Stimmung zur III. Parteikonferenz der SED (6)
28. März 1956
III. Parteikonferenz der SED (6. Bericht) [Information Nr. M74/56]
Die Diskussionen zur III. Parteikonferenz1 nehmen weiterhin zu, aber man beschäftigt sich jetzt noch vorwiegend nur mit den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht über die Verbesserung der Lebenslage.2 In den Diskussionsbeiträgen wurden nur einzelne Stellungnahmen zu den Ausführungen des Genossen Schirdewan3 bekannt. Vereinzelt spricht man jetzt auch über die Flugzeugindustrie.4 Nach wie vor sind die Diskussionen überwiegend positiv. Im Zusammenhang mit der Verkürzung der Arbeitszeit5 und Erhöhung der Renten6 wird geäußert, dass man so etwas noch nicht erwartet habe bzw. dass wir jetzt schon die Früchte unserer bisherigen Arbeit ernten könnten. Man verkennt aber auch nicht, dass die Erreichung des gesteckten Zieles noch große Anstrengungen von allen erfordert. Es zeigen sich aber andererseits hier auch Unklarheiten, dass man die Vorschläge wohl begrüßt, aber nicht erkennt, dass man sich dafür auch einsetzen muss. Die überwiegend positive Einstellung der Bevölkerung zur III. Parteikonferenz zeigt sich auch in den weiterhin bekannt werdenden zahlreiche Verpflichtungen. Auch heute wurden negative und feindliche Äußerungen nur vereinzelt bekannt. Es zeigen sich aber im großen Maße Unklarheiten bei den verschiedensten Problemen, die z. T. mit auf eine mangelhafte Aufklärungsarbeit zurückzuführen sind.
Sehr verbreitet in allen Bevölkerungsschichten ist das Argument, dass es sich bei den Vorschlägen nur um leere Versprechungen handele, wobei man oft auf den ersten Fünfjahrplan Bezug nimmt.7 Diskussionen dieser Art wurden bekannt aus den Bezirken, Frankfurt/O., Karl-Marx-Stadt, Gera, Cottbus, Suhl, Halle, Schwerin, Potsdam und aus dem VEB Buna-Werke (Isolierbetriebe und Werkleitung), Stahl- und Walzwerk Riesa und aus Berlin. In mehreren Fällen wurde auch die Frage gestellt, warum keine Delegation der KPdSU an der III. Parteikonferenz teilnimmt, wobei es vereinzelt zu negativen Äußerungen kommt. Diskussionen dazu wurden u. a. aus dem VEB Karl-Marx-Werk Pößneck, [Bezirk] Gera, dem Privatbetrieb Sempuco Gera8 (in Jugendversammlungen) und aus Potsdam bekannt.
In den einzelnen Bevölkerungsschichten wurden folgende neue Argumente bekannt, die oftmals auf Unklarheiten beruhen:
Industrie- und Verkehrsbetriebe
In mehreren Fällen werden Zweifel laut, ob der 7-Stunden-Tag bei uns schon eingeführt werden könnte, da die Voraussetzungen dazu fehlten. Als Begründung werden Materialmangel, schlechte Maschinen und anderes angeführt. Weiterhin fragt man, wie das alles erreicht werden soll. Vereinzelt äußert man, dass die Verkürzung der Arbeitszeit nur kommt, weil keine Arbeit da ist. Charakteristisch dafür sind nachstehende Diskussionen aus dem Buna-Werk Halle: Ein parteiloser Betriebstechniker [äußert], »dass man den 7-Stunden-Tag bei uns einführen will, kam für mich reichlich überraschend, denn bei den gewaltigen Aufgaben, die im zweiten Fünfjahrplan gestellt werden, ist es doch kaum möglich, die Arbeitszeit zu verkürzen«. Die Jugendlichen des Lehrkombinates sehen die Einführung des 7-Stunden-Tages als illusorisch an, da die Voraussetzungen dazu noch nicht vorhanden sind. »Zzt. ist es doch so, dass in der DDR noch Arbeitskräfte fehlen, um die Produktion steigern zu können.« Im Bau 225 ist man über den 7-Stunden-Tag befriedigt, jedoch ist den Arbeitern unverständlich, wie man diese Ziele zu erreichen gedenkt. Ein parteiloser Monteur des VEB Werkzeugmaschinen-Werk Zeulenroda, [Bezirk] Erfurt: »Ich kann mit schlecht vorstellen, wie wir später einmal sieben Stunden arbeiten sollen. Unter den bisherigen Bedingungen war es so, dass wir den Plan jedes Jahr nur durch Überstunden erfüllten.« Ähnliche Diskussionen gibt es im VEB Röhrenwerk »Anna Seghers«9 Neuhaus, [Bezirk] Suhl, VEB AWE Eisenach, [Bezirk] Erfurt, Mathias Thesen-Werft Wismar, [Bezirk] Rostock. Aufgrund eines gewissen Auftragsmangels im VEB Bekleidungswerk Bürgel, [Kreis] Eisenberg, [Bezirk] Gera, äußerten parteilose Arbeiter: »Wir haben die Nase voll, denn die Verkürzung der Arbeitszeit soll nur deshalb eingeführt werden, da in der Textilindustrie nicht genügend Arbeit vorhanden ist. Das kommt dadurch, weil die hergestellte Ware zu teuer ist, und deshalb nicht abgesetzt werden kann.« Im VEB Süßwarenfabrik Spreewald,10 [Bezirk] Cottbus, diskutierten Frauen, dass zu befürchten sei, dass es einmal zu wenig Arbeit geben wird. Angestellte des VEB Fortschritt Greiz und VEB Werkin in Königsee, Bezirk Gera, diskutierten, dass die Verkürzung des Arbeitstages nichts Neues sei, da dies bereits in den kapitalistischen Ländern seit längerer Zeit eingeführt sei.
Zur Rentenerhöhung äußerten sich Arbeiter verschiedentlich verächtlich, dass ein paar Mark Erhöhung gar nichts ausmache, dass eine Erhöhung im Jahre 1957 zu spät sei und dass man lieber das Gehalt der Angestellten kürzen sollte, um den Rentnern mehr geben zu können (VEB »Banner des Friedens« Weißenfels,11 [Bezirk] Halle, VEB Fernmeldewerk Arnstadt, [Bezirk] Erfurt, Bunawerk Bau 165 und 167).
Einige Arbeiter äußerten sich zustimmend zur Beibehaltung der Lebensmittelkarten,12 während andere eine bessere Fleischversorgung, d. h. Verkauf der Fleischwaren im Verhältnis 1 : 1 forderten (Druckerei der »Tribüne«13 Naumburg, [Bezirk] Halle, Kabelwerk Oberspree Berlin, VEAB Groß-Berlin, Konsumgenossenschaftsverband Prenzlauer Berg, [Stadtteil von] Berlin.)
In einem bekannt gewordenen Einzelfall lehnt ein Arbeiter des VEB »Klement Gottwald« in Ruhla,14 [Bezirk] Erfurt, den Flugzeugbau ab. »Man sollte sich erst mal darum kümmern, dass mehr Wohnungen gebaut werden.«
Angehörige der Intelligenz
Ein Ingenieur aus dem VEB Elbtalwerk Heidenau, Kreis Pirna, [Bezirk] Dresden, hält die Flugzeugfabrikation für die DDR noch zu früh. Unser Bedarf an Flugzeugen sollte für die nächsten zehn Jahre in der SU gedeckt werden und die Produktionsstätten, Arbeitskräfte u. a. sollten zur Erweiterung anderer lebensnotwendiger Industriezweige verwendet werden.
Handwerker
In Handwerkskreisen des Bezirkes Halle bringt man zum Ausdruck, dass die Handwerker am sozialistischen Aufbau nicht so mitarbeiten könnten, wie sie möchten, da die Materialzuweisungen zu gering seien. Ein Schuhmachermeister aus Köthen, [Bezirk] Halle, sagte zur Bildung von Handwerkergenossenschaften: »Ehe ich in eine Produktionsgenossenschaft gehe, nehme ich lieber eine Schippe in die Hand, denn in der Produktionsgenossenschaft ist man nicht mehr sein eigener Herr. Ich habe meinen Betrieb in Ordnung, die Maschinen sind restlos vorhanden und die anderen, die mit reinkommen, die muss ich vielleicht mit durchschleppen. Wenn bei der Bildung eine Abfindung gezahlt würde und die Maschinen gehen in Staatseigentum über, dann ließe sich darüber vielleicht noch reden, aber andere mit meinen Maschinen arbeiten lassen, kommt nicht infrage.«
Bei Handelsangestellten und in der Landwirtschaft gibt es immer wieder Diskussionen, dass für sie der 7-Stunden-Tag nie kommen wird. Ähnlich äußerte sich auch eine Krankenschwester aus dem Kreiskrankenhaus Aue, Karl-Marx-Stadt.
VP-Angehörige der BdVP Suhl diskutierten, dass sie sich nach Ablauf ihrer Verpflichtung entpflichten lassen wollen, wenn in der Produktion der 7-Stunden-Tag eingeführt wird, denn sie hätten dann dort ein besseres Auskommen und könnten dann auch ein besseres Familienleben führen. Im Bereich des Präsidiums der DVP in Berlin beschäftigten sich Genossen mit der Frage, welche Auswirkung die Verkürzung der Arbeitszeit auf ihren Dienst haben wird.
Äußerungen westdeutscher Genossen
Ein westdeutscher Genosse brachte zum Ausdruck, dass eine allgemeine Enttäuschung unter den westdeutschen Delegierten festzustellen ist, da der Genosse Walter Ulbricht in seinem Referat wenig über die Arbeit der KPD in Westdeutschland gesagt habe.
Ein Delegierter der SPD aus Westdeutschland vertrat die Meinung, dass die Angebote der Parteikonferenz an die SPD gut sind,15 befürchtet aber nach einer Vereinigung Deutschlands, dass die SPD-Mitglieder von den SED-Mitgliedern verdrängt werden. Es könnte auch so kommen, dass alle Marxisten-Leninisten werden müssten. Ein weiterer SPD-Genosse erklärte, dass ihm klar ist, dass die Funktionäre, die hier auf der Konferenz sprechen, so geschult sind, dass sie jetzt verstehen, Betriebe und den Staat zu leiten. Vor der SPD würden über kurz oder lang auch diese Probleme stehen, und man solle den SPD-Mitgliedern sagen, dass sie jetzt schon lernen müssen, denn sie werden diejenigen sein, die diese Arbeit übernehmen müssen.
Zu dem Vorschlag des 7-Stunden-Tages und zu der Rentenerhöhung äußerte ein Genosse der KPD, dass dies eine gute Sache sei und man hätte dadurch eine gute Diskussionsgrundlage für Westdeutschland. Ein anderer KPD-Genosse brachte zum Ausdruck: »Hoffentlich würde der Beschluss gefasst, dass die Lebensmittelkarten wegfallen, denn das würde ihnen als Genossen bei der Aufklärung der Bevölkerung in Westdeutschland helfen.«
Feindtätigkeit
Am 26.3.1956 wurden in der Grube Kombinat Gölzau,16 Kreis Köthen, [Bezirk] Halle, an zwei Loren je ein Hakenkreuz festgestellt. In der Nacht zum 28.3.1956 wurden auf fünf Plakate, die sich am Zaun der SED-Kreisleitung Schneeberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, befanden, Hakenkreuze geschmiert. Am 27.3.1956, gegen 21.00 Uhr, wurden vermutlich mittels Katapult je ein Fenster der Kreisleitung der SED und der GST in Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, durchschossen. Am 28.3.1956 brannte gegen 0.20 Uhr eine Scheune des VEG Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, nieder. Es handelt sich vermutlich um Brandstiftung. Es entstand ein Schaden von ca. 65 000 DM. Am 25.3.1956 wurden 15 Briefe festgestellt, die Briefmarken mit hetzerischen Losungen hatten. Die Briefe waren im Gebiet der DDR aufgegeben und nach Westberlin bzw. Westdeutschland gerichtet.