Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (1)
23. Februar 1956
Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU [Information Nr. M41/56]
Die Diskussionen zum XX. Parteitag der KPdSU sind unter allen Schichten der Bevölkerung noch verhältnismäßig gering.1 Am stärksten nehmen bisher die Beschäftigten der Industrie dazu Stellung. Diese Erscheinung ist darauf zurückzuführen, dass bisher ungenügend die Materialien des XX. Parteitages durch die Parteiorganisationen ausgewertet wurden. Es ist jedoch zu verzeichnen, dass die Mehrzahl der Diskussionen, ausgehend von den auf dem XX. Parteitag behandelten wirtschaftlichen und sozialen Problemen im positiven Sinne geführt werden, während sich ausgehend von den politischen Problemen in den Diskussionen große Unklarheiten zeigen. Vereinzelt wurden auch direkte feindliche Argumente bekannt, die auf Einfluss der Feindpropaganda zurückzuführen sind. Letztere finden jedoch nur in geringem Maße Zustimmung.
Bei den Diskussionen zu wirtschaftlichen Problemen stehen im Vordergrund die Stellungnahmen über die Ausführungen des Genossen Chruschtschow, den 7- bis 6-stündigen Arbeitstag bei vollem Lohnausgleich einzuführen.2 Besonders die Arbeiter in der Industrie und die Beschäftigten des sozialistischen Sektors der Landwirtschaft bringen dazu zum Ausdruck, dass eine derartige Maßnahme und Verbesserung des Lebensstandards nur unter sozialistischen Wirtschaftsverhältnissen möglich und durchführbar ist. Außerdem kommt in diesen positiven Diskussionen auch das Vertrauen bzw. die Erwartung zum Ausdruck, dass derartige Erfolge in der Zukunft auch in der DDR erreicht werden. Charakteristisch für die positiven Stellungnahmen zu den sozialen Verbesserungen sind folgende Diskussionen:
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Im Kaliwerk Volkenroda,3 [Bezirk] Erfurt, äußerte eine Mühlenarbeiterin: »Wenn wir in der DDR alle unsere Kräfte einsetzen und die uns gestellten Pläne erfüllen, wird dieses auch bei uns Wirklichkeit werden. Ich selbst werde alle meine Kräfte dafür einsetzen.«
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Im VEB (K) Presswerk Heldburg, [Bezirk] Suhl, äußerten mehrere Arbeiter: »Dieser Wohlstand und die Kürzung der Arbeitszeit werden auch bei uns eintreten, wenn wir erst mehr leisten und vor allen Dingen die Schwierigkeiten wie Ersatzteilbeschaffung überwunden sind.«
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Der Buchhalter aus der LPG Gößnitz, [Kreis] Schmölln, brachte zum Ausdruck: »Der 7-Stunden-Tag ist ein guter Schritt vorwärts und wird später bestimmt auch bei uns eingeführt.«
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Ein Angestellter vom Bezirkskontor Wurzen äußerte sich wie folgt: »Nur unter Führung der Arbeiter und Bauern ist eine Verbesserung des Lebensstandards der Werktätigen möglich. Das sieht man daran, dass man in der Sowjetunion zum 7-Stunden-Tag übergehen will. So eine Verbesserung des Lebensstandards ist in der kapitalistischen Wirtschaft nicht möglich.«
Im Zusammenhang mit der Verkürzung der Arbeitszeit kommen jedoch auch große Unklarheiten auf, besonders dann, wenn Vergleiche zur Entwicklung in der DDR gezogen werden, indem man nicht berücksichtigt, dass in der DDR erst die Grundlagen des Sozialismus geschaffen werden. Charakteristisch dafür sind folgende Diskussionen:
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Ein Teil der Arbeiter und Genossen im VEB IKA Sonneberg II brachte in der Diskussion über die Einführung des 7-Stunden-Tages zum Ausdruck, »dass dies auch bei uns bald eingeführt werden müsste, denn wenn es in der SU geht, warum sollte es dann bei uns nicht auch gehen«.
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Ein parteiloser Arbeiter aus einer Privatfirma in Sohland, [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, sagte: »Die Arbeitszeit wird von acht Stunden auf sieben Stunden herabgesetzt. Man sieht, dass die tatsächlich viel weiter fortgeschritten sind als wir. Warum machen wir es nicht bei uns? Wenn wir bei uns die Privatunternehmen vor die Tatsache stellen, dann muss es auch bei uns möglich sein, diese Fortschritte zu erreichen.«
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Eine Gruppe von Arbeitern im VEB Schiefergruben Lehesten4 diskutierte wie folgt: »Hier sieht man wirklich, dass für die Arbeiter jetzt die Erfolge kommen. Aber wie sieht es in der DDR aus. Denn in ähnlicher Weise hat doch vor zwei Jahren die SED auch diese Forderungen aufgestellt, jedoch bis zum heutigen Tage haben wir aber davon noch nichts gemerkt.«
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Im VEB Metallwarenfabrik Lobenstein brachten einige Arbeiter zum Ausdruck: »Wir können es nicht begreifen, dass die Sowjetunion den 6- bzw. 7-Stunden-Tag einführen will, denn darunter würde doch der Staat in wirtschaftlicher Hinsicht schwer leiden.«
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Im VEB Konsum-Nährmittelwerk Gera5 sagte ein parteiloser Arbeiter: »Genosse Chruschtschow hat aber auch gesagt, dass die Sowjetunion in den nächsten Jahren keine wesentlichen Preissenkungen zu erwarten hat und das wird wohl auch bei uns der Fall sein, obwohl wir uns alle über eine Preissenkung freuen würden.«6
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In der großen Halle des VEB Dieselmotorenwerkes Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, diskutierten einige Arbeiter, dass bei Einführung des 7-Stunden-Arbeitstages die Frauenarbeit abgeschafft werden müsste, da die Frauen an den Kochtopf gehörten.
Zu den Ausführungen über den 6. Fünfjahrplan sind die Diskussionen ausschließlich positiv,7 indem anerkannt wird, dass die Sowjetunion damit die kapitalistischen Länder in der Technik überholen und endgültig den Beweis der Überlegenheit des Sozialismus führen wird. Besonders beschäftigt sich damit die Intelligenz. Zutreffend dafür sind folgende Stellungnahmen:
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Zwei Arbeiter aus dem VEB Großzössen,8 [Kreis] Borna, sagten: »Der 6. Fünfjahrplan wird auf die Arbeiter der ganzen Welt einen günstigen Einfluss ausüben. Nach diesem Fünfjahrplan wird die SU die kapitalistischen Länder in der Technik weit überholt haben.«
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Ein Techniker aus dem VEB Motorenwerk Wurzen erklärte dazu Folgendes: »Wenn die gestellten Ziele des Parteitages von der Sowjetunion erreicht werden, dann wird den imperialistischen Ländern endgültig das Genick gebrochen.«
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Im VEB IKA Annaberg9 äußerte ein parteiloser Ingenieur: »Wenn wir die Perspektiven des 6. Fünfjahrplanes der KPdSU betrachten, so muss man sich sagen, dass, wenn dieser Plan verwirklicht wird, die Lebenshaltung in der SU eine wesentliche Verbesserung erfährt.«
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Die Arbeiter der Abteilung Gas, Gebläse und Wasser im EKS Stalinstadt sind der Meinung, dass die Sowjetmenschen zuversichtlich in die Zukunft schauen können, denn wenn der Parteitag so etwas beschließt, dann wird es auch durchgeführt.
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Ein werktätiger Bauer aus Günthersdorf,10 [Kreis] Beeskow, sagte: »Man kann sich kaum vorstellen, was die Kommunisten vorhaben. Wenn ihnen das gelingt, werden sie Amerika hinter sich lassen. Es wird bald kein Mensch mehr zweifeln können an der Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems.«
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Ähnlich äußerte sich ein werktätiger Bauer aus Reudnitz, [Kreis] Beeskow: »Die Russen haben sich allerhand vorgenommen und schaffen sie das, dann werden sich alle Menschen auf Moskau orientieren.«
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Von einigen Arbeitern im Bezirk Suhl wird auch die Forderung erhoben, dass der Parteitag gründlich ausgewertet und die einzelnen Punkte ausführlich erläutert werden.
In den Diskussionen zu politischen Problemen kommen wie bereits erwähnt die größten Unklarheiten unter allen Schichten der Bevölkerung, selbst unter Angehörigen der Volkspolizei, zum Ausdruck. Diese Diskussionen sind besonders auf Unklarheiten in der Frage der verschiedenen Möglichkeiten der Errichtung des Sozialismus, der Frage der kollektiven Leitung und der Kritik sowie auf Zweifel an der Stärke des Friedenslagers zur Verhinderung eines neuen Krieges zurückzuführen. Im Einzelnen wurden bisher zu diesen Fragen folgende Stellungnahmen bekannt:
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Einige Genossen der VP-Bereitschaft Frankfurt/O. brachten zum Ausdruck, dass die Erreichung des Sozialismus auf parlamentarischem Wege möglich ist, sie äußerten sich dahingehend, dass die SPD in einer Beziehung Recht hat. In der weiteren Aussprache wurde diese falsche Diskussion zerschlagen.
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Im VEB Waggonbau Görlitz, Abteilung Betriebsunterhaltung, stehen im Mittelpunkt der Diskussionen die Ausführungen des Genossen Chruschtschow, »dass in der heutigen Situation die Errichtung des Sozialismus auch auf parlamentarischem Wege möglich ist.11 Dabei bringen vor allem die alten Sozialdemokraten zum Ausdruck, dass man nun endlich auch in der Sowjetunion erkennt, dass die Errichtung des Sozialismus auf parlamentarischem Wege möglich ist. Die Sozialdemokraten hätten das schon früher erkannt und hätten sich schon immer dafür eingesetzt, um den Sozialismus auf parlamentarischem Wege zu erringen.«
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Der Oberbuchhalter im VEG Dudendorf, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, sagte: »Man spricht immer davon, dass es nur einen Kommunismus auf der Welt gibt, aber warum weicht Chruschtschow von der Linie Stalins ab und züchtet somit den sowjetischen Kommunis[mus]?«
Über die Rede des Genossen Mikojan12 wurden aus dem Sekretariat der Abteilung PM des VPKA Dresden folgende Diskussionen bekannt: Ein VP-Rat sagte: »Es ist mir unverständlich, dass man heute zur Erkenntnis kommt, dass ca. 20 Jahre keine kollektive Leitung bestand, obwohl die heute führenden Genossen bereits viele Jahre zu den engsten Mitarbeitern Stalins gehörten. Diese Worte richten sich doch als erstes gegen den Genossen Stalin und dabei habe sich doch Stalin die meisten Verdienste in der Weiterentwicklung des Sowjetstaates nach Lenins Tod gemacht. Das man heute zum Aufbau des Kommunismus schreitet, sei doch Stalins Verdienst.«
Eisenbahner diskutierten in der Mitropa Königs Wusterhausen folgendermaßen: »Man kann sehen, dass Stalin doch nicht so ein großer Feldherr war und so viel Wissen hatte, wie man es immer verherrlicht hat, denn er wurde ja jetzt von dem Genossen Mikojan auf dem XX. Parteitag angegriffen, über seine Wirtschaftsführung usw., man muss sagen, dass es dort noch nicht so ist, wie es sich Verschiedene vorgestellt haben.«
Die Sekretärin des technischen Direktors des VEB »Heinrich Rau« Wildau sagte: »Ich wollte jetzt am Parteilehrjahr teilnehmen, aber durch die Ausführungen von Mikojan hat es gar keinen Zweck, dass ich erst hingehe, denn man weiß ja gar nicht mehr, was richtig ist mit den Lehren der KPdSU.« Ein Arbeiter aus dem gleichen Werk äußerte: »Kannst du mir nicht die Zeitung besorgen, wo die Diskussionen von Mikojan drin ist. Er soll ja ganz schön Kritik geübt haben. Auch über den Genossen Stalin.«
Ein Arbeiter im VEB Feinprüf Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, erklärt: »Ich habe die Ausführungen von Chruschtschow gehört, indem er sagte, dass die Vermeidung eines Dritten Weltkrieges zur Realität geworden ist. Ich kann mir das nicht vorstellen, denn auf der einen Seite verstärkt sich ständig der Klassenkampf, auf der anderen Seite soll die Garantie für einen dauerhaften Frieden gegeben sein. Ich bin der Meinung, dass es doch eines Tages zum Krieg kommen wird. Denn der Kapitalismus wird nicht freiwillig abtreten.«13
Unter den Angestellten der Abteilung staatlicher Handel beim Rat des Bezirkes Frankfurt/O. brachte der überwiegende Teil derselben zum Ausdruck, dass sie in der Frage der Koexistenz unklar sind.14 Die Äußerungen dazu: »Auf der einen Seite baut die Sowjetunion den Sozialismus auf und auf der anderen Seite will man den Kommunismus auf andere Länder übertragen.« In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, dass Pakte abgeschlossen wurden und es kam doch zu Kriegen. Der Parteisekretär konnte die Fragen nicht erschöpfend erklären.
Es gibt ferner Meinungen von Arbeitern und Angestellten des Kraftwerkes Finkenheerd15 sowie von Genossenschaftsbauern der LPG Mixdorf, [Kreis] Fürstenberg, die zum Ausdruck brachten, dass sie die Übersetzung der Ausführungen des Genossen Chruschtschow nicht richtig verstehen. Er sagt u. a. »ist ein Dritter Weltkrieg unvermeidlich«. Die Oben angeführten brachten zum Ausdruck, dass sie hier das »ja« erwarteten. Diese Diskussionen waren dahingehend, dass es also doch Kriege gibt. Unter den Propagandisten des Kreises Stalinstadt gab es Unklarheiten über die verschiedenen Formen des Aufbaues des Sozialismus in den einzelnen Ländern, sie stellten die Frage, welchen Weg Jugoslawien geht.16
Ein Jugendfreund aus dem EKS brachte zum Ausdruck, dass wir auch mit dem Stimmzettel zum Sozialismus gelangen können. Ein Genosse im VEB (K) Blechwarenfabrik Schleiz äußerte: »Wenn der Krieg, wie Genosse Chruschtschow gesagt hat, unvermeidlich ist, dann brauchen wir auch keine Anstrengungen mehr zu machen zur Verhinderung eines Krieges.« Ein Arbeiter aus dem VEB Keramische Werke Hermsdorf, [Kreis] Stadtroda, sagte: »Der Amerikaner ist doch technisch der Sowjetunion überlegen, das hat doch selbst Chruschtschow in Moskau auf dem Parteitag gesagt, dass die Sowjetunion den Amerikaner im neuen Fünfjahrplan erst einholen will.«17 Der Kreissekretär der LDPD in Frankfurt/O. brachte über den XX. Parteitag der KPdSU zum Ausdruck, dass er nicht eher dazu etwas sagen kann, als er wisse, wie seine Parteileitung dazu steht. Erst auf die offizielle Stellungnahme der Parteileitung kann er selbst dazu Stellung nehmen.
Direkte feindliche Äußerungen, in denen Einfluss der Feindpropaganda zum Ausdruck kommt, sind folgende:
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Im VEB Maxhütte in Unterwellenborn wird von einigen Arbeitern in den Diskussionen zum Ausdruck gebracht, dass Genosse Chruschtschow kein Wort über Stalin gesagt habe, was ein Beweis dafür sei, dass man jetzt von der Politik Stalins abgewichen ist.
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Unter der Bevölkerung der Gemeinde Schönefeld besteht folgende Meinung über den XX. Parteitag: »Wir hätten von dem XX. Parteitag erwartet, dass man dort Beschlüsse gefasst hätte, die sich darauf beziehen, dass die ehemaligen Ostgebiete wieder an Deutschland zurückgegeben werden und die Umsiedler wieder in ihre Heimat können.«
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Ein Ingenieur aus dem Privatbetrieb Friedrich Geyer Ilmenau,18 [Bezirk] Suhl, sagte Folgendes: »Ein siebenstündiger Arbeitstag, das ist doch nichts neues, in der USA hat man schon längst den 7-stündigen Arbeitstag verwirklicht.«
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Ein Einzelbauer aus Allersdorf, [Kreis] Ilmenau, [Bezirk] Suhl, brachte Folgendes zum Ausdruck: »Einige Betriebe haben zum XX. Parteitag der KPdSU sich verpflichtet, erhöhte Leistungen in der Produktion zu erreichen. Dies sollten sie mal lieber lassen, denn sonst wird noch mehr Ausschuss produziert.«
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In negativer Weise äußerte sich auch ein Schiffbauer der Neptun-Werft Rostock, indem er erklärte: »Unser Stab ist jetzt wieder in Moskau zum Befehlsempfang.« (Gemeint ist die Delegation unserer Regierung.)19
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Eine am 18. Februar 1956 geflüchtete Funktionärin der SED vertritt die Meinung, »dass sie schon immer vor der offiziellen Linie wusste, dass etwas geändert werden musste. Das war mit Jugoslawien so, das vor kurzer Zeit noch übel beschimpft wurde und dem man heute den Aufbau des Sozialismus zubilligt. Das ist mit der Sozialdemokratie so, mit der man jetzt Zusammenarbeit anstrebt und die Zugeständnisse an den parlamentarischen Weg macht, der meines Erachtens objektiv möglich ist und nicht erst durch Chruschtschows Rede gangbar wird. Ich war bisher früher dazu bereit.«