihr in Westdeutschland eine Witwenrente gezahlt würde und sie dann nicht mehr zu arbeiten brauchte. Die Haftentlassenen [Name 8] aus Jänichendorf, [Kreis] Luckenwalde, und [Name 9] aus Kleinmachnow, [Kreis] Potsdam[-Land], wurden sofort nach ihrer Haftentlassung republikflüchtig, um in den Besitz der in Westdeutschland gezahlten Entschädigungssumme zu kommen. Ein älteres Ehepaar aus Jena, [Bezirk] Gera, verließ die DDR, weil sie mit den Rentensätzen nicht einverstanden waren und in Westdeutschland eine Verbesserung erwarten. Ein ehemaliger Lehrer aus Lobenstein, [Bezirk] Gera, wurde republikflüchtig, da er nach seiner Haftentlassung trotz Bemühungen keine Arbeitsstelle erhielt und von mehreren VEB abgelehnt wurde.
e) Republikflucht durch Zusendung anonymer Warnbriefe
In vereinzelten Fällen wurden aus den Bezirken Potsdam, Neubrandenburg und Rostock Republikfluchten bekannt, die nach Zusendung von Warnbriefen erfolgten. Der Statistiker [Vorname Name 10] vom Rat des Kreises Belzig, [Bezirk] Potsdam, wurde mit seiner Familie republikflüchtig, da er einen Brief erhielt, in dem er vor Verfolgung durch die Staatsorgane gewarnt wurde. Am 17.9.1956 erhielt der Rentner [Name 11] in Röbel, [Bezirk] Neubrandenburg, einen Warnbrief. [Name 11] solle seinen Sohn verständigen, dass er von einer Frau angezeigt worden sei, weil er für den Westen arbeite und Arbeiter abwirbt. Er solle flüchten, ehe es zu spät sei. Dieser Brief enthielt den Absender [Name 12, Vorname] und war in Hannover am 11.9.1956 abgestempelt. Der Ingenieur und Abteilungsleiter Truhn, Erich, aus der Warnow-Werft fand am 13.9.1956 in seiner Wohnung einen Brief vor. In diesem Brief wurde T. gewarnt, dass er wegen politischen Äußerungen verfolgt würde und verhaftet werden sollte. T. verließ noch am selben Tag die DDR. Gegen ihn lag von keiner Seite etwas vor.