Stimmung und westliche Presseberichte zu den Unruhen in Posen (3)
10. Juli 1956
Information Nr. 66/56 – Betrifft: Stimmung und Feindpropaganda zu den Provokationen in Poznan (3. Bericht)
Die Ereignisse in Poznan sind in allen Bevölkerungsschichten ein vielbesprochenes Problem,1 wobei jene Stimmen, die die Ereignisse richtig einschätzen, überwiegen. Die positiven Argumente gleichen sich im Inhalt und bringen meist zum Ausdruck, dass es sich bei den Vorkommnissen in Poznan um die Machenschaften gegnerischer Kräfte handelt, die bestimmte wirtschaftliche Schwierigkeiten für diese Provokation ausgenutzt haben.
Dafür ist folgende Äußerung eines Arbeiters (SED) aus dem VEB Textilveredelungswerk Greiz, [Bezirk] Gera, charakteristisch: »Wenn es in Poznan zu Ausschreitungen gekommen ist, warum dann gerade zu einer Zeit, als dort eine Messe stattfand und zahlreiche ausländische Vertreter und Besucher anwesend waren?2 Kann man denn sagen, das Volk ist unzufrieden und hat das heraufbeschworen, wenn es sich nur um eine Stadt handelt? Die Schwierigkeiten waren wahrscheinlich in Poznan nicht größer als in anderen Städten. Das ist auch der Beweis, dass dieser Streich von Agenten und Provokateuren erzeugt wurde.«
Unter den Stimmen, die eine richtige Einschätzung der Vorkommnisse in Poznan geben, sind einige, die betonen, dass hier die gleichen Kräfte am Werk waren, wie bei uns am 17. Juni 1953. Hierzu einige Äußerungen, die für die Meinung vieler gilt [sic!]:
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»Bei dem Putschversuch in Poznan waren die Urheber die gleichen Kräfte wie bei uns am 17. Juni 1953.« (Ein Angestellter vom Ministerium für Chemische Industrie Berlin)
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»In Polen versuchten gekaufte Elemente die internationale Messe zu stören, indem sie eine Art 17. Juni inszenierten. Der Putsch konnte nur rechtzeitig zerschlagen werden.« (Der Betriebsleiter des VEB Glaswerkes Waldau, [Bezirk] Suhl)
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»Die das in Poznan organisiert haben, sind die gleichen wie zum 17. Juni 1953 bei uns. Ich sehe zuerst die Toten, diese haben die Organisatoren auf dem Gewissen.« (Ein Geistlicher aus Berlin)
Trotz der zahlreichen richtigen Einschätzungen muss erwähnt werden, dass sehr oft die Ursachen der Ereignisse in Poznan nur in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten gesehen werden. Es gibt deshalb in allen Kreisen der Bevölkerung Diskussionen, die beinhalten, dass die Vorkommnisse in Poznan Ausdruck der Unzufriedenheit der Bevölkerung wegen des zu niedrigen Lebensstandards gewesen seien. Vielfach lassen sich diese Äußerungen von den lügnerischen Darstellungen der Westsender und Zeitungen ableiten und es zeigt sich darin eine Beeinflussung durch die Propaganda des Gegners. Hierzu einige Beispiele:
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Ein Schlosser aus dem Bahnbetriebswerk Schwerin: »Diese Provokation ist nur deshalb entstanden, weil die Situation ähnlich wie bei uns am 17. Juni 1953 war. Auch ist dort der Lebensstandard schlechter als bei uns.«
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Unter einem großen Teil der Arbeiter der Zentralwerkstatt des VEB Regis,3 [Bezirk] Leipzig, besteht folgende Meinung: »Die Ereignisse in Poznan wurden von den Arbeitern herbeigeführt, weil sie mit der schlechten Versorgungslage und den Normen nicht einverstanden sind.«
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Unter einem Teil der Arbeiter des VEB Glaswerkes Schönbrunn, [Bezirk] Suhl, wurde die Ansicht vertreten: »Aufgrund der schlechten Lebenslage ist es in Poznan zu diesen Unruhen gekommen.«
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Ein Angestellter vom RBD Berlin sagte: »Die Arbeiter sind unzufrieden, sonst hätten sie nicht gegen ihre Regierung demonstriert.«
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Eine Hausfrau aus Schwerin: »Die polnischen Arbeiter, die früher schon harte Arbeit gewohnt waren, wären nicht so verbittert, wenn sie mehr zu essen kriegen würden!«
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Ein Klempner aus Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Der in Polen ausgebrochene Aufstand ist auf die gleichen Ursachen wie bei uns zum 17. Juni 1953 zurückzuführen. Es ging um höhere Löhne und die Verbesserung des Lebensstandards. Mit Panzern und schweren Waffen hat die Nationale Volksarmee den Streik der polnischen Arbeiter niedergeschlagen.«
Wie die Ereignisse in Poznan von negativen Elementen eingeschätzt werden und welche Argumente bei den Diskussionen eine Rolle spielen, zeigen nachstehende Beispiele:
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Ein Angestellter vom Kommunalen Großhandel in Königs Wusterhausen: »Die Polen hatten den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Leider wurde die Sache nicht richtig organisiert. Wenn der polnische 17. Juni hätte was bringen sollen, dann hätte er schlagartig auf das ganze Land ausgedehnt werden müssen. Wir haben es doch bei uns gesehen. Aus unserer Schlappe müssten doch die anderen Länder gelernt haben.«
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Ein Arbeiter aus Mahlow, [Bezirk] Potsdam: »Das ist wieder ein Beweis dafür, dass es der Bevölkerung in den Volksdemokratien genauso schlecht wie uns geht. Die wollen uns erzählen, dass der Arbeiter hinter ihnen steht, aber unter einer Arbeiter-und-Bauern-Macht haben wir etwas anderes verstanden. Aber dieser Aufstand wird auch nicht der letzte sein. Spitzbart4 ist auch schon ganz ruhig geworden.«
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Einige Arbeiter aus dem VEB Schlepperwerk Nordhausen, [Bezirk] Erfurt: »Es geht immer mehr dem Ende entgegen. In Polen fängt es an und bei uns hört es auf. Nur unter der Bedingung, dass uns diesmal der Westen mehr unterstützt.«
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Ein Elektriker aus der Kammgarnspinnerei Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Ich habe den RIAS gehört. Donnerwetter, in Polen ist es rund gegangen. Es kämpften bewaffnete Arbeiter gegen Soldaten und Matrosen. Das ist vielleicht für das vielgepriesene Volkspolen eine Pleite.«
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Ein Arbeiter im VEB »Modul« Karl-Marx-Stadt:5 »Die Preise in Polen müssen ganz enorm hoch sein, was seinen Ausdruck im Aufstand von Poznan findet. Es hat ja dort ganz schön gerumst. In China wird es ebenfalls nicht mehr lange dauern und dann geht es auch dort los.«
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Ein Einwohner aus Ribnitz[-Damgarten],6 [Bezirk] Rostock: »Ich habe im Rundfunk gehört, dass nicht nur in Posen Unruhen waren. Das Volk will eben nicht länger unter diesem Joch leben und will sich befreien.«
In Gesprächen zwischen Messebesuchern aus der DDR und einigen Personen aus Poznan kam es zu folgenden Äußerungen:
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Ein Provokateur äußerte auf die Frage zweier Messebesucher, wie er die Lage zzt. der Ereignisse einschätzt, Folgendes: »In der Gegend, wo geschossen wird, befindet sich das Gebäude der Staatssicherheit, dieses wollen wir auf alle Fälle nehmen. Keiner wird dort lebend herauskommen. Auch halten wir das Rathaus und Parteigebäude besetzt.« In der weiteren Unterhaltung sagten die beiden Messebesucher, dass sie aus der DDR seien, was den Provokateur zu folgender Äußerung veranlasste: »Ihr seid also von Grotewohl, da muss ich mit euch anders sprechen. Es wird nicht mehr lange dauern und dann wird es auch in der Ostzone anders. Bildet euch nicht ein, dass ihr bald nach Hause könnt, denn heute um 16.00 Uhr werden auch die Arbeiter in Berlin losschlagen. Das ist so festgelegt worden.«
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Ein Ingenieur vertrat die Ansicht: »Ich habe 700 Zloty im Monat. Dafür kann ich mir nicht einmal einen Anzug kaufen. Dieses Leben kann nicht mehr so weitergehen. Wir haben den Krieg gewonnen und keine Reparationen erhalten. Die Forderungen der Arbeiter auf Lohnerhöhungen gehen schon seit April dieses Jahres. Der letzte Tag für die Erfüllung dieser Forderungen sollte nach Zusagen von der Regierung der 1.7.1956 sein.«
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Ein Lehrerehepaar vertrat die Meinung, dass »an dem System etwas geändert werden müsste«. Als Begründung gaben sie an, »dass man mit 600 bis 700 Zloty im Monat nicht leben kann«. Mit den Provokateuren erklärten sie sich aber nicht solidarisch.
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Ein Portier sagte: »Das System muss geändert werden, so können wir nicht mehr leben, noch ist es nicht zu Ende.«
Besondere Vorkommnisse und Feindtätigkeit
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Am 30.6.1956 erhielt die SED-Kreisleitung Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, eine Postkarte. Die Überschrift des Textes lautete: »Kreisleitung Eilenburg SED zum Aufstand in Posen.« Der Inhalt der Hetze war, dass die Ereignisse in Poznan »der gleiche Schwindel wie am 17. Juni 1953« sei. Es wäre kein Werk von Provokateuren, sondern »der Aufschrei eines geknechteten Volkes«. Unterschrift: »Bund freies Deutschland.«7
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In der Männertoilette des VEB Zeiss Jena wurde folgende Hetzlosung angeschmiert: »Poznan das Beispiel für alle. Passt das Beispiel 17. Juni in der DDR zum 28. Juni in Polen? Auf zum Tag X.«8
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An die Tafel der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in der HV Mess- und Reglertechnik Berlin wurde ein Zettel mit folgendem hetzerischen Text angeheftet: »Kollegen, auch in Polen hat man auf die Arbeiter geschossen. Wann wird endlich unsere Regierung entwaffnet, die sich selbst eingesetzt hat? Auf zum Generalstreik!«
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Am 29.6.1956 wurde im Speisesaal des Deutschen Fernsehfunks auf einem Tisch ausgebreitet ein Exemplar der Westberliner BZ gefunden. Es handelt sich um eine Ausgabe, in der ausführlich über die Ereignisse in Poznan berichtet wurde.9
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Am 29.6.1956 wurde in Görlitz eine männliche Person festgenommen, die aus Westdeutschland kommend im Besitz von polnischen Papieren und Geld war. Der Verdächtige gab sich als Angehöriger der polnischen Kriminalpolizei aus.
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Alle Mitarbeiter des Ostbüros der SPD in Westberlin10 haben die Anweisung erhalten, alle Flüchtlinge und V-Leute, die das Ostbüro anlaufen, zu befragen, was in der DDR in der Sache Poznan eingeleitet worden ist, insbesondere welche Anweisungen die Kampfgruppen in den Betrieben der DDR erhielten.11
Feindpropaganda
In zahlreichen Sendungen des RIAS, SFB und des Londoner Rundfunks12 sowie in der Westpresse wurden die Ereignisse von Poznan als ein »Volksaufstand« dargestellt. Dazu dienten in erster Linie sogenannte Augenzeugenberichte von »Messebesuchern«, die die Vorkommnisse verfälscht wiedergaben. Als Beweis für die Behauptung, dass die Ereignisse von Poznan auf die »Unterdrückung und Unfreiheit des polnischen Volkes« sowie auf den »schlechten Lebensstandard« zurückzuführen seien, wurden drei Faktoren, die charakteristisch für die Demonstration gewesen seien, angeführt:
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der Protest gegen die Hungerlöhne und die hohen Preise,
- 2.)
der Ruf nach Freiheit und
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der Wunsch nach völliger nationaler Unabhängigkeit, deshalb der Ruf: raus mit den Russen.
Ganz entschieden wenden sie sich in den Sendungen und Kommentaren gegen die Tatsache, dass die Ereignisse in Poznan von gegnerischen Elementen ausgelöst wurden, die die bestehende Unzufriedenheit unter der Bevölkerung zum Anlass der Provokation nahmen. Dazu einige bemerkenswerte Argumente:
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»Aufgrund der Beschuldigung des Westens kann man eine internationale Untersuchung verlangen. Die Arbeiter demonstrierten nicht, weil die Agenten dazu aufgerufen haben, sondern weil man ihnen zu viel versprochen und nicht gehalten hat.« (RIAS 5.7.1956)
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»Ursache: schlechte Lebensbedingungen – es gab kein anderes Ventil, als die öffentliche Demonstration.« (RIAS – Kommentar 5.7.1956)
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»Organisieren kann man in einem totalitären System Massenaktionen wohl kaum. Es gibt aber Situationen, wo die Arbeiter und die breite Masse der Bevölkerung glauben, handeln zu müssen. Deshalb der 28. Juni in Posen und der 17. Juni 1953 in der Sowjetzone.« (RIAS 30.6.1956)
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»Der Aufstand spricht von einer Gemeinsamkeit, die man nicht übersehen darf, die polnischen Arbeiter erwarten deshalb Anteilnahme und Solidarität.« (RIAS 2.7.1956)
Wie der Gegner in seiner Propaganda die Zusammenhänge der Ereignisse in Poznan mit dem XX. Parteitag darstellt,13 zeigen nachstehende Argumente:
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»Im Juni 1953 war Stalin drei Monate tot.14 Die Hierarchie des Kommunismus war erschüttert, der neue Kurs lag in der Luft. Im Juni 1956 ist Stalin vor aller Welt als Verbrecher entlarvt, seine Helfershelfer in allen Vasallenstaaten sind zu Mitschuldigen diskrediert. Was nach Stalins Tod angefangen hat, ist jetzt nicht mehr niederzuhalten.« (London 29.6.1956)
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»Schneller und kühner, als die anderen Satelliten-Staaten hatte Polen auf die Thesen des XX. Parteitages reagiert.« (RIAS 29.6.1956)
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»Mit der Anschuldigung, die Amerikaner hätten die Unruhen in Polen angezettelt, verfolgen die Russen einen ganz bestimmten Zweck, und zwar Chruschtschow und Genossen vom Vorwurf der Mitschuld an Stalins Verbrechen zu reinigen. Diese Erklärung soll die verschiedenen kommunistischen Parteien veranlassen, die Reihen wieder zu schließen, sich von Neuem um den Kreml zu scharen und keine Kritik mehr an Chruschtschow zu üben. Die Unruhen in Posen werden deshalb als warnendes Beispiel hingestellt.« (London 3.7.1956)
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»Durch die Flammenzeichen von Posen ist das große Dilemma der neuen sowjetischen Politik vor aller Welt sichtbar geworden. Denn die westlichen Besucher haben keinen Augenblick gezögert, der Aufforderung der polnischen Arbeiter nachzukommen, die ihnen am 28.6.1956 zuriefen: Sagt es dem Ausland, dass wir streiken, damit es nach elf Jahren endlich anders wird.« (RIAS 1.7.1956)