Schweigeminuten aus Anlass der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands
10. November 1956
Information Nr. 326/56 – Betrifft: Durchgeführte »Schweigeminuten« aus Anlass der Niederschlagung der Konterrevolution in Ungarn
Die Niederschlagung der Konterrevolution in Ungarn1 wurde von den regierenden Kräften in Westdeutschland – besonders aber in Westberlin – zum Anlass genommen, antisowjetische Kundgebungen zu organisieren und sich in Hetzaufrufen an die Bevölkerung zu wenden. Obwohl vermieden wurde, die Bevölkerung der DDR zu offenen Provokationen zu verleiten, wurde in versteckter Form zu ähnlichen »Sympathiebezeugungen« aufgerufen. Diesem Zweck dienten besonders die über die Westsender – RIAS und SFB – verbreiteten Aufrufe von Suhr2 und Ansprachen anderer Redner von Hetzkundgebungen in Westberlin, durch Schweigen die Forderung nach »Freiheit« zu erheben. So endete RIAS seine Übertragung von der Hetzkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus am 5.11.1956 mit folgenden Worten: »Man kann auch durch Schweigen schreien und dieses Schweigen wird ein einziger Schrei für die ganze Welt sein, macht uns frei.«3
Obwohl festzustellen war, dass mit dem Bekanntwerden der Ereignisse in Polen4 und Ungarn von der Bevölkerung der DDR im starkem Maße Westsender gehört und diesen Meldungen Glauben geschenkt wurde, fanden die Aufrufe »Schweigeminuten« durchzuführen nur wenig Anklang. Beispiele dafür, wo sogenannte »Schweigeminuten« durchgeführt wurden, liegen besonders aus Bildungsstätten sowie vereinzelt auch von kirchlichen Institutionen und einzelnen Abteilungen volkseigener Betriebe vor. Aus der Art und Weise der Durchführung ist zu entnehmen, dass es sich dabei um organisierte Vorfälle handelt. Im Einzelnen wurden folgende Vorfälle festgestellt:
Aus Mittel-, Berufs-, Ober- und Hochschulen
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In der Mittelschule Heiligengrabe, [Kreis] Wittstock, [Bezirk] Potsdam, erhoben sich am 6.11.1956, gegen 9.30 Uhr, 50 % der Schüler der 9. Klasse von ihren Plätzen. Als die Lehrerin fragte, was denn los sei, wurde ihr von einem Schüler geantwortet: »Wissen Sie es denn nicht, wir gedenken jetzt derer, die von der Roten Armee erschossen wurden.«
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An der Oberschule Wittstock, [Bezirk] Potsdam, wurde am 6.11.1956 festgestellt, dass die morgens beim Fahnenappell hochgezogene Fahne bereits eine halbe Stunde später auf Halbmast gesetzt war.
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In der Berufsschule Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, wurde am 8.11.1956 von den Schülern beim Fahnenappell die Fahne auf Halbmast gesetzt.
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An der Goethe-Oberschule in Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, wurde am 5.11.1956, ohne Wissen der Schul- und Parteileitung, eine Klassenversammlung durchgeführt. Während dieser Versammlung wurden Unterschriften »gegen das Eingreifen der sowjetischen Truppen in Ungarn« gesammelt.
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An der Oberschule Dresden-Nord führte am 5.11.1956 der überwiegende Teil der Schüler der Klasse 12a/1, gegen 11.00 Uhr, eine »Gedenkminute« durch. Der Lehrer konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären und gab der Schulleitung von dem Vorfall keine Mitteilung.
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An der Thomas-Oberschule in Leipzig erschien am 6.11.1956 die Klasse 12 bis auf drei Schüler in schwarzer Kleidung. Sie erklärten, dass sie um die Opfer in Ungarn und Ägypten5 trauern.
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An der Oberschule Jena, [Bezirk] Gera, legte am 6.11.1956 die Klasse 11 einige »Schweigeminuten« ein.
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An der Oberschule Cottbus wollte die Klasse 10 am 6.11.1956, um 10.00 Uhr, zwei »Schweigeminuten« durchführen, was vom Klassenlehrer verhindert wurde. Elf Schüler dieser Klasse gehören der Jungen Gemeinde an.
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An der Technischen Hochschule Dresden führten am 6.11.1956, von 12.00 bis 12.03 Uhr, 35 Studenten im Saal für Chemie Schweigeminuten durch.
Aus kirchlichen Institutionen
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In der evangelischen Missionsschule Leipzig C 1 wurden am 6.11.1956 im Kursus 6 von 41 Schülern während der Pause zwei »Schweigeminuten« durchgeführt.
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In Rosslau, [Kreis] Sangerhausen, [Bezirk] Halle, läuteten am 6.11.1956 alle Glocken. Alle Pfarrer des Kreises trafen sich im Pfarrhaus Rosslau.
Aus Volkseigenen Betrieben
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Im Karl-Marx-Werk Potsdam Babelsberg stellten am 6.11.1956, um 12.00 Uhr, sechs Dreher ihre Maschinen aus und führten drei »Schweigeminuten« durch.
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Im VEB Chemie – Adlershof,6 Zweigstelle Teltow, [Kreis] Potsdam[-Land], wurden am 6.11.1956, um 12.00 Uhr, von den 20 Beschäftigten drei »Schweigeminuten« durchgeführt.
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Im VEB INEX Berlin führte am 6.11.1956, um 12.00 Uhr, die gesamte Abteilung Elektrotechnik zwei »Schweigeminuten« durch. Während dieser Zeit herrschte absolute Arbeitsruhe.