Stimmung der Ärzte im St.-Georg-Krankenhaus Leipzig
16. Juni 1956
Information Nr. 22/56 – Betrifft: Stimmung unter den Ärzten des St.-Georg-Krankenhauses in Leipzig
In einer Chefarztbesprechung wurde u. a. über die notwendigen Bauvorhaben im Krankenhaus St. Georg gesprochen. Dem Leiter des Krankenhauses, Prof. Dr. Keller,1 sind bei seinem Dienstantritt in dem Krankenhaus vor ca. fünf Jahren vonseiten des Vorsitzenden des Rates des Bezirks, Genossen Adolphs,2 eine Reihe von Versprechungen in dieser Richtung gemacht worden. Bis zum heutigen Tage hat sich jedoch nichts geändert.
Dazu folgendes Beispiel: Der Bau eines Operations-Traktes war dem Prof. Dr. Keller und dem Prof. Dr. Mörl3 vom Vorsitzenden des Rates des Bezirks, Genossen Adolphs, bindend zugesagt, nachdem sich seit zwei Jahren Zusagen und Ablehnungen über dieses Projekt abgelöst hatten. Die Finanzierung sollte aus Lotto-Mitteln geschehen. Kurz danach erhielt die Betriebsleitung des Krankenhauses eine kurze Mitteilung, dass der Bau des Operations-Traktes nicht durchgeführt werden kann. Daraufhin fand eine Beratung mit der Plankommission beim Rat des Bezirks, Genossen Martin, dem Genossen Kreisarzt und den Genossen Zschörner und Mitschke, ebenfalls vom Rat des Bezirks, statt. Das Ergebnis dieser Beratung war, dass noch im Juni mit dem Bau des Operations-Traktes begonnen wird, mit dem Ziel, den Bau in diesem Jahr winterfest zu machen und 1957 mit der Inneneinrichtung zu beginnen.
Gegenwärtig ist der Stand jedoch so, dass für die Durchführung dieses Bauvorhabens überhaupt keine finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Prof. Dr. Keller und alle anderen Chefärzte äußerten sich über eine derartig schlechte Arbeit der Verwaltungsorgane sehr entrüstet. Prof. Dr. Keller brachte zum Ausdruck, dass er sich sofort mit den entsprechenden Stellen in Verbindung setzen und seine Funktion als Ärztlicher Direktor des Krankenhauses zur Verfügung stellen wird. Die Ärzte des Krankenhauses schlossen sich seiner Meinung an.
Am 28.5.1956 fand eine Besprechung zu Fragen der Bezahlung des Bereitschaftsdienstes für Ärzte statt. An dieser Besprechung nahm der Genosse Hildebrandt vom Ministerium für Gesundheitswesen – Abteilung Arbeit – teil. Im Krankenhaus St. Georg übersteigt die Besetzung der Stellen die festgelegte Grenze von 90 Prozent. Aus diesem Grunde besteht kein Anspruch auf Bezahlung von Feiertags-, Überstunden- und Nachtarbeit für Angestellte. Da aber die Mehrleistung der Ärzte im Bereitschaftsdienst nicht zu vergleichen ist mit der Mehrarbeit anderer Angestellter, muss hier eine Sonderregelung getroffen werden. Dies ist auch schon allein damit begründet, dass die Ärzte im Krankenhaus St. Georg während ihres Bereitschaftsdienstes oft schwierige Operationen mit sechs bis acht Stunden intensiver Arbeit ausführen müssen, da das Krankenhaus St. Georg das einzige Krankenhaus ist, das nachts Unfälle und schwierige Fälle aufnimmt. Um der bestehenden Situation gerecht zu werden, erteilte das Ministerium für Gesundheitswesen die Genehmigung, den Bereitschaftsdienst bis zu einer Neuregelung rückwirkend ab 1.5.1956 zu bezahlen. Der Verwaltungsleiter Münch, der für die Bezahlung verantwortlich ist, lehnte die Bezahlung jedoch ab, da er dazu eine Anweisung vom Rat des Bezirks braucht. Der Rat des Bezirks wiederum lehnt eine Anweisung in dieser Richtung ab.
Vor kurzer Zeit wurde dem Prof. Dr. Keller ein Betrag von DM 200 000 für die geplanten Bauvorhaben zugesprochen. Als er dafür eine schriftliche Bestätigung forderte, wurde diese ebenfalls vom Rat des Bezirks abgelehnt.
Durch die angeführten Missstände sind sämtliche Ärzte des Krankenhauses sehr verärgert. Prof. Dr. Keller ist am 13.6.1956 nach Berlin gefahren, um seine Funktion als Direktor des Bezirkskrankenhauses St. Georg niederzulegen. Dasselbe beabsichtigen Prof. Dr. Mörl und Prosektor Eck.4 Der Oberarzt Dr. Neumann5 bezahlt aus diesen Gründen keine Gewerkschaftsbeiträge mehr. Dr. Färber6 und Dr. Richter sind ebenfalls nach Berlin gefahren, um sich eine Rechtsgrundlage für ihre Forderungen zu holen. Es ist vonseiten der Ärzte beabsichtigt, aufgrund der Nichtbezahlung des Bereitschaftsdienstes Klage zu erheben, sodass diese Beträge auf eine gewisse Zeit nachgezahlt werden müssen.
Aufgrund dieser Missstände lehnen sämtliche Ärzte die Mitarbeit an der Durchführung der Gesundheitswoche ab.