Stimmung zum Artikel von Walter Ulbricht zum XX. Parteitag (4)
8. März 1956
Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag der KPdSU (2. Bericht) [Information Nr. M51/56]
Die im ersten Bericht festgestellten Stimmungen auf die Erklärung Walter Ulbrichts werden in allen Punkten durch weiteres Material erhärtet.1 Das trifft besonders auf die Argumentationen von SED-Mitgliedern zu. Neue wesentliche Argumente sind dabei nicht aufgetreten, wie auch festzustellen ist, dass bis auf wenige Ausnahmen nur zur Frage »Stalin« diskutiert wird. Zwei Einzelargumente sind hier interessant, wenn auch nicht typisch:
- 1.)
»Stalin war der wirkliche Führer der Arbeiterklasse, dessen Arbeit kein Kollektiv ersetzen konnte.«2 (Diese Meinung wurde von den Angestellten der Deutschen Lufthansa Berlin, Genossen [Name 1] und Genossen [Name 2], vertreten).
- 2.)
»Auch ein Genosse Walter Ulbricht kann sich irren. Wenn sich innerhalb der Partei eine Gruppe zur Verteidigung Stalins bilden würde, wäre ich der erste, der mitmacht.« (Äußerungen des Vorsitzenden des Kreisfriedensrates Neustrelitz [Vorname Name 3]).3
Das hervorstechendste Merkmal der Diskussionen ist weiterhin Unklarheit. Hierzu einige konkrete Beispiele aus den Reihen der SED-Mitglieder (z. T. auch Angehörige der VP): Der BPO-Sekretär vom VEB Gummiwerk Zeulenroda, [Bezirk] Gera, sagte: »Im Allgemeinen ist es so, dass die Genossen wenig Interesse für den Rechenschaftsbericht, für die Entschließungen und Diskussionsbeiträge zeigen, sondern immer wieder die Frage stellen, ›warum gehört Stalin nicht zu den Klassikern des Marxismus und was hat er falsch gemacht?‹4 Ich selbst kann den Genossen auch keine Auskunft darüber geben, weil ich noch unklar bin.« Ein Genosse vom VEB Energiewerk Gera-Süd sagte: »Es wundert mich, dass man erst nach Jahren festgestellt hat, dass Stalin ein Diktator war und keine Kritik zugelassen hat. War man zu feige, ihm das damals zu sagen und seinen Standpunkt zu vertreten? Uns Deutschen hat man vorgeworfen, dass wir mit Hitler einen Personenkult getrieben haben und die Sowjets haben das doch selbst getan.«
Arbeiter (darunter auch Genossen der Partei) im VEB Zellwollbetrieb des Kunstfaserwerkes »Wilhelm Pieck« stellten die Frage, ob denn jetzt die ganze Lehre von Stalin hinfällig sei und ob es überhaupt noch Sinn habe, am Parteilehrjahr teilzunehmen, da sich doch die politische Situation laufend verändert. Der VP-Angehörige [Name 4], aus Sangerhausen, äußerte, dass die fehlerhafte Politik Stalins nicht nur an ihm selbst gelegen habe, sondern eine gewisse Schuld trage auch das ZK der KPdSU, welches ohne Widerspruch die Politik Stalins hingenommen hat.
Genossen der VPI Pankow vertraten folgende Meinung: »Es ist unbegreiflich und ein ungesunder Zustand, dass irgendwelche Veränderungen erst dann von der Bevölkerung diskutiert werden dürfen, wenn es von oberster Ebene angeordnet wird. Hätte jemand vor dem XX. Parteitag5 die Stalinsche Theorie in irgendeiner Form bezweifelt, wäre er ›zunichte gemacht worden‹«. Eine Genossin erklärte hierzu, dass ihr gerade dieses Problem schon immer unangenehm erschien und sie diese Meinung über Stalin auch schon immer vertreten habe, aber es bisher nicht sagen durfte.
In Bitterfeld, [Bezirk] Halle, wurde das Gerücht verbreitet, dass man in der Sowjetunion dazu übergegangen sei, Stalin aus dem Lenin-Mausoleum zu entfernen6 und alle Literatur, die Stalin herausgegeben hat, einzustampfen.
In mehreren Fällen (darunter Angehörige der Intelligenz) werden Diskussionen über Walter Ulbricht im Zusammenhang mit seiner Erklärung zum XX. Parteitag geführt. Hauptsächlicher Inhalt: Walter Ulbricht hat nicht das Recht, so über Genossen Stalin zu sprechen. Unverständlich, dass gerade Walter Ulbricht, der bisher immer so gut über Stalin sprach, jetzt eine andere Meinung vertritt. Der Wissenschaftler,7 Genosse [Name 5], Forschungsanstalt für Schifffahrt,8 erklärte u. a. »Genosse Ulbricht geht mit seinen Formulierungen über Stalin zu weit. Er wäre verpflichtet, erst einmal selbstkritisch zu seinem Verhalten Stellung zu nehmen, da er doch den Personenkult mitgefördert hat.«9 Zwei Ingenieure10 vom VEB Schlachthof Dresden sagten, dass »Walter Ulbricht mit seinem ZK keine eigene Meinung habe«, er müsste sich erst Direktiven von Moskau holen. Nicht anders wäre es mit Adenauer,11 der sie sich in Washington holt.12 Eine andere Diskussion wurde im Stahlwerk Brandenburg von einer Kollegin13 mit der provokatorischen Frage verbunden, ob denn Walter Ulbricht für uns noch tragbar sei.14
In den Objekten der Eisenbahn, der Schifffahrt und des Kraftverkehrs ist festzustellen, dass ein großer Teil der Beschäftigten (Arbeiter, Angestellte, einschl. Genossen) weder die Veröffentlichungen über den XX. Parteitag noch den Beitrag des Genossen Walter Ulbricht studiert hat und dementsprechend keine Diskussionen führt. In den übrigen Diskussionen gibt es keine Unterschiede zu der bisher gegebenen Allgemeineinschätzung.