Stimmung zur Neufestsetzung der Arbeitsnormen (9)
19. November 1956
Information Nr. 347/56 – Betrifft: Stimmung zur Neufestsetzung von Arbeitsnormen (9. Bericht)
In den letzten sechs Wochen wurden aus den verschiedensten Industriebetrieben erneut Unzufriedenheit und zum Teil ablehnendes Verhalten der Beschäftigten zur Neufestsetzung und Erarbeitung von Arbeitsnormen bekannt. Diese Unzufriedenheit hat folgende Ursachen: Unklarheiten und ungenügende Aufklärung über Arbeitsnormen, falsche und administrative Erarbeitung von Arbeitsnormen.
1.) Unklarheiten und ungenügende Aufklärung über Arbeitsnormen
In einigen Fällen sind Diskussionen über Arbeitsnormen wiederum auf ungenügende Aufklärung und Unklarheiten über Arbeitsnormen zurückzuführen. In einigen Betrieben kam es deswegen zu ablehnendem Verhalten bei beabsichtigten Normenüberprüfungen und Änderungen. Vorwiegend wurden diese Erscheinungen bei Beschäftigten der verschiedensten Industriezweige festgestellt, die zzt. ihre Arbeitsnormen mit 150 bis 200 % erfüllen. Zur Begründung dieser Haltung wird angegeben, dass sie als Beschäftigte diese Normenerfüllung benötigen, da die Preise für Lebensmittel und Gebrauchsgüter zu hoch waren. Vereinzelt wurde auch mit einem neuen 17. Juni und ähnlichen Ereignissen wie in Ungarn gedroht.1 Jedoch muss dazu bemerkt werden, dass es sich dabei nur um Einzelstimmen handelt, die nur unter einem geringen Teil der Beschäftigten Anklang finden.
Die überwiegende Mehrzahl lehnt – trotz ihrer unzufriedenen Haltung zur Neufestsetzung von Normen – derartige Provokationen ab. Dafür folgende charakteristische Beispiele:
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Im VEB Landmaschinenbau Bernburg, [Bezirk] Halle, ist eine durchschnittliche Normerfüllung von 180 % zu verzeichnen. Bisher ist es noch nicht gelungen, die Arbeiter davon zu überzeugen, dass diese Normerfüllung ungesund ist.
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Im VEB Glaswerk Piesau, [Kreis] Neuhaus, wird von einem Teil der Glasmacher dahingehend diskutiert, »dass sie als Glasmacher täglich ihre Norm mit 140 % erfüllen müssen, um ihr Leben anständig fristen zu können. Mit 12,00 DM täglich seien sie nicht in der Lage, ihre Familien zu ernähren«.
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Die Maschinenfabrik Gustav Drescher Halle ist von Privat in Treuhand übergangen und erhält zzt. 80 % staatliche Beteiligung. Es ist beabsichtigt, die ehemaligen Akkordsätze in Leistungslöhne umzuwandeln, da die Akkordsätze z. T. bis zu 150 % übererfüllt wurden. Die Diskussionen eines Teiles der Beschäftigten beinhalten jedoch die Forderung, nur neue Normen anzunehmen, wenn eine 170%ige Erfüllung gewährleistet ist.
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Im VEB »Ernst-Thälmann«-Werk Suhl wurde dem TAN-Sachbearbeiter2 von Arbeitern erklärt, als eine Normenüberprüfung vorgenommen werden sollte: »Wir sollen wohl ein bisschen Ungarn mit Euch spielen.«
Ähnliche Beispiele liegen noch aus anderen Betrieben vor.
2.) Falsche und administrative Erarbeitung von Arbeitsnormen
Die falsche und administrative Erarbeitung von Arbeitsnormen war in starkem Maße wiederum Anlass zur Unzufriedenheit eines Teiles der Beschäftigten in den verschiedensten Industriebetrieben. Die Diskussionen dazu beinhalten jedoch keine provokatorischen Äußerungen. In allen Diskussionen wird jedoch gegenüber diesen administrativen Maßnahmen der TAN-Sachbearbeiter kein Verständnis gezeigt und gefordert, dass Normenänderungen vorher mit den Beschäftigten durchgesprochen werden müssten. In einzelnen Betrieben führte die administrative und falsche Erarbeitung von Arbeitsnormen zur Fluktuation von Facharbeitern, da in jedem Falle Lohnminderung eintrat. Dazu folgende charakteristische Beispiele:
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Die Bauarbeiter der Bau-Union Magdeburg, Abteilung 1247, fordern, dass die Zeiten für die Errechnung der Arbeitsnormen nicht nur vormittags, sondern auch nachmittags abgenommen werden, um die Normen real zu errechnen.
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Im VEB Kunststeinwerk Bornsen, [Kreis] Salwedel, [Bezirk] Magdeburg, ordnete der Betriebsleiter für die Eisenbieger und Spachtler eine Neufestsetzung der Arbeitsnormen an, da diese teilweise mit 200 % erfüllt wurden. Da mit den Arbeitern keine Aussprache geführt wurde, verklagten sie den Betrieb beim Arbeitsgericht und erhielten Recht.
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Im VEB Bau-Union Berlin wird nach einem Normenkatalog gearbeitet, der bisher von keiner Stelle genehmigt wurde. Ein Teil der Arbeiter, besonders die Brigadiere, lehnen ab, nach diesen Normen zu arbeiten. Der TAN-Sachbearbeiter erhält von der Betriebsleitung keine konkrete Stellungnahme dazu.
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Im VEB Bergmann-Borsig Berlin-Wilhelmsruh war den Beschäftigten der Abteilung Fräserei, Dreherei und Bohrerei, der Halle X für die Bearbeitung eines Werkstückes eine Mindestarbeitsnorm von 750 Minuten vorgeschrieben. In Wirklichkeit wurden 7 500 Minuten benötigt. Die TAN-Sachbearbeiter hatten sich bei der ersten Zeitgabe verrechnet. Dadurch sind schon mehrere Fachkräfte aus dem Betrieb – zum Teil nach Westberlin – abgewandert.
Diese Beispiele könnten gleichfalls noch erweitert werden.
3.) Feindpropaganda im Zusammenhang mit Arbeitsnormen
RIAS hetzt in einer Sendung vom 13.11.1956 die Arbeiter auf, jede Normenveränderung »abzuwehren«. Unter Bezugnahme auf eine Meldung der Nachrichtenagentur ADN über eine Wahlversammlung im VEB Steppdecken Dresden, wo die Arbeiter die administrative Normenänderung kritisierten sowie unter Bezugnahme auf verschiedene, in den Zeitschriften »Tribüne« und »Die Arbeit« erschienene Artikel zu Normenfragen,3 hetzt RIAS in diesem Kommentar: »Im VEB Steppdecken und im VEB Kowe Dresden sind administrative Normenerhöhungen einstweilen abgewehrt und das sind, bemerkenswerter Weise, ziemlich kleine, nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende Betriebe. Nun aber geht es darum, nicht nur administrative, sondern überhaupt solche Normenerhöhungen abzuwehren, denen die Arbeiter nicht ausdrücklich zugestimmt haben.«
Der UfJ4 hetzt im Informationsbrief Nr. 79 vom 5.10.1956 ebenfalls unter Bezugnahme auf Artikel zu Normenfragen in der Zeitschrift »Die Arbeit« in folgender Weise die Arbeiter in der DDR auf, Normenveränderungen entgegenzutreten, indem er schreibt: »Die Forderung der Arbeiter muss also sein: Keine Normerhöhung ohne gleichzeitige Erhöhung der Grundlöhne. Nur so können Lohnsenkungen vermieden werden, wenn die Normen der durchschnittlichen Erfüllung angepasst werden«.5