Stimmung zur Neufestsetzung der Arbeitsnormen (7)
22. August 1956
Information Nr. 164/56 – Betrifft: Stimmung zur Neufestsetzung von Arbeitsnormen (7. Bericht)
In der Zeit vom 3.7.1956 bis 22.8.1956 wurde aus den verschiedensten Industriebetrieben wieder Unzufriedenheit und ablehnendes Verhalten der Beschäftigten zur Neufestsetzung und Erarbeitung von Arbeitsnormen bekannt. Im Wesentlichen ist diese Unzufriedenheit auf Folgendes zurückzuführen:
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Unklarheiten und ungenügende Aufklärung über Arbeitsnormen,
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falsche und administrative Erarbeitung von Arbeitsnormen.
1.) Unklarheiten und ungenügende Aufklärung über Arbeitsnormen
Wie aus dem vorliegenden Material ersichtlich ist, sind die Mehrzahl der Diskussionen über Arbeitsnormen auf ungenügende Aufklärung und Unklarheiten über die Neufestsetzung von Arbeitsnormen zurückzuführen. In einigen Betrieben kam es aus diesem Grunde wieder zu ablehnendem Verhalten bei der Erarbeitung neuer Normen sowie zur Zurückhaltung in der Angabe der genauen Arbeitsleistung.
So wurde im Zentrallager der Werkzeugunion Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, festgestellt, dass sämtliche Arbeiter nur eine Normerfüllung von 120 % abrechnen. Die über dieser Zahl liegenden Prozente verrechnen die Arbeiter auf den folgenden Monat. Dadurch entsteht ein ständiger Überhang, den sie von einem Monat in den anderen hinausschieben und nicht verrechnen wollen aus Angst vor einer neuen Normenüberprüfung.
Im Kaliwerk »Einheit« Dorndorf, [Bezirk] Suhl, brachte ein Hauer der Schachtanlage Meingraben zur gegenwärtigen Neufestsetzung der Normen Folgendes zum Ausdruck: »Wenn wir nach neuen Normen arbeiten müssen, werden wir das ja tun, aber wir werden dann nicht mehr die Arbeitsschutzbelehrungen unterschreiben, weil durch das scharfe Tempo keine Arbeitssicherheit mehr gewährleistet ist.«
In dem VEB Schuhfabrik Storkow, [Kreis] Beeskow, [Bezirk] Frankfurt/O., wurden im Jahre 1955 Verbesserungen an den Steppmaschinen durchgeführt. Die vorläufigen Normen, die mit 160 bis 190 % übererfüllt wurden, sollten durch Festlegung neuer Normen verändert werden. Darüber kam es zu heftigen Diskussionen unter den Arbeiterinnen. Eine Arbeiterin, die vor der Neufestsetzung der Norm ca. 1 000 Paar Schuhe steppte und jetzt nur noch ca. 100 Paar Schuhe steppt, sagte dazu: »Ich mache nicht mehr mit und wenn sie mir gleich die Aktivistenauszeichnung abnehmen.«
Im VEB Bleierzgruben »Albert Funk« Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wird zzt. ebenfalls die Einführung neuer Normen diskutiert. Die Arbeiter sind nicht bereit einer Normenveränderung zuzustimmen. Bei bisher durchgeführten Zeitstudien wurde das Soll nicht mehr erreicht.
Im Stahlwerk Gröditz,1 [Kreis] Riesa, [Bezirk] Dresden, besteht unter den Arbeitern der Modelltischlerei Unzufriedenheit über die niedrigen Vorgabezeiten bzw. zu hohen Normen. In den Diskussionen wurde zum Ausdruck gebracht, »dass die ganze Arbeit nur noch eine Wühlerei sei und durch die niedrigen Vorgabezeiten, welche oft nicht erfüllt werden können, mache das Arbeiten keine Freude mehr«.
Im Betonwerk Cossebaude,2 [Bezirk] Dresden, liegt die Normenerfüllung bei 270 %. Der TAN-Sachbearbeiter3 wollte deshalb am 12.7.1956 die Normen überprüfen, was von allen Arbeitern des Betriebes abgelehnt wurde. Die Arbeiter drohten den TAN-Sachbearbeiter auf die Straße zu setzen, wenn er das Werk nicht verlässt.
Im VEB Roßhaarweberei Coswig, [Kreis] Meißen, [Bezirk] Dresden, ist die Lage ähnlich. Die Normenerfüllung liegt bei 160 bis 200 %. Um diesen Zustand real zu verändern, wurde dazu übergegangen, mit der Belegschaft über die falschen Normen zu diskutieren. Durch Angehörige der BGL entstehen dabei jedoch Schwierigkeiten. So bringt die stellvertretende Vorsitzende der BGL zum Ausdruck, »die Norm wird nicht verändert, sie bleibt so, ich gehe nicht davon ab, solange die Regierung noch 5,00 DM für ein Stück Butter verlangt«.
Im VEB Technische Industrieerzeugnisse Helmsdorf, [Kreis] Sebnitz, [Bezirk] Dresden, sind die Arbeiter missgestimmt darüber, dass der Betrieb keine eigenen Normen erarbeitet hatte, sondern Normen aus einem anderen Betrieb übertrug. Den Versuchen der Betriebsleitung, die Normen zu ergänzen, stehen die Arbeiter jedoch ablehnend gegenüber.
Im VEB Sägewerk Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg, Werk 3, lag die bisherige Normerfüllung bei der Herstellung von Leichtbauplatten bei 150 bis 173 %. Am 31.7.1956 wurde die Norm neu festgelegt. Danach wird eine Erfüllung von 120 % erreicht. Diese Anregung kam aus den Werken 1 und 2, da diese bei gleicher Arbeit weniger verdienten als die Arbeiter im Werk 3. Von einigen Arbeitern des Werkes 3 wurde der letzte, nach alter Norm fertiggestellte Block Leichtbauplatten »zu Grabe getragen«, wobei ein Arbeiter als Pastor auftrat und diesen Block verabschiedete.
Aus den VEB Kupferbergbau »Ernst Thälmann« und »Fortschritt« Eisleben, [Bezirk] Halle, Abus Stahlbau Aschersleben und Schiffswerft Roßlau, [Bezirk] Halle, wurden Diskussionen bekannt, in denen die Arbeiter zum Ausdruck bringen, dass »ihre Normen zu hoch« wären.
2.) Falsche und administrative Erarbeitung von Arbeitsnormen
Immer wieder wird bekannt, dass falsche und administrative Erarbeitung von Arbeitsnormen zu einem Wesentlichen mit Anlass ist für die Unzufriedenheit eines Teiles der Beschäftigten zur Neufestsetzung von Arbeitsnormen. Dazu werden neuerdings wieder folgende Beispiele bekannt:
Im VEB Gespannfahrzeugbau Rathenow, [Bezirk] Potsdam, sind die Arbeiter der Meinung, dass die Einführung neuer technisch begründeter Arbeitsnormen mit zweierlei Maß gemessen wird und der Betrieb Normen einführt ohne die technischen Verbesserungen dafür zu schaffen. Die Ursache dieser schlechten Stimmung ist folgende: Ein Dreher und Fräser bearbeitet Ankerplatten. Bisher bekam er für 100 Stück 4,80 DM. Nach einer neuen Zeitaufnahme wurde nun eine neue Norm festgelegt. Jetzt erhält er für 100 Stück Ankerplatten nur noch 2,88 DM. An anderen Normveränderungen wird noch gearbeitet. Von den Arbeitern auf den Widerspruch dieser Erarbeitung der Normen mit den Veröffentlichungen in der Presse hingewiesen, erklärte der TAN-Bearbeiter, dass er »von oben« Anweisung bekommen habe, die anders lautet als in der Presse veröffentlicht wurde.
Im Elektro-Physikalischen Werk Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, sind nur für 40 % aller Arbeiten Normen festgelegt, was des Öfteren zu unzufriedenen Diskussionen der betroffenen Arbeiter führt. Es ist bei verschiedenen Arbeitern so, dass zwischen zwei nach Leistung arbeitenden Arbeitern ein Arbeiter tätig ist, welcher Stundenlohn bekommt, von dem jedoch der nächste, nach Leistung arbeitende Arbeiter, abhängig ist.
Im BKW Berzdorf,4 [Kreis] Görlitz, [Bezirk] Dresden, erklärte sich das Lokpersonal bereit, die Norm für das Abfahren der Kohle auf 1 760 t zu erhöhen. Als Bedingung stellten sie die Forderung, dass täglich 2 000 t Kohle zum Abtransport bereitgestellt werden. Diese Forderung wurde vom TAN-Bearbeiter versprochen zu erfüllen. Jetzt sieht es so aus, dass die Förderung nur reichlich 1 000 t beträgt und das Lokpersonal ohne Arbeit ist. Dadurch wurde der Verdienst sehr geschmälert und es besteht Missstimmung darüber unter dem Lokpersonal.
Im VEB Damino Oberoderwitz,5 [Kreis] Löbau, [Bezirk] Dresden, Werk 2, gibt es unzufriedene Diskussionen unter den Arbeitern über die am 1.3.1956 neueingeführte Norm. Diese Norm verlangt von den Arbeitern, ohne dass dafür technische Veränderungen geschaffen wurden, eine Mehrleistung von 25 bis 30% pro Schicht 5 500 Meter Ware. Im günstigsten Falle können jedoch pro Schicht nur 5 000 Meter geschafft werden und die Arbeiter haben dadurch eine Lohneinbuße von 10 bis 15%. Ähnlich ist die Norm in der Abteilung Kreuzspulerei dieses Werkes, die von 32 auf 48 Halter festgelegt wurde. Bei der Erarbeitung dieser Normen wurden bereits technische Neuerungen mit einbegriffen, die in Wirklichkeit noch gar nicht vorhanden sind. Dieser Zustand wirkt sich hemmend auf die Arbeitsproduktivität des Betriebes aus.
Im VEB Bau (K) Borna, [Bezirk] Leipzig, sind die Bauarbeiter unzufrieden darüber, dass für die Hohlblockbauweise Normen festgelegt werden, die keine reale Grundlage haben. Die Erfüllung dieser Normen wird ständig behindert dadurch, dass es an dem nötigen Material fehlt.