Westliche Rundfunk- und Presseberichte zum XX. Parteitag der KPdSU (1)
1. März 1956
Feindpropaganda zum XX. Parteitag der KPdSU [1. Bericht] [Information Nr. M44/56]
Sofort nach Bekanntwerden des Rechenschaftsberichtes des Genossen Chruschtschow1 bestimmten die Schlagzeilen über den XX. Parteitag der KPdSU2 das Bild der Westberliner Zeitungen und die Sendungen der Westsender. Aus der Fülle der Kommentare, Stellungnahmen, Reportagen u. a. sind zwei Hauptabsichten der Feindpropaganda zu erkennen: Erstens hetzt man im Zusammenhang mit sämtlichen Ausführungen gegen die Sowjetunion und startet besonders in Bezug auf die Theorie des Marxismus-Leninismus eine Verleumdungskampagne gegen die KPdSU. Zweitens ging man in den letzten Tagen des XX. Parteitages dazu über, die Bevölkerung der DDR anzusprechen und versuchte, besonders unter den Mitgliedern und Kandidaten der SED, Verwirrung zu stiften.
Die Feindpropaganda konzentrierte sich auf folgende Hauptpunkte:
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I. Hetze gegen die KPdSU
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II. Hetze zu theoretischen Problemen
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III. Hetze gegen die Entwicklung in der DDR
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IV. Beeinflussung der Bevölkerung der DDR
I. Hetze gegen die KPdSU
Bei den Kommentaren versuchen die westlichen Rundfunkstationen ihre Hörer dahingehend zu beeinflussen, dass sie den gemachten Ausführungen keinen Glauben schenken sollen. Die »Kommunisten wollen nach wie vor die Weltherrschaft« und es gäbe keine Änderung der Politik. Die Hetze richtet sich außerdem gegen einzelne Funktionäre der KPdSU und dabei vor allem gegen den Genossen Chruschtschow. In diesem Zusammenhang wird von einer Machtzusammenballung gesprochen, die die Wahl des ZK der KPdSU zeigen würde. Nach Bekanntgabe der einmütigen Wahl des ZK beschränkt man sich auf die Einschätzung, wer wiedergewählt und wer neu gewählt wurde, ohne auf eine »Machtzusammenballung« nochmals Bezug zu nehmen.
Der Londoner Rundfunk3 brachte mehrfach Ausführungen über die beabsichtigte Englandreise der Genossen Chruschtschow und Bulganin,4 wobei er britische Zeitungen zitierte. U. a. hieß es dabei, dass Genosse Chruschtschow nicht gegen England hetzen solle und dass die Lage in England falsch dargestellt worden sei. »Daily Telegraph« fordert, man solle sich die Einladung nach England nochmal überlegen.5 Die »News Chronicle« hetzen, dass man jetzt Stalin kritisieren dürfe, aber die Genossen Chruschtschow und Bulganin nicht.6
In zahlreichen Sendungen spricht man über Stellungnahmen des XX. Parteitages gegenüber dem Genossen Stalin. Es wurde von der »offiziellen Zertrümmerung der Stalin-Legende« und dem »Begraben des Stalinismus« gesprochen. Dabei hetzt man immer wieder, dass die jetzigen Kritiker Stalins früher selbst den Persönlichkeitskult usw. mit betrieben hätten. Grobe Verleumdungen spricht man hier vor allem gegen den Genossen Mikojan7 aus, der sich jetzt »größte Mühe gab, den Zuhörern zu versichern, dass auch der Stalinismus tot sei«. RIAS hetzte am 20.2.1956: »Die heute Kritik üben, waren alle dabei, als die Geschichte gefälscht wurde, als das Prinzip der kollektiven Leitung verletzt wurde.« In diesem Zusammenhang und vor allem anlässlich des Jahrestages der Gründung der Sowjetarmee8 wird mehrfach Trotzki erwähnt, seine Entwicklung in der SDAPR9 geschildert und er als »Gründer der Roten Armee« bezeichnet.10
II. Hetze zu theoretischen Problemen
a) Fragen der Unvermeidlichkeit von Kriegen im Kapitalismus
Der Londoner Rundfunk bezeichnet am 15.2.1956 als den »interessantesten Teil der Ausführungen Chruschtschows seine Revision der Lehre von Marx und Lenin über die Unvermeidlichkeit von Kriegen unter dem Imperialismus«.11 RIAS spricht von einer »Korrektur Lenins« und man glaubt, über eine »theoretische Unsicherheit« frohlocken zu können.
b) Frage der friedlichen Koexistenz12
Die diesbezüglichen Ausführungen werden verächtlich gemacht und man versteigt sich immer wieder zu der Warnung – besonders an die Adresse Indiens gerichtet – dass man der Sowjetunion und den Ausführungen keinen Glauben schenken soll. RIAS hetzt z. B. am 15.2.1956: »Koexistenz heißt also stillhalten, bis die freie Welt vom kommunistischen Bazillus zerfressen ist und den Moskauer Weltherrschaftplänen wehrlos zum Opfer fällt.«
c) Fragen der Übergangsperiode zum Sozialismus13
Zu diesem Problem gab es zahlreiche Stellungnahmen, die mehrmals die Furcht durchblicken ließen, dass die Sozialdemokraten von diesen Ausführungen beeinflusst werden. Die Ausführungen werden als »Volksfrontangebote« bezeichnet und man versucht gleichzeitig, hierbei die Forderung nach »Freien Wahlen« für Deutschland wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Nachstehende Zitate sind charakteristisch:
Der Sender »Freies Berlin« warnte am 16.2.1956 die Nichtsozialisten: »Sie dürfen nicht so tun als sei dieses massive Volksfrontangebot auf völlig neuer ideologischer Grundlage gar nicht erfolgt. Es ist erfolgt und damit ist eine neue Lage geschaffen worden für das gegenseitige Verhältnis der Sozialisten und Nichtsozialisten; nicht zuletzt bei uns.«
RIAS, 20.2.1956, 18.45 Uhr: »Noch bemerkenswerter ist eine andere Abweichung Chruschtschows, dass nämlich das Proletariat die Macht nicht unbedingt durch Anwendung von Gewalt erobern muss, sondern dass die sozialistische Gesellschaft möglicherweise auch mithilfe des parlamentarischen Stimmzettels, also durch freie Wahlen, aufgebaut werden könnte.«
Der Sender »Freies Berlin« bezeichnet am 15.2.1956 die Fragen der Übergangsperiode als »persönliche Geste« gegenüber Nehru14 und anderen und meint, dass die neuen Theorien auf die Entwicklung in Jugoslawien zurückzuführen seien.
III. Hetze gegen die Entwicklung in der Sowjetunion
Zum 6. Fünfjahrplan wird verhältnismäßig wenig gesagt.15 Man beschränkt sich darauf, einzelne Ausführungen verleumderisch umzukehren. Die Aufgabenstellung der Überholung der Produktion der kapitalistischen Länder wird als »bloße Propaganda« bezeichnet.16 Man hetzt gegen die Steigerung der Produktion in der Schwerindustrie und stellte die Frage, wer das bezahlen soll. Die Kollektivwirtschaften werden als die »unrationellste Form der landwirtschaftlichen Produktion« bezeichnet.
IV. Beeinflussung der Bevölkerung der DDR
Einzelne Sendungen sind direkt für die Mitglieder und vor allem Funktionäre der SED bestimmt und sollen zur Verwirrung in den Reihen der Partei führen. Einmal heißt es, dass die Funktionäre schweigen, die Redakteure nicht wissen, was sie schreiben sollen und deshalb das Mitglied auch nichts weiß. Zum anderen fordert man aber Diskussionen zu bestimmten Problemen heraus. Den Funktionären sollen folgende Fragen gestellt werden:
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Über den »Wert oder Unwert des Kurzen Lehrganges«17
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Ob man Stalin noch zitieren soll oder nicht?
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Werden jetzt die Stalinbände aus den Schaufenstern genommen? Wird die Stalinallee umgetauft?
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»Wer aus den Reihen der gesäuberten deutschen Altkommunisten rehabilitiert wird oder nicht?« (Dabei werden mehrfach Franz Dahlem,18 Merker19 u. a. Herrnstadt20 usw. genannt.)
Gleichzeitig werden im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung – Schaffung eines besseren Verhältnisses zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten – folgende Forderungen proklamiert:
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»alle wegen politischer Vergehen Verhafteten, Verurteilten und Verschleppten befreien«;
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»Wiedereinsetzung von Kreikemeyer21 u. a.«;
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»Rehabilitierung von Herrnstadt«;
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»Nur wer nichts sagt, kann heute noch sicher sein, nichts Falsches zu sagen«. (SFB 23.2.1956)
Mehrfach wird gegen unsere Propagandaarbeit gehetzt. Es wäre noch nicht klar, was jetzt gelehrt werden soll. Auch würde das Studium dadurch erschwert, dass ein Großteil der leninschen Schriften, die jetzt zitiert wurden, bei uns gar nicht vorlägen. Charakteristisch sind dafür folgende Ausführungen:
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London (23.2.1956): Die Funktionäre »befinden sich in einer Situation, da alles, was sie im Laufe des letzten Jahrzehntes gelehrt und durchgesetzt haben, durch einige Reden auf dem Moskauer Parteiplenum zerstört wurde.«
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»Sender Freies Berlin« (20.2.1956): »Diese zweifellos mit Zustimmung der kollektiven Führung angekündigte Neugestaltung der Parteipropaganda stürzt die gesamte Schulungsarbeit der SED über den Haufen … Es dürfte in vielen Kursanten der SED-Parteischulen die widersprechendsten Gefühle auslösen, von Mikojan darüber belehrt zu werden, dass bisher unanfechtbare Standardwerke abgeschafft werden müssen.«