SED-kritische Erscheinungen in Presse und kulturellen Einrichtungen
7. November 1956
Information Nr. 314/56 – Betrifft: Feindtätigkeit und schädliche Tendenzen auf dem Gebiet der Presse und der kulturellen Einrichtungen
Aus überprüftem Material ist ersichtlich, dass feindliche Geheimdienste und Agentenzentralen1 – darunter auch das Ostbüro der SPD2 – Mitarbeiter der Theater und anderer kultureller Einrichtungen als Agenten angeworben haben. Gastspiele und wechselnde Engagements bringen diesen Personenkreis nicht nur mit wichtigsten Betrieben und Objekten – auch militärischen – in Verbindung, sondern erschweren auch erheblich die Durchführung staatlicher Sicherheitsmaßnahmen. Unkontrollierbare gesamtdeutsche Verbindungen in diesen Kreisen werden teilweise zur Agentenwerbung ausgenutzt oder wirken der Festigung des sozialistischen Bewusstseins unter den Künstlern entgegen.
Mangelndes politisches Bewusstsein, Unverständnis des Wesens der weiteren Demokratisierung und vermutlich auch gelenkte Feindarbeit offenbarten sich in den Artikeln einiger Zeitschriften, in Darbietungen der verschiedenen Kleinkunstbühnen und in dem Verhalten einer Reihe von Volkskunstgruppen, die nicht mit einer gesellschaftlichen Organisation verbunden sind. Es zeigten sich – verstärkt durch in der DDR beschäftigte Westberliner Künstler und politisch schädliche gesamtdeutsche Verbindungen – staats- und parteifeindliche Tendenzen, die sich zumindest in einer angespannten Lage gefährlich auswirken können und einer – auch vom Gegner beabsichtigten – ideologischen Aufweichung Vorschub leisten. Besonders zu erwähnen sind die Volkskunstgruppen, in denen sich republikfeindliche – oft ehemals faschistische Elemente – tarnen und mit gleichartigen westdeutschen Organisationen in Verbindung treten, ohne dass dafür staatliche Sanktionen vorliegen.
Im Einzelnen wurden hierzu nachfolgende Feststellungen getroffen
I.
Seit Anfang dieses Jahres wurden insgesamt sechs Künstler und vier technische Kräfte von den Organen des MfS festgenommen. In sieben Fällen wurden Spionage für feindliche Geheimdienste und in drei Fällen Boykotthetze festgestellt. Eine Anzahl weiterer Personen steht aufgrund überprüften Materials ebenfalls in dringendem Verdacht, Spionage zu betreiben. Z. B. wurde ein freischaffender Künstler aus Berlin verhaftet, weil erwiesen war, dass er Agententätigkeit für das Ostbüro der SPD betrieb und mehrere Kollegen mit dieser Agentenzentrale in Verbindung brachte. Zwei technische Kräfte des Kreistheaters Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurden wegen erwiesener Spionage für den amerikanischen Geheimdienst (Auskundschaftung der Objekte der Volksarmee und der Sowjetarmee) verurteilt.
II.
In den Zeitschriften »Der Sonntag«,3 »Die Wochenpost«4 und »Eulenspiegel«5 werden Artikel bzw. Zeichnungen veröffentlicht, die geeignet erscheinen, die staatliche Autorität und das Ansehen gesellschaftlicher Organisationen zu untergraben. Sie wurden auch nachweislich dazu ausgenutzt.
Am 21.10.1956 erschien im »Sonntag« ein Artikel von Gerhard Zwerenz6 unter der Überschrift »Leipziger Allerlei«.7 Der Verfasser bemängelte, dass man sich nicht über Fehler »erhitzt«, dass die »Unruhe« fehlt, denn die »Alten seien zu ruhig für unsere unruhige Zeit«. Er zählt dann auch eine Reihe von tatsächlichen Mängeln auf, z. B. Rentenfrage, Preise, Versorgung u. a., aber er erwähnt keine der Maßnahmen, die von Partei und Regierung bereits zur Beseitigung der Mängel getroffen oder angekündigt wurden. Den »Unruhigen« – Künstlern und Studenten – empfiehlt er, wenn auch versteckt, eine eigene Organisation oder Gruppen zu bilden, denn die FDJ »stehe dem zu fern«. Sie sollen damit die »Kruste der Langeweile« aufbrechen und eine »kulturelle Atmosphäre« schaffen. Wenn er dann weiter behauptet, der Sozialismus selbst sei ein Widerspruch der Kräfte, so hat er Recht. Wenn er aber fortfährt, es möge sich also erweisen, was zukunftsträchtig sei, öffnet er allen negativen Kräften die Türen für ihre destruktiven Diskussionen, die sich jeglicher Beeinflussung entziehen wollen. Er plädiert damit – genau wie zahlreiche Studenten – dafür, das gesellschaftliche Leben von der Partei und FDJ zu trennen statt umgekehrt. In einem Satz – Zwerenz hat den Klasseninhalt der Übergangsperiode entweder nicht begriffen oder will es nicht. Wie uns aus Leipzig berichtet wurde, hat dieser Artikel besonders an der Universität Leipzig großes Aufsehen erregt. Gerade die negativen Elemente stützen sich auf ihren Diskussionen darauf, womit wohl auch bewiesen ist, dass der Artikel nicht das »zukunftsträchtige« hervorruft, dagegen aber die »Unruhigen« gegen Partei und Regierung mobilisiert, um mit den Worten des Verfassers zu sprechen.
Am 13.10.1956 erschien von J. Kalina8 in der »Wochenpost« ein Artikel über die Prozesse in Poznan,9 der versteckte Angriffe gegen unsere Justiz enthielt. Darin wird der »neue Geist, der Geist des Rechts und der Gerechtigkeit« gefeiert, der »in den Gerichtssälen von Posnan herrscht«. Die Verfasserin [sic!] glaubt, »deutlich zu erkennen«, dass sich diese Verfahren von dem, »was bisher in unserem Gerichtswesen üblich war«, unterscheiden. Sie streicht heraus, dass die Verteidiger »nicht in der geringsten Weise behindert« wurden, dass die Angeklagten ihre polizeilichen Aussagen widerriefen und darauf die Polizisten in Haft genommen wurden, dass schließlich die Staatsanwälte nur kraft Gesetzes tätig wurden. Wenn man dem Artikel folgt, herrschten bisher in der DDR Gesetzlosigkeit, Willkür und Erpressung in der Justiz, weil bei uns eben dieser »neue Geist« fehlte. Das ist aber zumindest eine grobe tendenziöse Entstellung der Prinzipien unserer Rechtspflege.10
Schließlich brachte der »Eulenspiegel« vom 4.10.1956 auf der Rückseite eine Satire auf den bayrischen Grenzschutz,11 die durch Wiederholung antisowjetischer Äußerungen und durch entsprechende Zeichnungen für die Sowjetunion beleidigend wirken muss.
III.
Auch das letzte Programm der Berliner »Distel« – O du geliebtes Trauerspiel12 – bedürfte einer Überprüfung. Es sei nur ein Beispiel herausgegriffen, das übrigens auch in einer Sendung des RIAS lobend (!) erwähnt wurde. Unter Nr. 23 (Hoch und nieder) erscheinen zwei Personen mit Transparenten auf der Bühne. Ein Transparent trägt die Aufschrift »Hoch« das andere »Nieder«. Auf die Frage, was das bedeutet, wird geantwortet, das würde man erst nach dem XXI. Parteitag erfahren.
Auch andere Kleinkunstbühnen in der DDR bringen besonders durch ihre Ansager, die zum Teil aus Westberlin kommen, sogenannte Witze, die dadurch witzig sein sollen, dass sie den Feindparolen entgegenkommen und manchmal einfach davon übernommen wurden. In der 23. Folge der Veranstaltung »Kristall-Palast – Ganz groß in Magdeburg«13 erklärte der Ansager Günter Schmidt auf die Frage, ob er Angst vor der Partei habe, nein, dann wäre er schon Mitglied geworden.
Der Westberliner Conférencier Horst Nowack, der von der zentralen Leitung der Konzert- und Gastspieldirektion wegen seiner Unzuverlässigkeit keine Verträge mehr für die DDR bekommt, verschaffte sich selbstständig Engagements bei Unternehmen, die eine eigene Lizenz für kabarettistische Darbietungen haben. Ein anderer Conférencier Gerhard Scholz trat in Leipzig mit antisozialistischen Tendenzen auf.
Auch unter den Musikern treten zu weilen feindliche Tendenzen in Erscheinung. So macht der prominente Kurt Henkels häufig antisowjetische und parteifeindliche Bemerkungen – besonders wegen Walter Ulbricht. Ein Jazzmusiker, der in dem Verdacht steht, für das westdeutsche Bundesverfassungsschutzamt zu arbeiten, organisiert in Leipzig aus negativen Elementen Jazz-Interessengemeinschaften und fordert Verbindungsaufnahme zu gleichartigen Vereinigungen in Westdeutschland.
IV.
In zahlreichen Orten der DDR existieren Volkschöre sowie heimatgebundene Tanz- und Kulturgruppen, in denen sich negative Elemente konzentrieren. Solche Vereinigungen sind oft nicht organisationsgebunden und führen selbstständig gemeinsame Treffen mit gleichgeartetenVereinigungen in Westdeutschland durch. Der Chor von Langenleuba-Oberhain – von 42 Mitgliedern sind 35 Großbauern – verließ bei der Schulentlassungsfeier geschlossen den Saal, als die Nationalhymne gesungen wurde. In mehreren Chören sind die Leiter ehemals aktive Faschisten. Der Leiter des Volkschores in Dahme, Kreis Luckau, war Nazi-Blockleiter und Polizei-Obersekretär. Von 1945 bis 1950 befand er sich in Haft. Der Leiter der Tanz- und Trachtengruppe in Bad Liebenstein, [Bezirk] Erfurt,14 war SA-Sturmbannführer (Major) und Träger des Ehrendolches.
Folgende politisch unerwünschte Verbindungen nach Westdeutschland sind bekannt geworden: Die Singgemeinschaft Kölleda, [Bezirk] Erfurt, traf sich in Westdeutschland ohne Wissen der zuständigen staatlichen Stellen mit einer Landsmannschaft (sog. Vertriebenenorganisation). Die Kulturgruppe Schönburg,15 Kreis Naumburg, reiste zu einem Treffen nach Westdeutschland, welches von der Vereinigung der Ostzonenflüchtlinge16 und dem Bund der Opfer des Stalinismus17 organisiert war.
Zum 14. Deutschen Sängerbundtreffen in Stuttgart (2. bis 5.8.1956) waren 28 Chöre aus der DDR geladen, die finanziell vom Kaiserministerium18 unterstützt werden sollten. Bis auf einen Chor wurde die Teilnahme verhindert.
V.
Aus den vorstehenden Darlegungen ist ersichtlich, dass der Gegner nach der jetzigen Lage zahlreiche Möglichkeiten hat, sich in den kulturellen Einrichtungen zu tarnen und sich einer staatlichen Kontrolle zu entziehen oder zumindest dieselbe erheblich zu erschweren. Es ist auch andererseits notwendig darauf hinzuweisen, dass in einzelnen Fällen mangelndes politisches Bewusstsein Feindarbeit erleichtert und das künstlerische Niveau der kulturellen Darbietung mindert. Republikfeindliche Tendenzen sind nicht zu vereinbaren mit einem hohen künstlerischen Niveau, wie es die gesellschaftlichen Organisationen und alle Werktätigen mit Recht fordern. Darbietungen, die dem sozialistischen Aufbau schaden, sind auch künstlerisch ohne Wert. Es wird daher vorgeschlagen, in Verbindung mit dem Kulturbund und dem Ministerium für Kultur folgende Maßnahmen zu prüfen:
- 1.
Auf die Redaktionen – vor allem der Unterhaltungszeitungen – wird auf dem Wege der Überzeugung eingewirkt, nur solche politische Artikel zu veröffentlichen, die eine schöpferische Kritik enthalten und nicht zur Verschärfung einer bestimmten Lage beitragen. Für den politischen Teil sind nur qualifizierte Redakteure einzusetzen. Artikel (Leipziger Allerlei), die zum Boykott gesellschaftlicher Organisationen (FDJ) auffordern, werden nicht veröffentlicht.
- 2.
Die feststehenden Varieté-Programme sind den Räten der Kreise (Städte), Abteilung Kultur zu melden. Die Abteilung Kultur hat das Recht, gegen künstlerisch wertlose Stücke Einspruch zu erheben, mit der Wirkung, dass solche Stücke nicht zur Aufführung gelangen.
- 3.
Verträge mit Künstlern, die improvisierte Darbietungen bringen – wie z. B. Conférenciers –, sind ebenfalls der Abteilung Kultur zu melden und dort zu registrieren. Die Abteilung Kultur hat das Recht, gegen unqualifizierte Künstler, Einspruch zu erheben und deren Auftreten zu untersagen.
- 4.
Die örtlichen gesellschaftlichen Organisationen – insbesondere der Kulturbund – werden aufgefordert, den Kleinkunstbühnen Aufmerksamkeit zu widmen und die Abteilung Kultur durch entsprechende Hinweise zu unterstützen.
- 5.
Alle Volkskunstgruppen und ähnliche Vereinigungen, die nicht zu einer gesellschaftlichen Organisation gehören, sind bei der Abteilung Kultur – einschließlich der Mitglieder – zu registrieren und eventuell in einer gelockerten Organisationsform dem Kulturbund anzuschließen.
Die Maßnahmen von zwei bis fünf würden zu einer gewissen Übersicht führen und den örtlichen und staatlichen Organen – einschließlich der Sicherheitsorgane –, Möglichkeiten zum verwaltungsmäßigen und operativen Eingreifen bieten, sobald sich Gefahrenmomente zeigen.