Stimmung zum 28. Plenum des ZK der SED (1)
17. August 1956
Information Nr. 158/56 – Betrifft: Stimmung zum 28. Plenum des ZK der SED
Zu den Beschlüssen der 28. Tagung des ZK der SED wird von den Werktätigen in den Industrie- und Verkehrsbetrieben hauptsächlich zu den wirtschaftlichen Problemen Stellung genommen.1 Besonders wird über den Wegfall der Lebensmittelkarten2 sowie über die Einführung eines neuen Rentensatzes diskutiert.3 Zu diesen Fragen kann man eine allgemeine Zustimmung feststellen. Jedoch treten noch unter einem großen Teil von Werktätigen Unklarheiten über diese Fragen auf.
Diskussionen über die politische Bedeutung des 28. Plenums, wie Gewinnung von Kandidaten für unsere Partei oder Erhöhung der Arbeitsproduktivität, wurden verhältnismäßig sehr wenig bekannt. Die bisher bekannt gewordenen Äußerungen stammen meist von Mitgliedern der SED und sind in ihrem Inhalt positiv. Unter der Landbevölkerung stehen neben den wirtschaftlichen Problemen, wie in den Industrie- und Verkehrsbetrieben, Diskussionen über die Abschaffung der MTS-Tarifgruppe 4, die Streichung der Sollrückstände sowie über die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion im Vordergrund.4
Unter den verschiedenen Bevölkerungsschichten wurden zu den einzelnen Fragen folgende Argumente bekannt:
Zur Aufhebung der Lebensmittelkarten
Wie aus den Diskussionen zu entnehmen ist, befürchtet ein großer Teil der Arbeiter und Angestellten, dass bei der Abschaffung der Lebensmittelkarten dann der Zustand eintritt, dass es zeitweise kein Fleisch und Fettigkeiten geben wird. Begründet wird diese Ansicht damit, dass schon jetzt die Belieferung auf HO-Basis bei diesen Waren nicht immer sichergestellt bzw. gewährleistet ist. Ein anderer Teil von Arbeitern, besonders unter denen, die einige Kinder haben, sowie von Rentnern wird die Meinung vertreten, dass nach Abschaffung der Lebensmittelkarten die Preise derart hoch sind, dass man sich nichts mehr kaufen kann. Über die Aufhebung der Lebensmittelkarten gibt es auch vereinzelt Stimmen, die an den Ausführungen Walter Ulbrichts zweifeln und sie als leere Versprechungen auslegen. Weit verbreitet ist auch das Argument, dass man lieber die Marken beibehalten und dafür die Rationen erhöhen soll. Charakteristisch dafür sind folgende Beispiele:
Im Ministerium Handel und Versorgung wird die Frage der Aufhebung des Kartensystems sehr skeptisch und z. T. misstrauisch aufgenommen. In den Diskussionen wird die Möglichkeit einer kontinuierlichen Warenbereitstellung infrage gestellt. Dabei wird besonders auf die derzeitige Lage in der Butter- und Fleischversorgung hingewiesen und erklärt, in der Republik hat es sehr oft längere Zeit keine HO-Butter und auch kein Fleisch gegeben.
Der Werkarzt aus dem VEB Kaliwerk »Marx-Engels« Unterbreizbach, [Kreis] Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, äußerte sich wie folgt: »Ich habe Bedenken wegen der Abschaffung der Lebensmittelkarten, da doch die Warenstreuung jetzt schon schlecht ist. Ich muss mir z. B. Wurst und Kartoffeln aus Eisenach holen, weil dies in Unterbreizbach selten zu haben ist.« Ähnliche Stellungnahmen wurden auch aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Cottbus, Gera, Magdeburg und Frankfurt/O. bekannt.
Ein Teil der Arbeiter des VEB Bauhofes Angermünde, des VEB Bekleidungswerkes Frankfurt/O., Arbeiter und Angestellte des RAW Eberswalde und des VEB Kranbau Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O., sind über die Preisgestaltung nach Wegfall des Kartensystems folgender Meinung: Nach dem Wegfall des Kartensystems würde die Lebenshaltung zu teuer werden, da ja die Preise steigen müssten. Man soll lieber die Grundkarte erhöhen und auf die Aufhebung des Kartensystems für die nächste Zeit verzichten, oder die HO-Preise werden bedeutend gesenkt.
Ein Buchhalter aus [der] Wirtschaftskontrolle der Warnowerft Warnemünde, [Bezirk] Rostock, ist folgender Meinung: »Es besteht bei einem großen Teil der Menschen die Befürchtung, dass bei der Erhöhung der Preise auch Brot (zzt. mit Subventionen gestützt) gemeint ist und dass ferner Gas, Strom, Brennstoffe und Mieten eine Erhöhung bzw. Angleichung an Westdeutschland erfahren. Kollegen, welche mehrere Kinder haben, ziehen daraus die Feststellung, dass sich dadurch ihre Lebenslage verschlechtern würde.« Ähnliche Argumente liegen auch noch aus den Bezirken Suhl, Potsdam, Cottbus, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Gera und aus Berlin vor.
In verschiedenen Stellungnahmen werden Zweifel geäußert, ob die Versprechungen von Walter Ulbricht gehalten werden können. Eine Arbeiterin aus der Konsumgenossenschaft Bautzen, [Bezirk] Dresden, sagte: »Man hat schon einmal für einen bestimmten Termin angekündigt, dass die Marken in Wegfall kommen und jetzt kündigt man es wieder an. Hoffentlich ist es gründlich überprüft, ob dann alle Waren reichlich vorhanden sind, denn wenn es wieder zu Engpässen kommt, wird die Bevölkerung kein Verständnis haben. Man sollte dann lieber die Marken belassen, ganz gleich, ob in Westdeutschland darüber gelacht wird.« Ein Arbeiter aus Gotha, [Bezirk] Erfurt, Mitglied der LDPD sagte: »Wenn man uns nicht schon so viel veralbert hätte, würde man vielleicht noch an eine Besserung glauben, aber so glaubt ja doch niemand mehr an solche Märchen.« Gleiche Diskussionen werden noch aus den Bezirken Dresden und Gera bekannt.
Für die Beibehaltung der Marken sprach sich ein Teil der Arbeiter aus den Jenaer Großbetrieben aus, wie VEB Zeiss, Schott und Jenapharm. So sind sie z. B. der Meinung, dass man das Kartensystem bei Fettwaren beibehalten soll, denn bisher ist es ja so gewesen, dass die Fettwaren auf die Lebensmittelkarten bis Mitte des Monats gelangt haben und dann die Erlangung dieser Waren in der HO keinesfalls gesichert war.
Ein großer Teil der Angestellten im Konstruktionsbüro für Schwermaschinenbau, Berlin, ist der Meinung, dass man lieber die Kartenrationen erhöhen sollte, denn darin besteht eine gewisse Sicherung der Versorgungslage. Ähnliche Beispiele liegen noch aus anderen Betrieben dieser Bezirke sowie aus den Bezirken Frankfurt/O. und Magdeburg vor.
Zur Einführung eines neuen Rentengesetzes
Über die Frage der Rentenerhöhung werden in allen Bezirken überwiegend positive Diskussionen geführt. Darin kommt zum Ausdruck, dass die 28. ZK-Tagung für die Rentner große Vorteile bringen wird.
Jedoch treten auch hier unter einem großen Teil von Arbeitern Unklarheiten auf bzw. sind sie nicht damit einverstanden, dass die Renten nach dem Verdienst der letzten fünf Jahre berechnet werden. Sie sehen in der vorgeschlagenen Festsetzung der Renten nach der Höhe des durchschnittlichen Verdienstes der letzten fünf Jahre eine Ungerechtigkeit. Sie sind der Meinung, dass es einen Höhepunkt des menschlichen Schaffens gibt und Männer, die eine schwere körperliche Arbeit ausüben oder eine verantwortliche Funktion einnehmen, nur etwa bis zum 50. Lebensjahr durchhalten können. Es sei deshalb ungerecht, bei der Festsetzung der Rente nicht die Zeit mit zu berücksichtigen, in der sie die größte Leistung ihres Lebens aufzuweisen hatten.
Charakteristisch dazu sind folgende Stellungnahmen: Unter den Beschäftigten des Schwerarmaturenwerkes »Erich Weinert« in Magdeburg gibt es darüber starke Diskussionen, dass zur Berechnung der Rente der Gesamtverdienst der letzten fünf Jahre zugrunde gelegt werden soll. Hiermit erklären sich die meisten Arbeiter nicht einverstanden und argumentieren in der Form, dass sie in den letzten fünf Jahren nicht mehr leistungsfähig sind und deshalb nicht mehr so viel verdienen können wie vorher. Derartige Diskussionen traten in allen Bezirken in breitem Maße auf.
Vereinzelt werden außerdem folgende Meinungen vertreten: Im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam, sind sich die Beschäftigten darüber noch nicht im Klaren, ob Frauen, die nicht bis zur Altersgrenze arbeiten, auch Rente bekommen. Im Geräte- und Reglerwerk Teltow, [Bezirk] Potsdam, wird vereinzelt die Meinung vertreten, »dass die Erhöhung der Renten der Bundesrepublik nachgemacht wird,5 damit aus der DDR nicht alte Leute weglaufen«.
Diskussionen in der Landwirtschaft
Die Vorschläge des 28. Plenums des ZK zur Weiterentwicklung der Landwirtschaft findet unter den Bauern großen Widerhall. In den Diskussionen kommt zum Ausdruck, dass die Ausführungen zwar anzuerkennen sind, sie sich auch für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion einsetzen wollen, dass aber zugleich auch die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen.
So sagte z. B. der Landwirt [Name] aus Zeesen, [Kreis] Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam: »Wir sind durchaus bereit, tatkräftig an der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion mitzuarbeiten. Wir wünschen jedoch, dass wir endlich auch die notwendigen Baustoffe erhalten, um unsere Stallungen, Jauchegruben usw. in Stand zu setzen. Ebenfalls muss für genügend Kunstdünger und besonders für besseres Saatgut gesorgt werden. Außerdem wird es höchste Zeit, dass durchgreifende Maßnahmen gegen die Wildplage eingeleitet werden, da diese Erscheinungen die Entwicklung der Landwirtschaft stark hemmen.« Derartige Diskussionen wurden aus dem Bezirk Magdeburg und Potsdam bekannt.
Die Streichung der Sollrückstände findet bei den Bauern besonders große Beachtung. Jedoch ist man dabei geteilter Meinung. So vertritt der Teil der Bauern, die stets ihr Soll erfüllten, die Meinung, dass sie jetzt betrogen werden und dass die Bauern, die ihr Kartoffelsoll nicht erfüllten, sich aber Schweine fütterten und diese auf freie Spitzen ablieferten,6 die Schlauen sind. Diese Diskussionen waren zu verzeichnen in den Kreisen Angermünde, Eberswalde, Seelow und Beeskow, [Bezirk] Frankfurt/O., sowie im Bezirk Karl-Marx-Stadt.
Feindpropaganda zum 28. Plenum des ZK
Der Sender RIAS nahm in einer Sendung am 13.8.1956 Stellung zum 28. Plenum des ZK und behauptete, der DDR fehlen die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Wettbewerb mit Westdeutschland. Die Ausführungen auf der 28. Tagung des ZK der SED über den zweiten Fünfjahrplan7 stünden in »unvereinbarem Widerspruch zu den angekündigten Maßnahmen«. Nachdem sich in Westdeutschland die Verwirklichung der Sozialreform und die Verkürzung der Arbeitszeit in einer »nicht mehr fernen Zukunft« abzeichnen, könne auch die DDR nicht mehr umhin, auf sozialistischem Gebiet »etwas zu tun«. »Ulbrichts Erläuterungen sagten die wahren Absichten über die Art der Rentenberechnung, indem er erklärte, damit wolle man Einfluss gewinnen auf die Erzielung höherer Produktionsleistungen und das Wachstum der Arbeitsproduktivität. Den Sowjetzonen-Machthabern ist es also in Wirklichkeit nicht um eine echte Sicherung für den Lebensabend, sondern um die Einführung einer neuen Methode innerhalb ihres Systems der Antreiberei zu immer höheren Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer zu tun.«
Zur Frage der Verkürzung der Arbeitszeit habe Ulbricht »erkennen lassen«, dass sie »ohne Lohnausgleich« durchgeführt werden solle. Die Empfänger von Leistungslohn in den VEB sollten nur in einer Übergangszeit einen Lohnausgleich erhalten, was bedeute, dass sie nach dieser Zeit den Lohnausfall selbst zu tragen hätten. Ulbricht hätte gesagt, die Arbeitszeitverkürzung könne nur das Ergebnis der eigenen Arbeit der Werktätigen sein, d. h. sie könne erst nach einer Erhöhung ihrer jetzigen Arbeitsleistungen eingeführt werden; »damit zeigt sich das angeblich sozialistische Regime in der Sowjetzone auch in dieser Frage, in der es, wenn es vor der Bevölkerung der Zone nicht gänzlich das Gesicht verlieren will, der Entwicklung in der Bundesrepublik nachfolgen muss, unsozialer als manches sogenannte monopolistische Unternehmen in der Bundesrepublik, indem die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich entweder bereits eingeführt ist oder in absehbarer Zeit vor der Einführung steht«. Es sehe also »nicht sehr gut« aus mit der Schaffung der Voraussetzungen für den Wettbewerb zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und Westdeutschland.