Stimmung zum Vierbrigadesystem bei der Reichsbahn
29. Oktober 1956
Information Nr. 287/56 – Betrifft: Stimmung zum Vierbrigadesystem und 10.00 Uhr-Ablösung bei der Deutschen Reichsbahn
Die Einführung des Vierbrigadeplans bei der Deutschen Reichsbahn stößt bei einem großen Teil von Eisenbahnern auf Widerstand und löst negative Diskussionen aus.1 Der Schwerpunkt dieser Diskussionen liegt bei der sogenannten 10.00 Uhr-Ablösung und bei den Schichten mit 12-stündiger Arbeitszeit. Aufgrund administrativer Anordnungen der Reichsbahndirektionen waren sich die Eisenbahner über den Sinn, Zweck und die Vorteile dieses Schichtsystems nicht im Klaren. Auch zeigen sich Unklarheiten bei einem Teil der Funktionäre sowie bei Mitarbeitern der IG Eisenbahn. Sie versuchen den Diskussionen der Eisenbahner aus dem Wege zu gehen, da ihnen keine einheitliche Argumentation entgegengesetzt werden kann. Selbst die führenden Funktionäre der Gewerkschaft und der Reichsbahn sind nicht damit einverstanden, dass man weiterhin den Willen der Eisenbahner ignoriert. Bei Besprechungen von Fachexperten und politischen Funktionären in Berlin ist zwar Klarheit darüber geschaffen worden, dass der derzeitige Dienstplan und die Einführung des 4-Brigade-Planes bei guter Durchführung den größten volkswirtschaftlichen Nutzen garantiert, jedoch ist dies zur Zeit nicht der Fall, da alle betreffenden Eisenbahner fast ausnahmslos dagegen sind. Vor allem der Gebietsvorstand der IG Eisenbahn ist der Meinung, dass man den Willen der Eisenbahner akzeptieren muss. In diesen Kreisen bringt man zum Ausdruck, dass sich die Fachexperten nur vom rein ökonomischen Standpunkt bei ihren Entscheidungen leiten ließen, aber die politische Situation (Ablehnung der Eisenbahner) außer Acht gelassen haben.
In der Arbeitstagung der Funktionäre des Polit-Apparates am 3.10.1956, wo zum 4-Brigade-Plan Stellung genommen wurde, erwarteten die Funktionäre eine einheitliche Argumentation. Jedoch erklärte der Genosse Klemm vom ZK der SED, dass eine einheitliche Argumentation nicht gegeben werden kann. Es sei Aufgabe der Funktionäre unserer Arbeiter- und Bauernmacht, die bestehende Ordnung im Transport zu festigen und alles zu tun, um die negativen Diskussionen auszuschalten. Ebenfalls waren die Teilnehmer mit der Formulierung des Staatssekretärs Szczepecki2 nicht einverstanden, wo er in zwei bis drei Sätzen feststellte, dass die Diskussionen der Eisenbahner über die 10.00 Uhr-Ablösung nur Arbeit des Klassengegners sei. Im Einzelnen können folgende Beispiele von Diskussionen angeführt werden:
1. Zur 10.00 Uhr-Ablösung
Als Schwerpunkt ist der Bereich der Reichsbahndirektion Dresden anzusehen. Fast auf allen betreffenden Dienststellen diskutieren die Eisenbahner hartnäckig gegen die 10.00 Uhr-Ablösung. Das Hauptargument ist der schlechte An- und Abtransport der Eisenbahner zu ihrer Arbeitsstelle. So fand z. B. in der Güterabfertigung Bad Schandau, [Bezirk] Dresden, eine Belegschaftsversammlung statt, welche sich mit der 10.00 Uhr-Ablösung befasste. Alle Beschäftigten einschließlich des Dienstvorstehers waren der Meinung, dass die 10.00 Uhr-Ablösung verschwinden muss. Eine Resolution wurde angenommen, in welcher dem Präsidenten der Reichsbahndirektion der Termin gestellt wurde, dass bis zum 1.11.1956 die 10.00 Uhr-Ablösung beseitigt sein müsste.
Auf dem Bahnhof Borna, Reichsbahndirektionsbezirk Halle, wird nach wie vor die am 1.4.1955 eingeführte Dienstzeitregelung in Bezug auf die 10.00 Uhr- und 22.00 Uhr-Ablösung an Sonntagen negativ diskutiert. Das zeigen auch die Fälle wo vereinzelt heimliche Ablösungen um 6.00 Uhr und 18.00 Uhr durgeführt werden. Gleichlautende Beispiele wurden noch aus folgenden Dienststellen bekannt:
- –
Bahnhof Eilenburg, Rbd Halle
- –
Bahnhof Delitzsch, Rbd Halle
- –
Bahnhof Altenburg, Rbd Halle
- –
Bahnhof Geithain, Rbd Halle
- –
Reichsbahnamt Karl-Marx-Stadt, Rbd Dresden
- –
Verschiebebahnhof und BW Wustermark, Rbd Berlin.
2. Zur 12-stündigen Arbeitszeit
Starke Diskussionen bei der Einführung des 4-Schichtenplanes lösen die 12-Stunden-Schichten aus. Dazu erklärte der Fahrdienstleiter vom Bahnhof Annaberg-Buchholz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, Folgendes: »Der 12-Stundentag ist schon lange abgeschafft und nun soll er bei der Reichsbahn wieder eingeführt werden. Aufgrund des 4-Schichtensystems müssen die Kollegen innerhalb von vier Wochen, achtmal eine 12-Stundenschicht arbeiten. Die Errungenschaft des 8-Stundentages wird dadurch wieder abgeschafft.«
Von den Rangierern des Bahnhofes Güstrow und Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, wird eine 12-Stundenschicht konsequent abgelehnt. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass ein Rangierer, welcher acht Stunden arbeitet, müde ist und dass bei einer weiteren Arbeitszeit von vier Stunden die Verantwortung abgelehnt wird.
Das Lokpersonal vom BW Wustermark, Rbd Berlin, ist der Meinung, dass bei einer 12-stündigen Arbeitszeit auf einer Rangierlok die Betriebssicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Die Arbeit sei zu anstrengend.
Die Eisenbahner des Bahnhofes Blankenburg, [Bezirk] Magdeburg, äußerten sich, dass nach zwölf Stunden kein Kollege mehr in der Lage sei, den Dienst richtig zu versehen, d. h. dass die Arbeiter schon nach neun Stunden müde und abgespannt sind. Die Unfallgefahr würde so durch den 4-Schichtendienst begünstigt. Weitere Beispiele wurden noch aus folgenden Dienststellen bekannt:
- –
Hauptbahnhof Leipzig
- –
Reichsbahnamt Leipzig
- –
Bahnhof Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt
- –
Bahnhof Oranienburg, Rbd Berlin
- –
Bahnhof Borna, Rbd Halle
- –
Bahnhof Zeitz, Rbd Halle