Stimmung zu den Unruhen in Posen (1)
30. Juni 1956
Information Nr. 45/56 – Betrifft: Stimmung zu den Provokationen in Poznan
Wie aus vorliegendem Material ersichtlich wurde bisher unter allen Schichten der Bevölkerung noch nicht in großem Maße zu den Provokationen in Poznan Stellung genommen.1 In den bekannt gewordenen Stellungnahmen bringt jedoch die Mehrheit der Beschäftigten in der Industrie und Landwirtschaft, wie auch der übrigen Bevölkerung, ihre Abscheu gegenüber den Machenschaften der Provokateure zum Ausdruck. Für die positiven Meinungen sind folgende Beispiele charakteristisch:
In einer Unterhaltung zwischen Angestellten der Abteilung Arbeit im VEB VTA Leipzig2 wurde erklärt: »Der Gegner versucht in geschickter Art und Weise die internationale Messe in Poznan3 auszunutzen, um Stimmung gegen das sozialistische Lager zu machen. Aber die polnischen Freunde haben sehr schnell und resolut gehandelt, vielleicht etwas besser als wir damals am 17.6.1953. Der Gegner ist sehr unruhig geworden und versucht nun mit allen Mitteln gegen das sozialistische Lager zu hetzen.«
Im VEB LES Werk 1 in Leipzig erklärten einige Arbeiter: »Diese Lumpen, sie wissen, dass sie bei uns in der DDR nicht mehr wie am 17.6.1953 auftreten können und versuchen es jetzt in der Volksrepublik Polen. Sie wissen genau, dass dort noch nicht ein so hoher Lebensstandard vorhanden ist wie bei uns.«
Im Schachtkombinat 241 der Wismut in Auerbach erklärte der Sicherheitsinspektor: »Nachdem die Faschisten bei ihrem Putschversuch in der DDR von den Arbeitern vernichtend geschlagen wurden, versuchen sie es doch immer wieder eine derartige Provokation durchzuführen. Sollten es diese faschistischen Elemente wagen, in unserem Gebiet etwa den Tag des Bergmanns4 zu stören, so wird ihnen eine vernichtende Abfuhr zuteil.«
In der LPG Glienick,5 [Kreis] Zossen, [Bezirk] Potsdam, erklärte der Vorsitzende: »Die von den Imperialisten gekauften Agenten versuchen mit aller Macht das Weltfriedenslager zu unterwühlen und zu schwächen. Daraus ersehen wir, wie wachsam wir sein müssen, um solche Verbrecher gleich zu packen und dorthin zu bringen, wohin sie gehören.«
Auch unter Kreisen der Umsiedler wurden die Machenschaften der Provokateure verurteilt. So liegen Stellungnahmen aus dem Bezirk Potsdam vor, indem ehemalige Umsiedler auf dem Wochenmarkt zum Ausdruck brachten, »dass es ja nicht schön wäre, dass viel Gebiet genommen wurde, aber es müsste schließlich ein Schlussstrich gezogen werden. Warum zettelt man bloß so etwas an? Wir haben doch nun wirklich die Nase voll vom Krieg und wollen Ruhe und Frieden.«
In ähnlicher Weise wie in den angeführten Diskussionen werden fast aus allen Bezirken Stellungnahmen bekannt. Die negativen Diskussionen sind in der Mehrzahl bestimmt von Unklarheiten sowie davon, dass sich diese Kreise noch nicht mit den Ereignissen in Poznan befasst haben, sondern nur aufgrund vom Hören und Sagen oder westlichen Radiomeldungen Stellung nahmen. Am weitesten verbreitet sind deshalb auch solche Diskussionen wie:
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»Es ist ja klar, dass es einmal so kommen musste, die Polen sind ja genau so unterdrückt wie wir hier«. (Käufer auf dem Wochenmarkt in Potsdam)
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»In Polen war gestern Aufstand. Das polnische Militär hat die Demonstranten mit PaK6 beschossen.« (Elektriker im Maschinen-Werk Dietlas,7 [Kreis] Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl)
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»In Volkspolen sind große Unruhen ausgebrochen, besonders in Poznan. Die Polizei ist nicht mehr Herr der Lage. Es sind Panzer und Flugzeuge eingesetzt. Bisher gab es 39 Tote und 72 Verletzte.« (Arbeiter im RFT Werk Neuhaus,8 [Bezirk] Suhl)
In dieser und ähnlicher Form wurden Äußerungen in allen Bezirken bekannt.
In einigen Bezirken wurden vereinzelt auch die Ereignisse von Poznan zum Anlass genommen, Vergleiche zur DDR zu ziehen und aufgrund bestehender Schwierigkeiten oder eingeleiteter Maßnahmen von einem neuen 17.6.1953 zu sprechen. So erklärte ein Schleifer, Mitglied der SED, im VEB Roter Stern Leipzig:9 »Man hat den Aufstand nur mit Panzern oder Tieffliegern niederschlagen können. Dieser Aufstand kam nur zustande, weil die Versorgungslage in Polen schlecht ist. Bei uns kann die schlechte Versorgung mit Mangelware wie die HO-Butter usw. auch Anlass zu einem neuen 17. Juni werden.«
Im VEB Record Spannwerkzeuge Zeulenroda,10 [Bezirk] Gera, erklärten Arbeiter: »Man braucht sich ja nicht zu wundern, wie es bei uns aussieht mit der Butterbelieferung, sodass es auch einmal losgehen kann. Die Wismut bekommt die ganze Butter und das ist nicht richtig. Die Übertagearbeiter müssten den anderen Arbeitern in den Betrieben gleichgestellt werden.«
In der Konsum-Verkaufsstelle in Roßlau, [Bezirk] Halle, diskutierten drei Frauen über die Ereignisse in Poznan. Dabei brachte eine dieser Frauen Folgendes zum Ausdruck: »Bei uns wird es auch bald mal wieder so kommen. Alles wird wieder teurer und das Geld ist immer alle.«
Im BW Erfurt erklärte in diesem Zusammenhang ein Arbeiter: »Wenn es in Polen auch so gemacht wird, wie hier mit den Freifahrtscheinen nach dem Westen, ist es kein Wunder, wenn sich die Leute das nicht gefallen lassen.«
Provokationen und Feindtätigkeit
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Poznan wurden vereinzelt Provokationen und Feindtätigkeit in Betrieben bekannt, die jedoch keine Unterstützung fanden.
Im VEB Ziehwerk Delitzsch, [Bezirk] Leipzig, äußerte ein parteiloser Schmied: »In Polen ist der Krieg ausgebrochen, da die Arbeiter in den staatlichen Betrieben unzufrieden sind.« Daraufhin fing er an auf die Werkleitung und den Arbeitsdirektor zu schimpfen und sagte, dass auch er mit der Arbeit der Werkleitung unzufrieden sei und niemand würde sich um die Interessen der Arbeiter kümmern.« Diese Diskussion nahm jedoch unter den Arbeitern, zu denen er es sagte, keinen größeren Umfang an.
Im VEB Feuerungs- und Behälterbau Köthen, [Bezirk] Halle, kam es zu folgenden Diskussionen: »In Polen reißt man die roten Fahnen herunter und verlangt die Absetzung der kommunistischen Regierung. Es sind schon über 40 Tote. Militär und Panzer sowie andere Waffen mussten eingesetzt werden.« Außerdem kam es im Betrieb zu einer kleinen Meuterei. Die Arbeiter sind mit ihrer Entlohnung nicht einverstanden. Einige Brigaden nahmen deshalb am 29.6.1956 die Arbeit nicht auf, sondern standen in Gruppen herum und diskutierten. Der Anlass dazu war, dass die Lohnscheine von den Brigadieren und der Abt. Technologie nicht zum Lohnbüro weitergegeben wurden. Die Arbeiter verlangten deshalb bis 14.00 Uhr eine Klärung in dieser Angelegenheit, andernfalls sie nicht die Arbeit aufnehmen würden. Durch besondere Maßnahmen wurde das Geld ausgezahlt und die Arbeiter nahmen die Arbeit wieder auf.
Im Objekt 101 der Wismut in Zwickau waren heftige Diskussionen festzustellen, da die zusätzliche Lebensmittelkarte 4 an die Angehörigen der Wismut nicht mehr ausgegeben werden sollte.11 Dieses wurde jedoch geklärt in dem Sinne, dass diese Karten weiter ausgegeben werden sollen. Als das am 29.6.1956 im Objekt 101 bekannt gegeben wurde, entstand folgende Diskussion: »Dies haben wir nur erreicht, weil in Polen dieser Aufstand war, damit es hier nicht auch so kommt.«
Androhung von Arbeitsniederlegung
Aus dem Kunstseidenwerk Premnitz, Kreis Rathenow, wurde Folgendes bekannt: Durch Arbeitsumstellungen im Werk kam es in der Spinnerei 1 zu einem Abfall in der prozentualen Erfüllung und somit zu einer geringeren Lohnsumme der Arbeiter. Der Verdienst war dadurch in der Spinnerei 1 niedriger als in der Spinnerei 2, wo er normal ist. Die Arbeiter fordern schon längere Zeit die Angleichung an ihren alten Lohn. Es wurde bekannt, dass die Arbeiter der Schicht, die heute früh um 7.00 Uhr ihre Schicht beendeten und um 23.00 Uhr wieder beginnen, sich geäußert haben, dass sie die Arbeit niederlegen wollen, wenn bis heute 23.00 Uhr keine Regelung erfolgt ist. Weiterhin ist zu sagen, dass im gesamten Kunstseidenwerk die schlechte und unzufriedene Stimmung wegen der Auszahlung der Quartalsprämien nach wie vor vorhanden ist.
Am 29.6.1956 wurde in der Toilette der Montagehalle im RAW Berlin-Schöneweide in 1 cm großer Schrift mit Kopierstift folgende Losung angebracht. »Wir gehen solidarisch mit den Arbeitern von Posen. Gegen die Sowjets und Unterdrücker der freien Völker Polens.«
Am 28.6.1956 erhielt das Kreispostamt Luckenwalde, [Bezirk] Potsdam, einen Brief, in dem sich ein »Neues Deutschland« vom 27.6.1956 befand. Über »Neues Deutschland« war mit Tinte geschrieben »Wir fordern Freiheit und nicht Unterdrückung, nieder mit den Normen«. In der Spalte Jahrgang, Datum usw. war geschrieben: »Im Auftrage von Luckenwalde, CDU-Partei.« Die Überschrift des Artikels: »Bonn schränkt Reiseverkehr ein«, war abgeändert in »DDR schränkt Reiseverkehr ein«. Weiterhin waren die wichtigsten Artikel mit »Lügen« überschmiert. Bei der Überschrift »Adenauer will kalten Krieg verschärfen«, war Adenauer durchgestrichen und dafür »Pieck« eingesetzt.12 Ferner befanden sich in dem Umschlag eine »Potsdamer Tageszeitung« 1. Ausgabe Juni 195613 und ein weißer Zettel in der Größe 10 × 5 cm, auf dem geschrieben war: »Nieder mit der DDR – im Auftrage der CDU – Otto«.14
In der Nacht vom 28. zum 29.6.1956 wurden in der Stadt Schleiz, [Bezirk] Gera, in der Pfortengasse 28 selbstgefertigte Hetzschriften, welche mit Schreibmaschine beschriftet und eine Hetze gegen unsere Regierung sowie den Genossen Ulbricht und Pieck beinhalten, vor Haustüren und Wohnungen u. a. auch vor Wohnungen von Volkspolizisten abgelegt. Bei diesen Hetzschriften handelt es sich um dieselben Formate, über welche schon mehrmals berichtet wurde.