Stimmung zu den Unruhen in Posen (2)
3. Juli 1956
Information Nr. 49/56 – Betrifft: Stimmung zu den Provokationen in Poznan (2. Bericht)
Der Umfang der Stellungnahmen zu den Ereignissen in Poznan hat seit Bekanntwerden erheblich zugenommen.1 Es liegen wiederum Diskussionen aus allen Bevölkerungsschichten vor. Weiterhin ist jedoch festzustellen, dass die Mehrzahl der geführten Diskussionen positiven Charakter tragen und Personen aller Bevölkerungsschichten darin die Verurteilung der Machenschaften dieser Provokateure zum Ausdruck bringen. Auch wird in der Mehrzahl der positiven Argumente anerkannt, dass diese Unruhen von außen her organisiert wurden und deshalb die Maßnahmen der Sicherheitsorgane gerechtfertigt wären. Charakteristisch dafür sind folgende Argumente:
Im Bahnbetriebswerk Berlin-Grünau erklärte ein parteiloser Schlosser: »Man muss nur staunen, wie das die Geheimzentralen so organisieren. Erst den Spionagetunnel2 und jetzt den Aufstand in Posen. Hier sieht man, welche Verbindungen trotz der verstärkten Kontrollen an den Grenzen vorhanden sind. Die Staatsorgane waren in Polen besser auf Draht, als wir damals am 17.6.1953 in der DDR, wo eine Niederschlagung des Aufstandes nur mit Unterstützung der Roten Armee möglich war. Ich habe schon mit vielen Kollegen darüber gesprochen, die ebenfalls wie ich diese Machenschaften der Agenten verachten.«
In der Fabrik 93 der Wismut in Freital, [Bezirk] Dresden, brachte ein Baggerführer unter seinen Arbeitskollegen Folgendes zum Ausdruck: »Die Provokationen in Poznan tragen den gleichen Charakter wie im Juni 1953 bei uns. Es ist eine Horde Halunken, welche keine Lust hat zum Arbeiten und für ein paar Groschen für den imperialistischen Geheimdienst gegen anständige Arbeiter loszieht. Auch hier haben sie sich genauso verrechnet wie bei uns und haben die Standhaftigkeit der Arbeiterklasse zu spüren bekommen. Es ist bloß schade um die Genossen und Arbeiter, die von den Schurken erschossen wurden. Trotz des schweren Weges und der Hindernisse vonseiten der Agenten und Spione wird auch das polnische Volk den Weg zum Sozialismus weitergehen und das Ziel erreichen.«
Ein Brigadier der LPG Angermünde, [Bezirk] Frankfurt/O., erklärte, »das ist beinah so wie es bei uns gewesen ist. Die Polen haben genug Polizei und die werden mit den Agenten schon fertigwerden.«
Ähnliche Diskussionen von Personen aller Bevölkerungsschichten liegen aus allen Bezirken vor.
Die negativen Diskussionen sind zum großen Teil auf den Einfluss der Nachrichten durch die Westsender sowie andererseits auf Unklarheiten unter der Bevölkerung zurückzuführen. Charakteristisch für die Diskussionen, in denen offensichtlich der Einfluss westlicher Sender zum Ausdruck kommt, sind folgende Stellungnahmen:
Ein Arbeiter in der Mathias-Thesen-Werft in Wismar, [Bezirk] Rostock, erklärte: »Es wurde heute morgen in der Malerei und Entrostung erzählt, dass außer in Poznan auch in Warschau Aufstände ausgebrochen sind, die von der Miliz bekämpft werden. Es wurde hierbei von 40 Toten gesprochen.«
Im VEB Baumwollwerk Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt, brachte ein Arbeiter zum Ausdruck, »die nach 1945 umgesiedelten Polen, welche in den ehemaligen deutschen Gebieten angesiedelt wurden, sollten wieder ausgesiedelt werden und an deren Stelle wieder Deutsche in diese Gebiete kommen. Aus Protest darüber sei es zu diesen Unruhen gekommen. Über dem Stadtgebiet von Posen würden laufend Kampfflugzeuge kreisen.«
Ein Zigarrenhändler in Mühlen, [Kreis] Eisenach, [Bezirk] Erfurt, erklärte seinen Kunden: »In Polen geht es jetzt hoch her, jetzt werden bald wieder die Grenzen so verlegt, wie sie im Jahre 1937 waren. Die drei Westmächte werden sich in Kürze zusammensetzen und den Vorschlag bringen, dass die Oder-Neiße-Grenze verschwinden muss. Sind die Russen damit nicht einverstanden, ist es ein Zeichen, dass sie nicht für den Frieden sind.«
Im Kraftwerk Trattendorf, [Bezirk] Cottbus, äußerte ein Arbeiter: »Ich habe etwas über schwere Unruhen in Polen gehört. Dort haben die Arbeiter eine Arbeiterabordnung mit Forderungen zur Regierung geschickt, welche aber verschwunden ist. Daraufhin brachen schwere revolutionäre Zustände aus. Militär mit schwersten Waffen war eingesetzt.«
Im VEB Stickstoffwerk Piesteritz, [Kreis] Wittenberg, [Bezirk] Halle, sagte ein Meister: »Vom gesamten Messegelände in Poznan wurden die Fahnen und Transparente abgerissen und die Messebesucher sind aufgrund dieser Vorkommnisse abgereist.«3
In ähnlicher oder gleicher Weise wurden Diskussionen aus allen Bezirken bekannt.
Für die auf Unklarheiten zurückzuführenden Diskussionen sind nachfolgende Stellungnahmen charakteristisch, die in dieser oder ähnlicher Form ebenfalls aus allen Bezirken und unter allen Bevölkerungsschichten bekannt wurden.
So wurde in den Kombinaten 362 und 277 der Wismut in Auerbach die Meinung vertreten, »dass der Putschversuch auf die Rückkehr des ehemaligen Ministerpräsidenten der Exilregierung Polens aus England zurückzuführen sei, die vom polnischen Volk zurückgewünscht würde«.4
Im BW Leipzig-Plagwitz brachte ein Oberlokführer in einer Unterhaltung zum Ausdruck, »dass der Putsch in Poznan von Eisenbahnern ausgegangen sei und deshalb die Eisenbahner hier die polnischen Eisenbahner unterstützen müssten«.
Mehrere Angestellte beim Rat des Kreises Wittstock, [Bezirk] Potsdam, äußerten dazu: »Der Aufstand in Polen war [in] einer Art berechtigt, denn er wurde ausgelöst durch den schlechten Lebensstandard, der dort noch herrscht. Die Menschen leben dort bedeutend schlechter als bei uns hier. Die Bauern müssen z. B. ihre Ware für billiges Geld an den Staat verkaufen, erhalten aber nicht die Industriewaren, die sie benötigen. Bei uns sah es am 17. Juni 1953 ebenso aus. Danach ist es besser geworden und es wird auch jetzt nach dem Aufstand in Polen besser werden.«
Aus allen Bezirken wurden auch wieder Stellungnahmen bekannt, in denen, wie bereits im letzten Bericht5 schon mitgeteilt, davon gesprochen wird, dass es bei uns auch nochmal so kommt, wenn die Versorgung nicht besser wird.
Besondere Vorkommnisse und Feindtätigkeit
In der Zeit vom 27.6. bis 30.6.1956 wurden folgende besondere Vorkommnisse bzw. Feindtätigkeit im Gebiet der DDR bekannt:
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Auf der Baustelle in Wünsdorf, [Kreis] Zossen, [Bezirk] Potsdam, bildeten sich am 29.6.1956 zwei Gruppen von jeweils 15 Arbeitern der Bau-Union Potsdam. Diese tauschten Westzeitungen aus und diskutierten über den Inhalt derselben. Sie sprachen davon, dass die polnischen Arbeiter im Recht seien, wenn sie höhere Löhne verlangen und waren der Meinung, dass auch in der DDR eine Regelung im Prämiensystem erfolgen müsste. Weiter erklärten sie, dass es eine Gemeinheit sei, wenn man die Posener Textilarbeiterdelegation in Warschau verhaftet. Deshalb wären die Streiks und Demonstrationen in Posen gerechtfertigt und das Militär hätte nicht in die Reihen der Demonstranten schießen dürfen. Nach diesen Diskussionen gingen die Arbeiter wieder auseinander und verrichteten ihre Arbeit.
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Am 29.6.1956 nahmen 30 Bauarbeiter des VEB (K) Köthen, die im VEB Stickstoffwerk Piesteritz, [Kreis] Wittenberg, [Bezirk] Halle, arbeiten, ihre Arbeit nicht auf. Der Grund dafür war, dass jeder Arbeiter eine Kündigung des Arbeitsentgeltes bekommen hatte, wonach nicht mehr wie bisher die Ortsklasse A gezahlt wird, sondern die Ortsklasse B,6 was eine beträchtliche Lohnschmälerung der Arbeiter bedeutet. Direkte feindliche Äußerungen wurden nicht festgestellt. Durch das Einwirken fortschrittlicher Arbeiter sowie Mitglieder der SED konnten die Arbeiter – bis auf fünf – davon überzeugt werden, dass sie falsch gehandelt hatten. Der Vorfall zeigt nach den Untersuchungen keine Merkmale, die mit der Provokation in Polen in Verbindung zu bringen sind. Die Diskussionen waren rein fachlicher Art und nicht gegen unsere Entwicklung gerichtet.
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Im Stadtpark Erfurt wurde am dortigen Pavillon am 30.6.1956 folgende Hetzlosung festgestellt: »Gruß den Arbeitern in Posen«.
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Im Landmaschinenwerk VEB Barth, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, wurde in der Toilette folgende Hetzlosung angeschmiert: »Achtung, jetzt kommt der Tag der Rache, Polen macht sich frei.«
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Am 30.6.1956 fuhr in Fürstenberg/Oder aus der Volksrepublik Polen der Güterzug 19 327 ein. Durch einen Lademeister wurde am Wagen PKP7 45 06 75, der mit Steinkohle beladen war, folgende Hetzlosung in deutscher Schrift festgestellt: »Deutsche auf zum Generalstreik, weg mit den Kommunisten.«
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Am 30.6.1956 wurde im Kombinat Böhlen, [Bezirk] Leipzig, an einer Anschlagtafel im Kraftwerk folgende Hetzlosung festgestellt: »Der Streik ist berechtigt«.
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Die Kreisleitung der SED in Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, erhielt am 30.6.1956 eine Postkarte, Poststempel 29.6.1956 Delitzsch, folgenden Inhalts zugestellt: »Kreisleitung Eilenburg SED zum Aufstand in Posen. Genau derselbe alte Schwindel wie 1953 in Berlin. Es sollen imperialistische Agenten und eine Untergrundbewegung gewesen sein! Nein! – Hier wie dort ist es der Aufschrei eines geknechteten Volkes. Deshalb auch Schluss bei uns mit den Pankower Verbrechern, mit Spitzbart.8 Fort mit Euch Bonzen, raus mit den Russen, die größten Feinde von uns, weil sie keine freien Wahlen wollen. Bund Freies Deutschland.«9
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Beim Rat des Stadtbezirkes Berlin-Friedrichshain ging am 30.6.1956 eine Postkarte folgenden Inhalts ein: »Wie lange wollt Ihr Bürokraten noch warten mit der Umbenennung der Massenmörder-Straße Stalin?10 Es gärt doch überall, das deutsche und Berliner Volk will von solchen brutalen Tyrannen nichts wissen. Die Figur vor der Sporthalle macht zu Schrott, mehr ist der Verbrecher an den Völkern nicht wert. Wir können gut helfen und schmeißen den Strolch vom Sockel. Der 17. Juni 1953 ist in Posen angebrochen, also beeilt Euch, sonst helfen wir nach.« Die Karte trug als fingierten Absender: »Wendland, Weißensee.«
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An der Wandzeitung im Erdgeschoss der Bezirks-Direktion für Post- und Fernmeldewesen, Berlin W 8, Jägerstraße 67/68, wurde am 29.6.1956 die Ausgabe der Westberliner BZ angebracht. Die Zeitung war so befestigt, dass die Bildreportagen von den Unruhen in Poznan sichtbar waren.11 Nach bisher unüberprüften Angaben erklärte in einer privaten Unterhaltung ein Angestellter des Westberliner Senats, »die Flüchtlingsstellen hätten ganz eilig einige schon aufgegebene Flüchtlingslager neu eingeräumt. Auch das Aufnahmelager Marienfelde12 sei für Neuaufnahmen eingerichtet worden. Aus dem Möbellager Spenerstraße13 seien am 30.6.1956 mehrere Lkw mit Einrichtungsgegenständen zu den verschiedensten Lagern gebracht worden.«
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Angehörige des Reichsbahn-Wachdienstes, Mitglieder der SED, gaben an, dass sie des Öfteren von Personen auf dem Bahnhof Marienfelde14 angesprochen und nach dem »Flüchtlingslager« befragt wurden. Nach ihrer Meinung war es bisher noch nicht der Fall, dass sie auf diesem Bahnhof so oft angesprochen worden sind.