Stimmung zum 28. Plenum des ZK der SED (2)
5. Oktober 1956
Information Nr. 233/56 – Betrifft: Stimmung zum 28. Plenum des ZK der SED [2. Bericht]
Die Beschlüsse der 28. Tagung des ZK der SED werden von den Werktätigen in den Industrie- und Verkehrsbetrieben diskutiert.1 Hauptsächlich zu den wirtschaftlichen Problemen finden lebhafte Diskussionen statt, besonders über den vorgesehenen Wegfall der Lebensmittelkarten.2
Aus vorliegendem Material wird bekannt, dass in der Frage der Abschaffung der Lebensmittelkarten große Unklarheiten bestehen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist der Meinung, dass alle Preise (Brot, Kohle, Kartoffeln, Miete usw.) an Westdeutschland angegliedert3 werden. Darin sehen sie eine Verschlechterung ihres Lebensstandards. Rentner und Familien mit mehreren Kindern fühlen sich davon betroffen.
Des Weiteren befürchtet die Bevölkerung, dass die Lebensmittel nicht ausreichen, da gegenwärtig des Öfteren Warenverknappung – HO-Butter, Margarine, Zucker usw.) – eintritt. Vielfach wird diskutiert, dass man die Karten beibehalten und nur die Rationen erhöhen bzw. die Marken voll beliefern soll. Die Parteileitungen haben die Materialien des 28. Plenums ungenügend erläutert. Dazu folgende Beispiele:
- –
Ein Arbeiter aus dem VEB Zellstoff Trebsen,4 [Kreis] Grimma, [Bezirk] Leipzig, äußerte: »Ich blicke mit Sorgen der Zeit entgegen, in der es keine Lebensmittelkarten mehr gibt. Meine Frau und ich, wir arbeiten den ganzen Tag im Betrieb. Ich habe Bedenken, dass es abends in den Geschäften nichts mehr gibt. Wenn jetzt schon Schlangen nach Butter anstehen, wie soll es erst werden, wenn es keine Marken gibt.«
- –
In einem Geschäft in Schulzendorf, [Kreis] Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, diskutieren einige Hausfrauen wie folgt: »Bei Abschaffung der Lebensmittelkarten und bei Angleichung der Preise an Westdeutschland sind wir nicht mehr in der Lage, so viel Lebensmittel zu kaufen wie jetzt.«
- –
In einer Straßenbahn in Potsdam diskutierten Fahrgäste: »Es ist eine gute Sache, dass man die Karten abschaffen will, aber dass die Preise an Westdeutschland angeglichen werden sollen, bedeutet ja, dass wir für alle Waren so hohe Preise zahlen müssen. Man sollte erst einmal die Karten richtig und mit einwandfreier Ware beliefern, dann kann man die Karten abschaffen.«
- –
Ein Traktorist und ein Schlosser von der MTS Libnitz,5 [Kreis] Rügen, [Bezirk] Rostock, äußerten: »Wir begrüßen die Abschaffung der Lebensmittelkarten, sind aber der Meinung, dass wir dann mehr Geld verdienen müssen, da die Butter in Westdeutschland mehr kostet als bei uns auf Marken.«
- –
Auf dem Verschiebebahnhof Buckau, [Stadtteil von] Magdeburg, äußerte ein Arbeiter: »Wenn die Preisangleichung bei uns durchgeführt wird, hört das Schlangestehen bei uns überhaupt nicht mehr auf. Die Lebensmittelkarten dürften noch nicht abgeschafft werden, sonst wissen wir überhaupt nicht mehr, was wir bekommen.«
Diese Beispiele liegen aus allen Betrieben vor.
Zur Einführung eines neuen Rentengesetzes
Die Frage der Rentenerhöhung wird sehr stark diskutiert.6 Allgemein wird diese Maßnahme begrüßt, jedoch wird von einem großen Teil der Werktätigen erklärt, dass sie es nicht für richtig halten, die Rentensätze nach dem Durchschnittsverdienst der letzten fünf Arbeitsjahre zu errechnen. Ein großer Teil ist der Meinung, dass ein Arbeiter in den letzten Jahren nicht die Leistung aufbringt, wie in mittleren Jahren und demzufolge der Rentensatz dann zu niedrig würde. Direkte negative oder feindliche Äußerungen wurden von Arbeitern und Angestellten nicht bekannt. Hierzu einige Beispiele von Diskussionen zur Rentenerhöhung:
Im GHK Textil in Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, vertreten die dort beschäftigten Frauen den Standpunkt: »Es ist richtig, dass man den Menschen, die jahrelang gearbeitet haben, einen entsprechenden Lebensabend zusichert, jedoch finden wir, dass das festgesetzte Rentenalter noch zu hoch ist.«
Im VEB Reifenwerk Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/O., Abteilung mechanische Werkstatt, wird von den Arbeitern die Meinung vertreten, dass bei der Festlegung der Renten die Berechnung des Einkommens der letzten fünf Jahre zu wenig ist, man müsste als Durchschnitt das Einkommen der letzten zehn Jahre nehmen.
Wie in den angeführten Beispielen wird in allen Bezirken diskutiert.
Diskussionen zu politischen Fragen des 28. Plenums
Zu den politischen Fragen des 28. Plenums wird nur sehr vereinzelt gesprochen. Bei der Frage der Erhöhung der Arbeitsproduktivität wird oft über eine Kürzung des Verwaltungsapparates gesprochen. Die Einführung des 7-Stunden-Tages wird allgemein begrüßt, jedoch müssen die Voraussetzungen geschaffen sein, dass sich die Entlohnung nicht verschlechtert.7 Über die Aufnahme von Mitgliedern und Kandidaten wird sehr wenig diskutiert. Uns wurden nur einzelne Beispiele bekannt, wo eine Aufnahme in die Partei abgelehnt wird. Dazu folgende Beispiele:
In einer Versammlung in der Brikettfabrik des VEB Großzössen,8 [Kreis] Borna, [Bezirk] Leipzig, wird von den Arbeitern zum Ausdruck gebracht: »Es hat doch keinen Zweck, die 45- bzw. 40-Stundenwoche einzuführen, wenn der Verdienst nicht besser würde.« Die Gleisbauarbeiter im gleichen Betrieb hegen Zweifel, dass aufgrund des Arbeitskräftemangels der 7-Stundentag eingeführt werden kann.
Ein Arbeiter aus dem Kalkwerk Rüdersdorf sagte: »Wenn sie die Arbeitszeit verkürzen wollen und es soll trotzdem dasselbe geschafft werden, so kann es nur auf Kosten des Arbeiters gehen, denn man kann nicht überall eine neue Technik einführen.«
Ein selbstständiger Geschäftsmann aus Sonneberg, [Bezirk] Suhl, bringt zum Ausdruck: »Ich könnte mir vorstellen, dass der Verwaltungsapparat bei uns auf 50 % gekürzt wird, denn er ist zu sehr aufgebläht. Ich bin viel unterwegs und spreche mit vielen Dienstreisenden. Dabei stelle ich fest, dass der größte Teil aus den Dienstreisen Vergnügungsreisen auf Staatskosten macht.«
Im VEB Kleineisenwaren Trusetal, [Kreis] Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, sagte ein Parteiloser: »Ich wundere mich nicht, wenn sich die Arbeiter immer von der gesellschaftlichen Arbeit zurückziehen. Als Grund hierfür wird im Allgemeinen die hohe Zahl der Angestellten in den VE-Betrieben angegeben. Die Arbeiter sind der Meinung, dass die früheren Besitzer der Betriebe mit der Hälfte der Angestellten ausgekommen wären.«
Im RAW DSF Görlitz wurde in Auswertung des 28. Plenums mit einigen Jugendfreunden eine Aussprache zwecks Gewinnung für die Partei geführt. U. a. wurde ein jugendlicher Dreher angesprochen. Dieser sagte, das müsste er sich reiflich überlegen, da er in vielen Fällen mit den Maßnahmen der Partei nicht klar käme. Auf die Frage, um welche Dinge es sich handelt, wo er nicht klar kommt, antwortete er: »Z. B. kann ich nicht verstehen, dass wir immer von Preissteigerung des Westens sprechen, wenn bei uns die Preise auch immer in die Höhe gehen. Bei uns geht das nur stillschweigend, aber man sieht es doch von Jahr zu Jahr. Vor Jahren waren die Waren weit billiger als heute. Man erzählt uns wohl, dass es sich um bessere Qualität handelt, aber das kann ich nicht glauben.« Bei der Auswertung dieser Aussprache in der BPO und BGL kamen die Genossen zu der Schlussfolgerung, dass hier der RIAS im verstärkten Maße seine Hand im Spiele hat.
Angehörige der Intelligenz zum 28. Plenum des ZK der SED
Ein parteiloser Ingenieur aus dem VEB Feinmeß Suhl sagte: »Endlich ein Beschluss eurer Partei, der helfen wird, vieles, was bisher ungerecht oder falsch war, zu ebnen. Wir haben wieder Vertrauen gefasst, weil wir (Intelligenz) nicht mehr als 5. Rad am Wagen betrachtet werden. Ich begrüße besonders die Demokratisierung. Durch diese Maßnahmen hat man mehr Freude an der Arbeit und man verspürt recht gut den frischen Wind. Schon viel eher hätte eure Partei so arbeiten sollen, dann wären nicht so viele nach dem Westen abgehauen. Zur Regierung habe ich sowieso mehr Vertrauen als zu den anderen Funktionären, das sind meist nur Theoretiker mit angelerntem Wissen, die aber zu dumm sind, dass was die Regierung will, auch unten für das Volk zu verwirklichen.«
Ein Konstrukteur aus dem gleichen Werk, ehemaliges Mitglied der NSDAP, heute Mitglied der SED, erklärte: »Das 28. Plenum ist gut, wird aber unten wieder verwässert. Man will z. B. den Dogmatismus und den Kult beseitigen, dafür hat sich ein neues Schlagwort breit gemacht: ›Leninsche Parteinormen‹. Das Statut unserer Partei beinhaltet doch die Leninschen Normen, da steht z. B., dass bei Gerichtsverhandlungen gegen Genossen diese zunächst ausgeschlossen werden. Der Genosse [Vorname Name 1], der Mitglied unserer Parteileitung war, wurde wegen unbefugtem Waffenbesitz und Wilderei mit Gefängnis bestraft. Er gehört aber weiter zur Parteileitung. Oder die Genossin [Vorname Name 2], die sich des Betruges mit der Stechkarte schuldig gemacht hat, ist auch noch Mitglied der Parteileitung. Unsere Parteifunktionäre müssen sauber sein. Aber sie werden gedeckt, weil sie immer das große Wort führen. Solange man hier keine Ordnung schafft, bleibt alles nur Theorie. Ich bin überzeugt, dass das ZK anders urteilen würde, wenn es davon wüsste. Es ist gut, dass man nicht alles weiß, sonst würde man mit Abscheu dem Ganzen den Rücken [zu]wenden.« Die Überprüfung ergab, dass [Name 1, Vorname] nicht mit Gefängnis bestraft wurde. [Name 1, Vorname] und [Name 2, Vorname] gehören der Parteileitung an.
Diskussionen in der Landwirtschaft
Unter der Landbevölkerung wurde in der letzten Zeit vielfach über die Abschaffung der Lebensmittelkarten gesprochen. Es wurde in der Form diskutiert, dass dann die Belieferung auf freie Spitzen nicht mehr genügend einbringt und sie dadurch benachteiligt sind.9 Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Streichung des Abgabesolls. Dazu folgende Beispiele:
Aus den Gemeinden Dobia,10 Muntscha und Langenwetzendorf, [Kreis] Zeulenroda, [Bezirk] Gera, wird bekannt, dass sie die Beschlüsse des 28. Plenums als eine Schwäche der Partei auffassen und sagen, »dass man wieder einmal die gemachten Fehler einsehen würde«. (Gemeint ist die Erlassung von Ablieferungsrückständen)11. In diesem Zusammenhang sind auch Bauern aus der Gemeinde Muntscha, die regelmäßig ihren Ablieferungspflichten nachgekommen sind, verärgert. Sie vertreten die Meinung, dass sie wieder einmal die Dummen waren, da die anderen ihre Kartoffelrückstände erlassen bekommen. Begünstigt wird diese Missstimmung, dass teilweise auch solchen Bauern Rückstände gestrichen wurden, die erhebliche Mengen an Schweinen frei verkauften. Ein Bauer aus Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte: »Wenn die Marken nächstes Jahr wegfallen, werden unsere freien Spitzen bestimmt anders bezahlt werden. Da müssen wir versuchen, dieses Jahr noch etwas rauszuholen, denn dann wird es sich nicht mehr in dem Maße lohnen.«