Stimmung zur III. Parteikonferenz der SED (9)
3. April 1956
III. Parteikonferenz der SED (9. Bericht) [Information Nr. M78/56]
Unter allen Bevölkerungsschichten nehmen die Diskussionen zur III. Parteikonferenz weiter zu.1 Im Vordergrund stehen allerdings immer noch die Stellungnahmen zu den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht über die Verbesserung der Lebenslage.2 Vereinzelt wurden auch Stellungnahmen zu anderen Problemen bekannt. Die Diskussionen zur III. Parteikonferenz sind in der Mehrzahl nach wie vor positiv und finden Ergänzung in den weiter anhaltenden Verpflichtungen in der Industrie und Landwirtschaft zur Erfüllung der Beschlüsse, die gefasst wurden. Die positiven Stellungnahmen sind weiterhin von der Erkenntnis getragen, dass alle Vorschläge der III. Parteikonferenz Erfolge der bisherigen Politik von Partei und Regierung und der Arbeit in der Industrie und Landwirtschaft sind und die Verwirklichung von der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Technisierung der Betriebe abhängt. Andererseits zeigen sich aber auch Unklarheiten, in dem die Vorschläge wohl begrüßt, jedoch die Erkenntnis zur Verwirklichung etwas zu tun, fehlt.
Negative und feindliche Äußerungen wurden nur vereinzelt bekannt. Der Inhalt dieser Stellungnahmen bezieht sich wiederum auf den Genossen Walter Ulbricht. In starkem Maße sind es besonders wieder Unklarheiten zu den verschiedensten Fragen, die Zweifel und ablehnendes Verhalten aufkommen lassen, was auf ungenügende Aufklärung zurückzuführen ist. So wurden wiederum zu einem großen Teil Zweifel an der Verwirklichung der vorgeschlagenen Verbesserungen zur Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung und der anderen Vorschläge bekannt. Verschiedentlich taucht auch die Meinung auf, dass diese Vorschläge mit Vorsicht aufzunehmen sind, da sie sowieso erst zu einem späteren Zeitpunkt realisiert werden sollen. Bei solchen Diskussionen wird immer wieder auf die Frage der Abschaffung der Lebensmittelkarten3 eingegangen, die bei Bekanntgabe des ersten Fünfjahrplanes4 ebenfalls in Aussicht gestellt worden wäre. Diskussionen dieser Art wurden wiederum bekannt aus den Bezirken Berlin, Potsdam, Gera, Karl-Marx-Stadt, Leipzig und Suhl. Diskussionen, in denen negativ zur Person des Genossen Walter Ulbricht Stellung genommen wird, wurden bekannt aus einigen zentralen Dienststellen in Berlin.
Unter den einzelnen Bevölkerungsschichten wurden folgende Argumente zu den einzelnen Fragen bekannt:
Zur Einführung des Siebenstundentages5
Zur Einführung des 7-Stunden-Tages nehmen hauptsächlich Beschäftigte der Industrie, Landwirtschaft und des Handels sowie Angestellte örtlicher Organe Stellung. Während die Beschäftigten der Industrie ausgehend von Materialschwierigkeiten, Wartezeiten und dergleichen Zweifel an der Verwirklichung dieses Vorschlages äußern, gehen Zweifel in der Landwirtschaft und im Handel davon aus, dass nicht genügend Arbeitskräfte und Maschinen zur Verwirklichung vorhanden wären, was damit begründet wird, dass sie jetzt zehn und zwölf Stunden arbeiten müssten, um die Arbeit zu schaffen. Angestellte äußern weiterhin ihre Absicht in die Industrie zu gehen, um auch in den Genuss der Vergünstigungen zu kommen. Charakteristisch dafür sind folgende Beispiele:
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Ein Arbeiter aus dem VEB Waggonbau Bautzen sagte: »Die Mechanisierung und der Produktionsablauf muss in unserem Betrieb noch wesentlich verbessert werden, denn jetzt werden beim 8-Stunden-Tag noch Überstunden geleistet, wie sollen wir das Arbeitspensum bei einer 7-stündigen Arbeitszeit bewältigen.«
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Ein Schmied (parteilos) aus dem Press- und Schmiedewerk »Hein Fink« in Wismar sagte: »Von uns soll die Einführung des 7-Stunden-Tages nicht abhängen. Wenn Material vorhanden und die Maschinen in Ordnung sind, würden wir schon zeigen, dass nicht nur der Plan erfüllt werden kann, sondern noch mehr gemacht wird.«
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Ein Teil der Angestellten des VEB Porzellanwerkes Neuhaus-Schierschnitz, [Kreis] Sonneberg, vertritt die Meinung, »dass die Einführung des 7-Stunden-Tages bestimmt ein Fortschritt wäre, aber auf der anderen Seite müsste man sehen, wie vorsichtig sich Walter Ulbricht bezüglich der Einführung der Technik und Modernisierung ausgedrückt hätte«.
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Der LPG-Vorsitzende aus Püchau, [Kreis] Wurzen, vertritt die Meinung, »dass der Vorschlag des Genossen Walter Ulbricht über den 7-Stunden-Tag in der Landwirtschaft nicht realisiert werden kann. Er begründet es damit, dass die Arbeitskräfte und die dazugehörigen Maschinen fehlen.«
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Ein Lagerhalter im HO-Warenhaus Karl-Marx-Stadt, Brückenstraße, sagte: »Der Satz – Befriedigung der Werktätigen6 ist sehr schön – aber die Praxis sieht doch ganz anders aus. Zurzeit ist eine große Unzufriedenheit unter der Arbeiterschaft. Es kommt doch darauf an, weniger zu versprechen, dafür aber mehr zu halten.«
Ähnliche Beispiele liegen noch aus den Bezirken Potsdam, Gera und Berlin vor.
Zur Abschaffung der Lebensmittelkarten und zur Erhöhung der Renten7
Ebenso stark wie die Diskussionen zum 7-Stunden-Tag sind die Stellungnahmen aller Bevölkerungsschichten zur Abschaffung der Lebensmittelkarten und zur Erhöhung der Renten. In diesen Stellungnahmen kommt die Meinung zum Ausdruck, dass man nicht so große Versprechungen wie Abschaffung der Lebensmittelkarten und Einführung des 7-Stunden-Tages machen sollte, sondern vielmehr kleinere Verbesserungen und Erleichterungen schaffen soll, die in absehbarer Zeit zu verwirklichen und für größere Teile der Bevölkerung von Nutzen wären. Häufig nimmt man auch hier auf die Versprechungen bei Beginn des ersten Fünfjahresplanes Stellung. [sic!] Rentner äußern Befürchtungen über eine nur geringe Aufbesserung der Renten. Zutreffend dafür sind folgende Beispiele:
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Ein Arbeiter im VEB Schleifmaschinenwerk Berlin äußert, dass er an der Abschaffung der Lebensmittelkarten gar nicht so sehr interessiert ist. Besser als die Aufhebung des Kartensystems ist nach seiner Meinung eine Regelung, die den großen Unterschied zwischen den einzelnen Kartengruppen beseitigt.8
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Arbeiterinnen in der Abteilung Wickelei des VEB Berliner Stern-Radio sprechen sich dafür aus, dass in der Frage der Lebensmittelkarten eine Verbesserung für die Rentner angestrebt werden müsste. Darüber hinaus ist die Meinung vorhanden, dass vonseiten der Regierung versucht werden müsste, die Grundkarte abzuschaffen und alle Personen in die nächsthöhere Kartengruppe einzustufen.
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Der Hauptbuchhalter der DHZ Suhl brachte Folgendes zum Ausdruck: »Nach der III. Parteikonferenz sollen auch in der DDR Düsenflugzeuge gebaut werden.9 Jedoch die Lebensmittelkarten abzuschaffen, dazu sind sie nicht in der Lage.«
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Ein Hauptmechaniker aus dem VEB ECW Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, äußerte, Walter Ulbricht hätte in seinen Ausführungen viel aufgezeigt, was geschafft werden soll. Dasselbe hätte er schon einmal getan, wo er erklärt habe, es müssten 30 Sorten Wurst, Fischwaren usw. herausgebracht werden. Aber verändert hätte sich bis heute noch nichts.
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Ein Betriebsingenieur sagte: »Wir bauen Stahlwerke, Kraftwerke usw. auf. Walter Ulbricht erklärt sogar, dass ein Atom-Kraftwerk gebaut werden soll.10 Dabei vergisst man aber die kleineren Sachen, die beim Menschen auch Eindruck machen, wie Verschönerung der Verpackung von Waren, zum Beispiel Zucker, Bohnenkaffee usw. in Büchsen.«
Ähnliche Diskussionen wurden aus den Bezirken Potsdam, Gera und Karl-Marx-Stadt bekannt.
Mechanisierung und Steigerung der Arbeitsproduktivität
Zur Frage der Mechanisierung der Betriebe und zur Steigerung der Arbeitsproduktivität als Voraussetzung für die Verkürzung der Arbeitszeit wurden bisher nur vereinzelt Stellungnahmen bekannt.
Im VEB Porzellanwerk Kahla, Kreis Jena[-Land], wird dazu in der Form Stellung genommen, dass man sagt: »Es wird Zeit, dass wir eine industrielle Umwälzung vornehmen, da im Porzellanwerk seit 1945 noch größtenteils die Arbeitsstätten so sind, wie sie von den verjagten Kapitalisten verlassen wurden. Von den Arbeitern wird auch darüber gesprochen, dass man zurzeit noch den Weltmarkt in Porzellan innehabe, der aber bei keiner Veränderung verloren gehen kann und schlecht zurückzuholen ist.« Im VEB Zeiss Jena, Abteilung Feinteilerei, wird von den dort ca. 40 beschäftigten Arbeitern, auch Parteigenossen, die Meinung vertreten, »dass sie aufgrund der Spezialarbeiten, welche sie in dieser Abteilung leisten, schon jetzt das Höchstmaß an Arbeiten verrichten müssen« und eine Steigerung der Arbeitsproduktivität als nicht mehr möglich bezeichnen.
Im VEB Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera, brachte eine Gruppe von Frauen, welche in diesem Betrieb beschäftigt sind, zum Ausdruck: »Wir werden, ehe bei uns der 7-Stunden-Tag eingeführt wird, vor Arbeitsüberlastung umgefallen sein, denn bei einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität um 50 % und 30 % Selbstkostensenkung kann es doch kein Mensch mehr aushalten.« In der Schuhfabrik Eppendorf, [Kreis] Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, äußerte ein Genosse: »Ich bin mit allem einverstanden, man soll aber ja nicht damit kommen, dass man die Normen erhöht.«
Die Diskussionen über den Genossen Walter Ulbricht werden meist noch im Zusammenhang mit seinen Ausführungen auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz geführt.11 In der Kammer für Außenhandel werden die Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht auf der III. Parteikonferenz, »dass die breite Diskussion über Stalin, die Diskussion des Klassengegners sei, so aufgefasst, dass die Diskussion damit unterbunden werden soll. Denn wer jetzt noch darüber diskutiert, kann ja als Klassengegner bezeichnet werden.« Man ist weiterhin der Meinung, »dass der Genosse Walter Ulbricht die jungen Menschen vor den Kopf gestoßen hat, als er vor den Genossen der Berliner-Delegiertenkonferenz erklärte, die jungen Genossen hätten die Stalinbiographie besser studiert als das ZK. Letzten Endes hätte ja das ZK die jungen Menschen dazu angehalten, diese Biographie zu studieren. Die jungen Genossen würden dadurch lächerlich gemacht werden.«12
In der Staatlichen Plankommission erklärte ein Genosse: »Wenn Ulbricht jetzt bezüglich Stalin so etwas feststellt, sollte er vor allem kritisch zu seinem eigenen Personenkult Stellung nehmen. Seine Einstellung zu Stalin war vor einem Jahr eine andere. Hatte er denn zu dieser Zeit die Fehler noch nicht gesehen? Wir haben seinerzeit in der ČSR schon gesagt, dass etwas nicht stimmt, zu Beginn des Überfalls auf die SU, denn sonst hätten die deutschen Truppen nicht so weit ins Land gekonnt.«13
Im Institut für Wasserwirtschaft führen einige Angestellte lebhafte Diskussionen über die Ausführungen Walter Ulbrichts auf der Berliner Delegiertenkonferenz. Sie hatten zu diesem Zwecke ein ND aus dem Jahre 1953 mit der Rede Walter Ulbrichts zum Todestage von Stalin herausgesucht14 und stellten beim Vergleich beider Artikel fest, »dass Walter Ulbricht entweder lügt oder ein Lobhudler ist«. Sie aber hätten schon lange gewusst, dass Stalin nur ein Bankräuber und Blutsauger gewesen ist. Sie sind der Meinung, dass das ganze Kollektiv der KPdSU unfähig ist und alle die Schuld tragen, wenn Stalin vorher derart gelobt worden ist.