Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (6)
23. März 1956
Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (6. Bericht) [Information Nr. M65/56]
Die Diskussionen zum XX. Parteitag der KPdSU haben etwas nachgelassen.1 Man beschäftigt sich aber nach wie vor mit der Frage »Stalin«. Grundlage der Diskussionen ist in den meisten Fällen der Artikel des Genossen Walter Ulbricht vom 4.3.1956,2 während über die Diskussionen des Genossen Walter Ulbricht auf der Berliner Delegiertenkonferenz3 bisher nur wenig Stellungnahmen bekannt wurden. Zu den Ausführungen der Genossen der Bruderparteien, die in den letzten Tagen bei uns veröffentlicht wurden, äußerte man sich nicht.4
Die Diskussionen haben meist die schon bekannten Argumente zum Inhalt, nur vereinzelt traten neue auf. Etwas stärker werden jetzt direkt feindliche Äußerungen bekannt, die sich vielfach gegen den Genossen Walter Ulbricht richten. Die Unklarheiten hatten in den letzten Tagen eine verstärkte Gerüchteverbreitung zur Folge.
1. Stellungnahmen zur Diskussion des Genossen Walter Ulbricht
Bei den bisher nur gering bekannt gewordenen Stellungnahmen äußerte man sich teilweise zustimmend zu den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht, dass sie endlich Aufklärung gegeben hätten, aber sie kämen etwas zu spät, sodass es dem Gegner oftmals gelungen sei, seine Argumente zu verbreiten. (Angestellte des Rates des Bezirkes Frankfurt/O.).
Aus den Berliner Institutionen wurde Verärgerung über die Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht bekannt. Die Kritik an Stalin habe nicht nur Unklarheiten bei jüngeren Genossen ausgelöst, sondern auch ältere Genossen wären damit nicht klargekommen. (Institut für Post- und Fernmeldewesen). Ein älterer Genosse der Akademie der Wissenschaften äußerte seinen Unwillen darüber, dass die Delegierten gelacht haben, als Walter Ulbricht gegen die Anwendung von Zitaten Stellung nahm.5 Das wäre ihnen doch erst von den Funktionären gelehrt worden. (Ähnlich äußerte sich ein Genosse aus Berlin-Treptow).
2. Neue Argumente
a) Industrie- und Verkehrsbetriebe
Im Bezirk Frankfurt/O. bezeichnen Arbeiter und Angestellte die Prämienzahlung als Personenkult und fordern deshalb, dass in Zukunft nur noch »Kollektivprämien« gezahlt werden sollten. »Das Kollektiv ist entscheidend und der Erfolg des Einzelnen ist abhängig von der Leistung des gesamten Kollektivs.« (Kraftwerk Finkenheerd,6 Kreis Fürstenberg, und Bezirksenergieversorgung Frankfurt/O.).
In mehreren Betrieben des Bezirkes Frankfurt/O. beschäftigt man sich außerdem noch mit dem 7-Stunden-Tag7 und zieht dabei Vergleiche mit Frankreich und Westdeutschland.8 Z. B. fordern Arbeiter im Kraftwerk Finow, Kreis Eberswalde, die Einführung der 45-Stunden-Woche, indem sie argumentieren: »Was die Russen können, können wir Deutschen schon lange, Westdeutschland beweist es uns ja.« Träger der Diskussionen sitzen in der BGL. (Ähnliche Äußerungen gibt es im EKM Finow und RAW Eberswalde). Im Kreis Eberswalde diskutieren Arbeiter auch, dass die Automatisierung und Technisierung eine große Arbeitslosigkeit mit sich bringt.
Ein Arbeiter des VEB Elektromotorenwerkes Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg, sagte: »Die Bücher Stalins verschwinden, dafür erscheinen aber wieder Bilder und Bücher von Trotzki9 u. a.«.
b) Landwirtschaft
Ein Bauer aus Hilmsdorf, Kreis Rochlitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte: »Jetzt kann ich wenigstens wieder arbeiten und schaffen. Es hat sich ja erwiesen, dass der Weg der Sowjetunion und auch der DDR nicht richtig ist. Die LPG und auch die Planwirtschaft werden nun wieder abgeschafft.«
c) Handwerker und Mitglieder bürgerlicher Parteien
Handwerker im Kreis Strasburg, [Bezirk] Neubrandenburg, halten Diskussionen über den XX. Parteitag für überflüssig, da er keine Angelegenheit der Deutschen sei.
Mitglieder der NDPD im Kreis Greiz, [Bezirk] Gera, fragen, warum wir uns immer nach der Sowjetunion richten, wir könnten selbst entscheiden und dann brauchten wir auch nicht die gleichen Fehler wie die Sowjetunion machen. Charakteristisch dafür ist die Äußerung eines Angestellten: »Gewiss hat die SU eine Produktionssteigerung erzielt; aber ist denn das nur ein Verdienst der Kommunisten? Gibt es in den westlichen Ländern nicht auch einen Fortschritt?« Ähnlich äußerten sich Mitglieder des Kreisvorstandes, ein Lehrer u. a.
d) Mitglieder und Kandidaten der SED
Bei einer Funktionärskonferenz in Zeulenroda, [Bezirk] Gera, zeigte sich eine gewisse Unsicherheit unter den Genossen. Es erweckte den Anschein, dass man sich nicht getraute, zu den Fragen betreffs Stalin klar Stellung zu nehmen, weil man sich fürchtete, etwas Falsches zu sagen. Von den ca. 400 Genossen sprachen nur sechs zur Diskussion.
Bei einer Konsultation der Hochschule für Ökonomie und Planung, die am 8.3.1956 in Gera stattfand, wurde von den Teilnehmern (Genossen des Rates des Bezirkes, des Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institutes und der Karl-Marx-Hochschule) folgende Meinung vertreten:
- –
»Stalin gehört auf alle Fälle zu den Klassikern des Marxismus, da das ZK alle seine Ausführungen gebilligt und zu Lebzeiten keine Kritik an ihm geübt habe.«
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Es sei falsch, jetzt auf einmal die Verdienste Stalins zu schmälern.
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»Bestimmt hat Stalin auch Fehler gemacht, aber wer weiß, wie man in einigen Jahren über jetzt durchgeführte Maßnahmen denkt und urteilt; denn alles ist doch abhängig von der Zeit, in der etwas geschieht.«
In den Betrieben der Stadt Gera entstanden heftige Diskussionen, dass die Bezirksleitung der FDJ Anweisung gab, im Stalinpark10 niedergelegte Kränze in der Nacht zu entfernen und mit einer anderen Schleife versehen am VVN-Ehrenmahnmal niederzulegen.
3. Feindliche Diskussionen bzw. Feindtätigkeit
In mehreren Fällen werden im Zusammenhang mit dem Tod des Genossen Bierut11 üble Verleumdungen gegenüber der KPdSU ausgesprochen. Der charakteristische Ausspruch dabei ist, dass »auffällig viele führende Genossen in Moskau sterben« oder »Bierut musste sterben, weil er Stalinanhänger war«. Diskussionen dazu wurden bekannt aus den Kreisen Rudolstadt und Saalfeld, von CDU-Mitgliedern in Greiz, [Bezirk] Gera, dem Verlag »Junge Welt« (technische Angestellte), der BHG Angermünde, [Bezirk] Rostock,12 dem RAW Greifswald, der LPG »Bołeslaw Bierut« in Ortwig, Kreis Seelow, [Bezirk] Frankfurt/O., und aus Magdeburg.
Ein Angestellter der Reichsbahn in Greifswald äußerte u. a.: »Es werden absichtlich Gerüchte ins Leben gerufen, um wieder andere hinter Schloss und Riegel zu bringen, und wir werden künftig noch andere Sachen erleben, wenn erst die Sonne langsam höher kommt.«
Anlässlich eines Pastorenkonvents in Schwerin wurde den Pastoren erklärt: »Die 5-Tage-Woche steht im Widerspruch zum Gebot Gottes, denn sechs Tage sollst du arbeiten …«
Im VEB Stahlwerk Maxhütte13 – Hauptwerkstatt – wurde das Stalinbild zerschlagen und der Kopf des Bildes an das Rednerpult genagelt.
In der Zentralschule Sternberg, [Bezirk] Schwerin, wurde in mehreren russischen Lehrbüchern das Stalinbild entfernt bzw. teilweise mit Gittern bemalt.
4. Gerüchte
Im starken Maße treten Gerüchte über die Beseitigung von Stalinbildern, Denkmälern u. a. in allen Bezirken auf. Gleichzeitig heißt es, dass sich der Leichnam Stalins nicht mehr im Mausoleum befinde.14 Vereinzelt wurden die Meldungen der Westsender über »Aufstände in Georgien« verbreitet.15 Im Bezirk Neubrandenburg verbreitet der Klassengegner das Gerücht, Genosse Stalin hätte nach Kriegsende den Erlass herausgegeben, die Sowjetsoldaten könnten im besetzten Deutschland die Frauen vergewaltigen.