Stimmung zu Lohnfragen (6)
24. August 1956
Information Nr. 169/56 – Betrifft: Stimmung zu Lohnfragen (6. Bericht)
Wiederum wurden aus einer Reihe Industriebetriebe Diskussionen über Lohnfragen bekannt. Die Beschäftigten bringen dabei nach wie vor ihre Unzufriedenheit und Missstimmung über Folgendes zum Ausdruck:
- 1.)
Zu niedrige Entlohnung
- 2.)
Unterschiedliche Lohnzahlung
- 3.)
Zum Ortsklassensystem1
1.) Zu niedrige Entlohnung
In den meisten bekannt gewordenen unzufriedenen Diskussionen der Beschäftigten der verschiedensten Industriebetriebe wird immer wieder die Meinung vertreten, dass ihre Entlohnung zu niedrig sei. Dabei werden häufig in den Diskussionen Vergleiche zu anderen Industriezweigen oder gleichgearteten Betrieben gezogen. Die Unzufriedenheit über die Entlohnung ist mit eine Hauptursache der Fluktuation von Arbeitskräften. Vereinzelt werden auch Forderungen auf bessere Bezahlung erhoben sowie Arbeitsniederlegung angedroht.
In der Ziegelei [Bad] Langensalza, [Bezirk] Erfurt, ist unter der Arbeiterschaft eine schlechte Stimmung zu verzeichnen. Die Diskussionen laufen darauf hinaus, dass man die Arbeit niederlegen will, da die Arbeitsbedingungen zu primitiv sowie die gezahlten Löhne zu niedrig sind.
Im VEB Pappen- und Papierfabrik Ziegenrück, [Bezirk] Gera, vertraten die Transportarbeiter die Ansicht, dass ihr Lohn zu niedrig sei. Dabei wurden Äußerungen wie folgt geführt: »Die Bezahlung, die wir erhalten, ist zu niedrig. Der Grundlohn müsste erhöht werden. Es ist auch ungerecht, dass für jeden Überstundenzuschlag und jede Prämie gleich ein erhöhter FDGB-Beitrag zu zahlen ist. Allgemein wird unter den Transportarbeitern die Ansicht vertreten, dass sie die FDGB-Mitgliedsbücher wegwerfen wollen. Des Weiteren lässt sich auch kein Kollege vom FDGB-Kreisvorstand sehen.«
Im VEB Zuckerfabrik Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, herrscht eine schlechte Stimmung über die Entlohnung. Über die Hälfte der Belegschaftsmitglieder hat einen Verdienst von unter DM 300 brutto monatlich. Die Kollegen führen als Beispiel an, dass in der Zuckerfabrik Uelzen/Westdeutschland der Mindestlohn DM 1,60 beträgt. Dazu kommen Deputat, Wohnungs- und Kinderbeihilfen. In einer Versammlung, in der der 1. Sekretär des Bezirksvorstandes des FDGB IG Nahrung und Genuss anwesend war, kam es zu negativen Diskussionen. Dabei wurden einige Zwischenrufe laut, wie: »Gebt uns mehr Essen oder mehr Lohn« oder »In den Staatsorganen sitzen Schweinhunde.«
Seit Beginn des Jahres 1956 haben im staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, 58 Arbeiter gekündigt, da sie mit ihrem Lohn nicht zufrieden waren. Der Leistungslohn liegt bei DM 1,24. Durch diese Unzufriedenheit ist bei den Arbeitern die Arbeitsleistung zurückgegangen, sodass der staatliche Forstwirtschaftsbetrieb mit 10 000 fm2 Holzeinschlag im Rückstand ist.
In den VE Zigarettenfabriken Dresdens (Jasmatzi, Macedonia, Greiling, Union und Kosmos) werden Diskussionen geführt, die eine unverzügliche Erhöhung des Grundlohnes von 1,15 DM beinhalten. Die Produktionsmitarbeiter kritisieren ernsthaft, dass sie dem Staat unermessliche Werte bringen und in der Entlohnung in der Industrie am schlechtesten stehen.
Im VEB Textima Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ist der Zustand zu verzeichnen, dass bereits im 1. Halbjahr 1956 53 Personen, überwiegend Facharbeiter, den Betrieb verlassen haben. Sie brachten zum Ausdruck: »Wir stellen unsere Arbeitskraft zur Verfügung, wollen aber auch unseren Leistungen entsprechend entlohnt werden. Wenn dies hier nicht geschieht, müssen wir uns eben andere Arbeit suchen.«
In der Bau-Union Gera haben wegen Lohnunzufriedenheit seit April dieses Jahres ca. 55 Produktionsarbeiter die Baustellen verlassen. Der Bruttoverdienst beträgt dort im Durchschnitt DM 375. Die meisten der abgewanderten Arbeiter sind in artfremde Betriebe in die Nähe ihrer Heimatorte gegangen.
Im Bahnwerk Schwerin wurden unter den Lokschlossern und Wagenputzern Diskussionen über Lohnfragen geführt, wobei die Lohngruppen der Bundesbahn denen der DDR gegenübergestellt wurden,3 mit der Schlussfolgerung, dass diese höher liegen als bei uns.
Im VEB Abus (Stahlbau) Aschersleben, [Bezirk] Halle, haben verschiedene Dreher die Absicht, ihre Kündigung einzureichen, weil sie in einigen Privatbetrieben des Kreises Aschersleben einen höheren Stundenlohn bekommen. Im VEB Abus ist der höchste Stundenlohn DM 2,00 und die Privatunternehmer Born sowie Reich und Wernige bieten den Drehern einen Stundenlohn von DM 2,40. Die Kollegen vertreten den Standpunkt: »Ich arbeite dort, wo ich am besten bezahlt werde.«
Unter den Arbeitern des Bahnpostamtes Erfurt werden hinsichtlich der Bezahlung schlechte Diskussionen geführt. Man bringt zum Ausdruck, dass ein Straßenkehrer mehr verdienen würde als ein Arbeiter beim Bahnpostamt. Um die Einkommen und Preisverhältnisse zu regeln, spricht man unter den Arbeitern sogar von Streik. Es wird allerdings nicht gesagt, wir müssten streiken, sondern: »Wenn wir uns mit Streik helfen könnten, dann wären alle dabei.«
Die Beschäftigten in den Sanatorien in Lobenstein, [Bezirk] Gera, sind über ihren Verdienst sehr unzufrieden. In den Diskussionen bringen sie zum Ausdruck, dass sie kein Interesse an der politischen Arbeit haben können, wenn sie diese Ungerechtigkeit sehen, dass die Ärzte 2 000 bis 3 000 DM Gehalt bekommen und sie nicht einmal DM 300 verdienen.
Im Bahnwerk Dresden-Altstadt kündigten im Juni zehn Kollegen das Arbeitsverhältnis, da sie mit der Entlohnung bei der Eisenbahn nicht mehr zufrieden sind. Fünf Kollegen nahmen ihre Arbeit im Industriewerk Dresden auf.
Unter den Arbeitern des VEB »Otto Schlag« des Braunkohlengebietes Hohenmölsen, [Bezirk] Halle, besteht eine schlechte Stimmung, hervorgerufen durch schlechten Verdienst. Hier verdienen verschiedene Arbeiter, welche drei und vier Kinder haben nur DM 260 bis DM 280 monatlich. Diese Arbeiter stehen auf dem Standpunkt, dass sie mit diesem Verdienst keine Familie ernähren können. Fluktuationsäußerungen sind an der Tagesordnung. Ein Arbeiter vom Abraum äußerte sich im Lohnbüro, dass er aus der Partei und Gewerkschaft austritt, falls hier keine Regelung erfolgt.
2.) Unterschiedliche Bezahlung
Durch die Unterschiede in der Lohnzahlung gleichartiger Betriebe und Berufe kommt es immer wieder zu Unzufriedenheit unter den Beschäftigten. So treten in der Schiffswerft Roßlau, [Bezirk] Halle, die Diskussionen über den Lohngruppenkatalog dann verstärkt auf,4 wenn Beschäftigte aus den Ostseewerften in Roßlau weilen. Da gibt es immer wieder die Frage, warum bekommt ihr drüben auf Lohngruppen 5 bis 8 so viel Geld und wir in Roßlau so wenig.5
Unter den Transportarbeitern des VEB Stahlbau Niesky, [Bezirk] Dresden, gibt es schon längere Zeit heftige Diskussionen über die schlechte Bezahlung. Verstärkt treten jetzt diese Diskussionen auf, da im VEB Waggonbau Niesky die Transportarbeiter in Leistungslohn genommen wurden. Ein Arbeiter brachte Folgendes zum Ausdruck: »Die Transportarbeiter werden in unserem Betrieb als fünftes Rad am Wagen bezeichnet und erhalten einen Stundenlohn von 1,28 DM. Jetzt ist es schon soweit, dass keiner mehr als Transportarbeiter arbeiten will.«
Unter den Arbeitern des VEB Eisenerzgruben Schmiedefeld, [Kreis] Neuhaus, [Bezirk] Suhl, wird bezüglich der bestehenden Lohngruppen die Meinung vertreten, dass die Unterschiede der Lohngruppe 4 und 8 zu krass seien. Die Arbeiter begrüßen die Einführung des Lohngruppenkataloges und sind der Ansicht, dass dann vielleicht der Unterschied wegfällt. So wird z. B. in der Lohngruppe 4 für die Schicht 12,60 DM und in der Lohngruppe 8 pro Schicht DM 30,00 gezahlt.
Im Stahlwerk Gröditz, [Bezirk] Dresden, ist eine der Hauptursachen der schlechten Stimmung die Einstufung von neueingestellten Arbeitskräften. Die Einstufung erfolgt immer eine Lohnstufe tiefer als bei länger beschäftigten Arbeitskräften, obwohl die gleiche Arbeit geleistet wird. Vom überwiegenden Teil wird deshalb so diskutiert, dass unser eigener Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« in der DDR nicht mehr garantiert sei. Die Auswirkungen zeigen sich so, dass ein Neueingestellter gegenüber einem älteren Betriebsangehörigen ca. 100 DM monatlich weniger verdient. Da auch diese niedrige Einstufung bei Kollegen angewandt wurde, die aus der KVP zurückkommen und vorher bereits im Betrieb gearbeitet hatten, spricht man im Besonderen die Jugendlichen an: »Sie sollen ja nicht zur KVP gehen, da sie ja sehen, dass dies eine Strafe ist.«
Im Wismut-Objekt 36 Karl-Marx-Stadt herrscht unter den Beschäftigten eine schlechte Stimmung. Die Ursache dazu ist, dass Arbeiter, die von anderen Objekten hierhin versetzt werden, zwar in derselben Lohnstufe sind, aber trotzdem weniger Gehalt bekommen. So erhielten sie erst in der Lohnstufe 5 12,60 DM und erhalten jetzt nur noch 11,52 DM. Darüber hinaus erhalten sie keinen 40%-Zuschlag mehr, obwohl sie mit Säure arbeiten.
Im VEB Dampfkesselbau Dresden-Übigau besteht zwischen den Jugendlichen und den älteren Kollegen eine unterschiedliche Entlohnung, die durch die Bezahlung und Nichtbezahlung der Mittagspause vorhanden ist. Die älteren Kollegen arbeiten in drei Schichten zu acht Stunden, wobei eine halbe Stunde Mittagspause mitbezahlt wird. Die Jugendlichen arbeiten 7½ Stunden, sind aber 8 Stunden im Betrieb und bei ihnen wird die Mittagspause nicht bezahlt. Über diese Regelung diskutieren die Jugendlichen sehr negativ.
Vom VEB Chema Rudisleben, [Kreis] Arnstadt, [Bezirk] Erfurt, weilte eine Gruppe von Interessenten der Produktionsleitung, Technologie und Schlosser zu einem Erfahrungsaustausch in dem Dampfkesselbaubetrieb Dresden-Übigau, aus Anlass des Exportauftrages von 240 Kesseln für die Volksrepublik China. Die Beschäftigten, vor allem die Schlosser, interessieren sich außerdem für die Lohnverhältnisse in diesem Betrieb. Dabei konnte festgestellt werden, dass der dortige Durchschnittsverdienst eines Schlossers DM 500 netto beträgt, also weit mehr als im VEB Chema Rudisleben.
3.) Zum Ortsklassensystem
Immer wieder gibt es unter den Arbeitern größere Diskussionen über die unterschiedliche Bezahlung nach den Ortsklassen.6 Besonders stark tritt dies in der Bauindustrie auf, da verschiedentlich auf den Baustellen nach zweierlei Ortsklassen gezahlt wird, obwohl die Arbeit die gleiche ist. Das führt ebenfalls dazu, dass Bauarbeiter aus Betrieben mit niedriger Ortsklasse in andere Betriebe abwandern, die in eine höhere Ortsklasse eingestuft sind.
Starke Diskussionen löste der Ministerratsbeschluss vom 1.6.1956 aus, der besagt, dass alle Bau-Unionen nach der Ortsklasse A bezahlen, ohne Rücksicht darauf, was und wo sie arbeiten.7 Die Maurer, Arbeiter und Angestellten des VEB Bau in Frankfurt/O. [und] des Betonwerkes erhalten weiter die Ortsklasse B und fordern nochmals eine endgültige Klärung, dass auch sie nach der Ortsklasse A entlohnt werden. So stellten mehrere Brigaden des VEB Bau Frankfurt/O. die Forderung: »Wenn wir nicht Ortsklasse A erhalten, werden wir auch aus dem FDGB austreten, sparen Beiträge ein und werden dadurch nicht allzu sehr geschädigt. Im Übrigen wollen sie, wenn keine Klärung erfolgt, kündigen.« In diesem Zusammenhang brachten sie auch zum Ausdruck, dass der FDGB nicht ihre Interessen vertritt.
In den Kreisen Perleberg, Hagenow und Güstrow, [Bezirk] Schwerin, ist ein Abwandern aus den Kreisbauhöfen zur Bau-Union Schwerin festzustellen, da diese nach Lohnklasse A zahlt. Hinzu kommt, dass gerade die Kreisbauhöfe mit dem ländlichen Bauwesen stärker beschäftigt sind als die Bau-Unionen. Dadurch tritt ein, dass die Baupläne in den genannten Kreisen nicht erfüllt werden können.
Im VEB Lederfabrik Hirschberg, [Kreis] Schleiz, [Bezirk] Gera, werden in verschiedenen Abteilungen des Betriebes, wie Kesselhaus, Maschinenhaus, Maurerei und Zimmerei, Diskussionen über Lohnfragen geführt. Besonders stark treten diese in der Maurerei in Erscheinung, da im genannten Betrieb Arbeiter vom Kreisbaubetrieb beschäftigt sind und diese von der Ortsklasse C nach B eingestuft wurden. Die Kollegen der Abt. Maurerei sind der Meinung, dass auch sie einen höheren Lohn erhalten müssen.
Im VEB Sanar, Werk Königsbrück, [Kreis] Kamenz, [Bezirk] Dresden, wird von einigen Arbeitern die Meinung vertreten, dass das Ortsklassensystem abgeschafft werden müsste, da der Lebensunterhalt in der Stadt keineswegs höher liegt als auf dem Lande. Als Beispiel führten sie Folgendes an: Ein Meister, beschäftigt in Königsbrück, hat einen Verdienst von 497 DM, wogegen ein Meister, beschäftigt in Dresden, bei gleicher Qualifikation und gleicher Arbeit 600 DM verdient. Durch diese unterschiedliche Bezahlung wurde Fluktuation hervorgerufen, durch die im VEB Sanar-Werk in einzelnen Abteilungen erhebliche Schwierigkeiten eintraten.