10. Jahrestag, 2. Bericht
5. Oktober 1959
Information Nr. 709/59 – 2. [Bericht] Stimmung, Feindtätigkeit und andere Vorkommnisse anlässlich des 10. Jahrestages der DDR
An der Stimmung und an der Argumentation der Bevölkerung hat sich nichts Wesentliches verändert. Sie sind überwiegend positiv, wobei auch eine ganze Reihe solcher Personen und Kreise, die bisher zurückhaltend und indifferent waren, ihre Zustimmung durch Diskussionen oder gute Ausschmückung usw. zum Ausdruck brachte.
Doch halten sich nach wie vor die bereits im 1. Bericht1 angeführten Gerüchte und Vermutungen sowie die Stimmen, die ihre Ursache in verschiedenen Versorgungsschwierigkeiten haben. Vereinzelt werden solche Versorgungsschwierigkeiten in abfälliger Form verallgemeinert, um die Bedeutung des 10.Jahrestages zu schwächen. Örtliche Schwierigkeiten im Warenangebot wurden z. B. von den Bezirken Suhl, Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Leipzig und Neubrandenburg gemeldet. Dabei handelt es sich hauptsächlich – aber örtlich unterschiedlich – um Butter, Fleischwaren, Gemüse und Käse. In diesem Zusammenhang entstanden Diskussionen wie: »Es ist eine Butterknappheit zu erwarten, in Dresden wird Butter bereits auf Marken ausgegeben.« (Kreis Annaberg und Marienberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt) »Wenn nur das ›Gesindel‹ zu fressen hat, der Arbeiter braucht nichts. Man sollte überhaupt nicht mehr arbeiten. Wenn Feste gefeiert werden, gibt es schon zu fressen. Der Werkleiter hat genug und für uns ist nichts da.« (Ein Arbeiter im VEB Waschgerätewerk in Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt.). In einer Kinoveranstaltung in Gielow, [Kreis] Malchin, wurde während der Filmreklame (10 Jahre DDR) gerufen: »10 Jahre DDR und kein Fleisch in den Läden.«
Gerüchteartige Vermutungen über eine Preissenkung erstrecken sich auf fast alle Lebensmittel und Gebrauchsgüter einschließlich Kraftfahrzeuge. Folgende neue Gerüchte sind aufgetreten:
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dass die sowjetischen Freunde zu Ehren des 10. Jahrestages das Sperrgebiet in Karlshorst2 aufgeben. (Volkseigene Wohnungsverwaltung Berlin-Lichtenberg)
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dass vom Rat des Stadtbezirks Köpenick Kommissionen gebildet worden seien, die Material über die Ausschmückung der Häuser und Geschäfte zusammenstellen. Dieses Material würde dann bei eventuellen Anträgen auf Reisepässe (PM 12a) u. a. herangezogen werden.3 (private Gewerbetreibende in Berlin-Schöneiche)
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dass zum 10. Jahrestag eine Amnestie käme. (Strafgefangene Herpf, [Kreis] Meiningen, Plau, [Bezirk] Schwerin). In diesem Zusammenhang wurde auch in einer öffentlichen Justizversammlung in Grunewald, [Kreis] Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, von einigen Einwohnern gefordert, die Beschuldigte [Name 1, Vorname] freizulassen, das sei »das beste Geschenk für die Gemeinde«. (In diesem Zusammenhang wurde der Fall der [Name 1] ausgewertet, die wegen staatsgefährdender Hetze und Organisieren von Abhören westlicher Fernsehsendungen verurteilt wurde.)
Andere negative Diskussionen sind nur in Einzelfällen bekannt geworden.
Zu erwähnen ist die Stellungnahme eines großen Teiles der Wissenschaftler an der Bergakademie Freiberg. Sie vertreten die Meinung, dass sie froh wären, wenn der ganze »Rummel« vorbei sei; denn in der letzten Zeit wäre keine wissenschaftliche Arbeit, sondern nur Propaganda verrichtet worden. Prof. Stather,4 Leiter des Lederinstituts, lehnte es ab, die Festansprache zum 10. Jahrestag zu halten, mit der Begründung: Er sei kein parteipolitischer Propagandist, die Propaganda möge von den Parteifunktionären durchgeführt werden.
Weiter wurde bekannt, dass in einigen Einzelfällen Mitglieder von Kampfgruppen5 eine Vereidigung ablehnen, ohne ernsthafte Begründungen dafür zu geben.
Direkte feindliche Handlungen zeigen sich in Vorbereitung des 10. Jahrestages weiterhin besonders im Anmalen von Hetzlosungen, Beschädigen von Plakaten, Abreißen von Fahnen, Versuchen der Desorganisation, Hetzflugblattverbreitung und ähnlichen Delikten. Im Vergleich zum 1. Bericht hat die Feindtätigkeit auf diesen Gebieten etwas zugenommen.6
Bisher aufgetretene Hetzlosungen:
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»Es lebe die westliche Freiheit« (VEB Filmfabrik Agfa Wolfen, [Bezirk] Halle7)
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»10 Jahre Ostzone« (Bahnhof Meuselwitz, [Kreis] Altenburg, [Bezirk] Leipzig)
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»Es lebe der 10. Jahrestag der Deutschen Bundesrepublik« (Bahnhof Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg, an einem Kesselwagen)
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»Es lebe die Freiheit« (Bremshäuschen Bahnhof Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg)
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»17. Juni« (Neubau in Köpenick)
Im VEB Schraubenfabrik in Bärenstein, [Bezirk] Dresden, wurden hochwertige Drehstühle von unbekannten Personen zerschlagen. Es wurde ein Zettel hinterlassen mit der Aufschrift: »Das ist unser Geburtstagsgeschenk«.
Am 3.10.1959 wurde auf dem S-Bahnhof Königs Wusterhausen in einem S-Bahn-Wagen fünf geklebte Hetzlosungen gegen den Gen. Walter Ulbricht8 und andere Partei- und Staatsfunktionäre festgestellt. Die Hetzlosungen waren auf üblichen Klebestreifen mit Schreibmaschine geschrieben.
Auf der Volkswerft Stralsund wurde in einer Toilette eine Hetzlosung gegen die DDR geschmiert. Hakenkreuze wurden an Häuserwänden in Leipzig, im VEB Baumwollspinnerei Leipzig und in einem Bus der Wismut9 angeschmiert.
Das Abreißen und Beschädigen von Transparenten, Plakaten und Fahnen hat bisher noch keinen großen Umfang angenommen. Am häufigsten – jedoch wegen des geringen Umfangs auch nur relativ – sind derartige Handlungen in den Bezirken Berlin, Leipzig, Dresden, Potsdam, Magdeburg, Rostock und Schwerin aufgetreten. In der Gemeinde Legde, [Kreis] Perleberg, [Bezirk] Schwerin, wurden von 50 angebrachten Plakaten 20 beschädigt bzw. ganz abgerissen.
Die BPO des Walzwerkes Hettstedt, [Bezirk] Halle,10 erhielt einen Anruf mit verstellter Stimme: »Hier ist SS-Büro, denkt an euren Tod«. Dieser Anruf kam aus dem Werk.
In Sebnitz, [Bezirk] Dresden, wurden die Kampfgruppen zu einer Übung in Hohenstein zusammengezogen. Die Konsumbäckerei wurde angewiesen, die entsprechenden Brotmengen zu liefern. Durch einen anonymen Anruf wurde diese Bestellung rückgängig gemacht. (Das Brot kam trotzdem noch zur Auslieferung).
Hetzflugblätter (Ballon) der ZOPE11 wurden in den Bezirken Magdeburg und Potsdam gefunden.
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In der Handwerkskammer in Schmölln, [Bezirk] Leipzig, wurde eine Hetzschrift der ZOPE in deutscher Schrift an der Wand angebracht.
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In der Mitropa12 in Magdeburg wurde ein Flugblatt der ZOPE auf einen Tisch gelegt.
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In Karl-Marx-Stadt wurde eine selbstgefertigte Hetzschrift an einer Haustür angebracht. Inhalt: Hetze gegen unseren Staat.
Anlässlich des 10. Jahrestages der Gründung der DDR fand in Haßleben, [Bezirk] Erfurt, eine Kulturveranstaltung statt. Von mehreren Jugendlichen wurde versucht in den Saal einzudringen, was durch die verantwortlichen Genossen verhindert wurde. Daraufhin kam es zu einer Auseinandersetzung, wobei der Bürgermeister des Ortes und ein weiterer Funktionär tätlich angegriffen wurden.
In Erfurt wurde in der Nacht vom 3.10.zum 4.10.1959 ein Leutnant der Volkspolizei mit seiner Frau in der Michaelisstraße von ca. zehn Jugendlichen angepöbelt. Der Genosse wies sich dabei als VP-Angehöriger aus und verlangte von den vier Hauptsprechern die Personalausweise mit der Bemerkung, sie möchten sich diese am nächsten Tag bei der VP wieder abholen. Daraufhin kam es zu einer Schlägerei, wobei der Gen. Leutnant durch einen Messerstich in die Lunge verletzt wurde. Bei diesen Tätlichkeiten fielen u. a. die Worte: »Was, du bist bei der VP, dich schlagen wir tot, du Hund.« Die vier Jugendlichen wurden von der Abt. K13 festgenommen.
Außerdem wurden noch folgende Vorkommnisse feindlichen Charakters bekannt:
Während eines Sonderkonvents am 23.9.1959 im Evangelischen Kirchenamt Halle wurde den Pfarrern auf Anweisung der evangelischen Kirchenleitung mitgeteilt, sich während der Gottesdienste in den Predigten jeder politischen Äußerungen zu enthalten und nicht an den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag teilzunehmen. Wenn sich eine Teilnahme nicht umgehen lasse, sollten sich die Pfarrer jeder zustimmenden Äußerung enthalten.
In der Gemeinde Matgendorf [bei] Groß Wüstenfelde, [Kreis] Teterow, organisierte der dortige Pastor am 4.10.1959 eine kirchliche Gegenveranstaltung in der Zeit, als die Gemeinde die Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag durchführen wollte. Dies hatte zur Folge, dass die Bevölkerung nicht an den Feierlichkeiten teilnehmen wollte. Erst nach zwei Aussprachen mit dem Pfarrer erklärte sich dieser bereit, seine Veranstaltung für die Zeit von 12.00 bis 16.00 Uhr zu unterbrechen.
Im Kreis Beeskow, [Bezirk] Frankfurt/O., versuchten die reaktionären Pfarrer durch ein Schreiben Druck auf den Rat des Kreises auszuüben. Sie forderten die Kampfdemonstration am 4.10.1959 zu verlegen, da die Kirche an diesem Tage das Erntedankfest feiert und die Mehrzahl der Bevölkerung daran teilnehmen wolle.
Aus den Kreisen Templin und Neubrandenburg14 wird mitgeteilt, dass am 2. und 3.10.1959 Beobachtungen durch einen mit drei Insassen besetzten Wagen der englischen Militärmission festgestellt wurden. Diese beobachteten am 2.10.1959 die Manöver sowjetischer Truppeneinheiten auf dem Übungsplatz Reiersdorf15/Templin, wobei sie Filmaufnahmen machten und am 3.10.1959 das Objekt Trollenhagen Kreis Neubrandenburg.
In der Nacht zum 4.10.1959 wurde der VP-Oberwachtmeister [Name 2] vom VP-Revier Gransee, [Bezirk] Potsdam, mit einer Schussverletzung in das Krankenhaus Gransee eingeliefert, an deren Folgen er verstarb. [Name 2] hatte Dienst und es ist noch nicht geklärt, ob Mord oder Selbstmord vorliegt. Untersuchungen von der Mordkommission werden geführt.
Über feindliche Pläne und Maßnahmen wurde Folgendes bekannt:
Unmittelbar hinter dem Brandenburger Tor, in der Nähe der Reichstagsruine, wurden am 3.10.1959 mehrere 13-Mann-Zelte errichtet. Am gleichen Ort waren Transparente mit der Aufschrift »Wir hungern für die Freiheit Westberlins« angebracht. Indische Studenten riefen Losungen aus. In verteilten Flugblättern wurde zu einem »Protestmarsch am 6.10.1959 nach Pankow16« aufgerufen.
In einem bisher nicht besetzten Westberliner Flüchtlingslager am Askanischen Platz (Nähe Anhalter Bahnhof) wurden eine größere Anzahl Jugendlicher untergebracht, die vermutlich zu Störaktionen bei Veranstaltungen anlässlich des 10. Jahrestages der DDR eingesetzt werden sollen.
Von der Westberliner SPD ist geplant, zum 10. Jahrestag der DDR 20 000 Flugblätter zu verbreiten, die zzt. in der Druckerei Otto in der Lützowstraße hergestellt werden. (Inhalt und Art der Verbreitung sind noch nicht bekannt.)
Am 8. Oktober tritt um 17.00 Uhr die Organisation »Berlin bleibt frei« in der Schlüterstraße zu einer Sitzung zusammen. Das Thema lautet: »Gegenwärtige Berliner Situation«.
Die VOS (Vereinigung der Opfer des Stalinismus) führt am 7.10.1959 eine Mitgliederversammlung im Schultheiß-Restaurant am Kurfürstendamm durch. Die Veranstaltung steht unter dem Thema: »10 Jahre Stalinismus«.17
Die ZOPE führt am 7.10.1959 in der Lutherstraße eine Veranstaltung im kleineren Kreis durch. Als Referent erscheint [Name 3] aus Lausanne. [Name 3] ist Cheflektor in dem Verlag, der die Arbeit von Schlamm18 herausbrachte.
Zu einer Veranstaltung der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft,19 die am 3.10.1959 in der Deutschen Sporthalle stattfand, wurden von einer unbekannten Stelle 500 Karten aufgekauft, ohne dass die Plätze zur Veranstaltung besetzt wurden.
In weiterhin starkem Maße werden an der Staatsgrenze West der DDR Grenzprovokationen inszeniert, die sich ihrem feindlichen Charakter und den Methoden nach nicht wesentlich verändert haben. So wurden bisher allein innerhalb von vier Tagen 22 derartige mehr oder weniger bedeutungsvolle Provokationen bekannt, die u. a. in der Nähe der Orte
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Kella/Vogelsang und Bermbach,20 [Bezirk] Erfurt,
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Hermannsfeld, [Kreis] Meiningen,
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Mackenrode, [Kreis] Nordhausen,
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Salzwedel,
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Schnackenburg21/Seehausen,
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Truckendorf und Steudach, [Kreis] Hildburghausen,
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Asbach, [Kreis] Heiligenstadt,
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Oschersleben,
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Eisenach,
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Ring um Berlin,
durchgeführt wurden.
Zumeist wurden dabei Schlagbäume, Grenzpfähle u. ä. beschädigt bzw. entwendet und Grenzpolizisten durch Hetzreden und Aufforderungen, die Grenze zu überschreiten, provoziert.
Typisch für die stärkere Ausnutzung des Grenzgebietes zu Provokationen ist auch die Tatsache, dass z. B. in verschiedenen Gebieten (Barneberg, [Kreis] Oschersleben) westlicherseits alle zur DDR führenden Straßen und Wege, die sonst nicht kontrolliert waren, mit BGS-Posten besetzt wurden, die Funkgeräte bei sich führen. Außerdem finden nach wie vor starke Kontrollen aller Personen statt.
Durch Interzonenreisende und Rückkehrer wurde bekannt, dass eine verstärkte Kontrolle des Interzonenverkehrs gegenüber den Grenzkontrollämtern Juchhöh, Gutenfürst und Probstzella zu verzeichnen ist. In den Interzonenzügen werden von westzonalen Kontrollorganen
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alle Personen registriert, die nicht im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung für die DDR sind;
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die Personen registriert, die anlässlich der Feierlichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik in die DDR fahren.
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Es wurden die Nummern der Aufenthaltsgenehmigungen kontrolliert. Bei Feststellungen, dass die Nummern auf den Aufenthaltsgenehmigungen fortlaufend sind, erfolgt ebenfalls eine Registrierung der Personen, in der Annahme, dass es sich um Delegationen westdeutscher Arbeiter u. ä. handelt, die zu den Feierlichkeiten in die DDR reisen.
Am 2.10.1959, gegen 10.30 Uhr, erschien am Schlagbaum Gotten/Gotthard ein Mannschaftstransportwagen des Bundesgrenzschutzes mit zehn amerikanischen Soldaten. Sie beobachteten das Gebiet der DDR und provozierten die Posten der Deutschen Grenzpolizei mit den Worten: »Posten kommt heraus, Ihr braucht nicht militärische Wachsamkeit durchzuführen, wir sind alles nur Deutsche. Lasst euch fotografieren. Ihr habt die Chance in einer westdeutschen Zeitung zu erscheinen, ihr könnt Filmstars werden, kommt heraus. Wir brauchen Nachwuchs, kommt heraus, Ihr bekommt westdeutsche Bonbons«. Sie liefen dann mit dem MG an den 10-m-Kontrollstreifen und brachten es in Stellung.22 Außerdem luden sie sämtliche anderen Waffen (Schnellfeuergewehre und Pistolen).23
Am 3.10.1959 fuhr in der Nähe von Asbach, Kreis Heiligenstadt auf westlicher Seite ein kleiner Autobus mit Lautsprecheranlage vor und strahlte Hetzsendungen gegen die DDR und SU aus. Besonders wurde gegen den Besuch des Genossen Chruschtschow24 in Amerika gehetzt.25 Die Bevölkerung soll dabei aufgefordert worden sein, den Gen. Chruschtschow, wenn er in die DDR kommt, zu »vernichten«. (Der genaue Sachverhalt wird noch überprüft.)
Am Schlagbaum Mittelaschenbach/Erfurt26 näherten sich am 4.10.1959 ca. zehn Jugendliche im Alter von 16 bis 20 Jahren, die einige Zivilisten, vermutlich Bauern, die im Hinterland der DDR arbeiteten, aufforderten, zum Schlagbaum zu kommen. Die Zivilisten reagierten jedoch nicht darauf. Die Jugendlichen bestiegen daraufhin die Drahtsperre und beschimpften die Zivilisten »Hunde, wir hängen Euch alle auf«. Anschließend überquerten sie mehrmals den 10-m-Streifen. Als sich die Kontrolle der DGP näherte, riefen sie dieser »Heil Hitler ihr Russen« zu und gingen nach Mittelaschenbach/WD zurück, wobei sie das faschistische Lied »Die Fahne hoch«27 sangen.
Anzeichen einer Arbeitsniederlegung gab es in einer Gleisbaubrigade der Bau-Union Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O.28 Die Brigade (acht Mann) erhielt den Auftrag im Objektlohn zu arbeiten.29 Nach Beendigung der Arbeiten stellten sie fest, dass ihnen unberechtigt durchschnittlich 100 DM am Lohn fehlten. Maßnahmen zur Klärung des Sachverhalts wurden eingeleitet.
Die Diskussionen zu Lohn- und Prämienfragen haben in den letzten Tagen zugenommen. Zu Lohnfragen gibt es besonders im Kraftwerk des VEB »Otto Schlag« in Bösau/Hohenmölsen, Betriebsteil Profen, [Bezirk] Halle,30 negative Diskussionen, die auf die unterschiedliche Lohnzahlung in den drei vorhandenen Kraftwerken zurückzuführen sind. Neben einer starken Fluktuation hat sich die Lage so zugespitzt, dass Schmierereien auf Lohnzetteln und Tagesberichten festgestellt wurden. Im Salzkohleobjekt des Leuna-Werkes kam es zu Lohnforderungen durch die Bauarbeiter der Brigaden [Name 4], [Name 5] und [Name 6], da die Bauarbeiter des Werkes einen 0,30 DM31 höheren Stundenlohn erhalten. In den Diskussionen drohen sie die Arbeit aufzugeben, wenn sie keine Lohnerhöhung erhalten. In den Abteilungen Brikettfabrik und Grube des BKW Neumark, [Kreis] Merseburg, herrscht durch Absatzschwierigkeiten und Waggonmangel eine äußerst schlechte Stimmung, da die Arbeiter durch diese Situation ca. 50,00 DM weniger als in den Vormonaten verdienen. Umfangreiche Diskussionen in allen Bezirken zu Lohnfragen gibt es vor allem bei der Reichsbahn, wobei besonders mit dem 10. Jahrestag der DDR Spekulationen auf eine umfassende Veränderung im Lohngefüge verbunden werden. Dabei werden Vergleiche mit den Lohnerhöhungen in der Industrie angestellt und auf die große Verantwortung sowie den Nacht-, Sonn- und Feiertagsdienst hingewiesen.
Zu Prämienfragen gibt es vor allem Diskussionen über die Vorschläge zur Auszeichnung bzw. über die Höhe der Prämie. Zum Beispiel vertreten die Arbeiter des VEB Stuck- und Natursteine die Meinung, dass der Betrieb den Verwaltungsangestellten zu hohe Prämien zahlt, während die Produktionsarbeiter bei Erfüllung der Wettbewerbsbedingungen nur 50,00 bis 60,00 DM erhalten. Scharfe Kritik wurde an den Vorschlägen für die Auszeichnung der Aktivisten zum 7. Oktober geübt, da einige der Vorgeschlagenen keine gesellschaftliche Arbeit leisten und gegen die DDR eingestellt sind. Zu großen Unstimmigkeiten kam es vor allem in der Abteilung Betonwerkstein. In dieser Abteilung wurden die vorgesehenen Prämien abgelehnt, da die Mittel aus dem Fonds der Abteilung genommen werden müssen. Die Zuführung von Geldern erfolgt aber erst nach der Abrechnung des III. Quartals, sodass von den Arbeitern die Meinung vertreten wird: »Erst werden wir zu höheren Leistungen aufgefordert und nun gibt es keine Prämien.« Im VEB Dampferzeugung herrscht Unzufriedenheit über die Prämiierungsvorschläge, da überwiegend nur leitende Funktionäre berücksichtigt wurden. (Ähnliche Beispiele gibt es aus anderen Betrieben.) In der LPG Rieba32/Pochra,33 [Bezirk] Dresden, wurde ein schriftlicher Aushang, Prämiierungsvorschläge betreffend, durchgestrichen und dafür politisch indifferente Genossenschaftsbauern aufgeführt.
Folgende neue Brände und Havarien größeren Umfangs wurden bekannt:
Am 2.10.1959 brannte ein mit Motorrädern und Fahrrädern im Werte von 14 700 DM beladener Lkw der Molkerei Stendal, [Bezirk] Magdeburg. Die Ladung wurde zu 90 % vernichtet. Ursache: Fahrer und Beifahrer hatten während der Fahrt geraucht und ihre Zigarettenkippen nach hinten weggeworfen, die die Ladung zur Entzündung brachten.
Am 3.10.1959 brannten in Gönnsdorf, [Kreis] Dresden[-Land],34 zwei Strohdiemen der LPG »Karl-Marx« mit ca. 1 000 Ztr. Stroh nieder. Der Brand entstand in der Zeit, als die LPG ihr Erntefest feierte. Schaden 3 500 DM, Ursache: vermutliche Brandstiftung.
Am 4.10.1959 gerieten auf dem Bahnhof Engelsdorf, [Kreis] Leipzig[-Land], 14 mit Schwefel beladene Waggons eines Zuges in Brand. Ursache und Schaden noch unbekannt.
Weiterhin wurden in der Zeit vom 3. bis 4.10.1959 aus der Landwirtschaft drei Brände und aus der Industrie ein kleinerer Brand mit Schadensummen zwischen 50,00 und 2 000 DM gemeldet, deren Ursachen Kinderbrandstiftung und Fahrlässigkeit waren.
Am 4.10.1959 ereignete sich im Objekt 32 der Buna-Werke, [Bezirk] Halle,35 in der Kontaktfabrik am Ofen 13 eine schwere Explosion. Dabei wurden drei Personen schwer und eine Person leicht verletzt. Größerer Materialschaden entstand nicht, der Betrieb arbeitet schon wieder. Vermutliche Ursache: Bildung von Gasen, da dieser Ofen bereits am Vorabend abgeschaltet wurde.
Im Georgi-Dimitroff-Werk Magdeburg wurde am 4.10.1959 durch einen Erdrutsch ein Trafo zerstört und ein Elektroofen stillgelegt.36 Der Schaden am Trafo beträgt 20 000 DM, Dauer der Reparatur ca. 15 Tage. Der Betrieb erleidet dadurch einen täglichen Produktionsausfall von 15 t Stahl = 3 000 DM.
Am 2.10.1959 musste in der Fabrik 95 der Wismut in Dresden Alarm ausgelöst werden, da in der Natrium-Chlorid-Station das Rührwerk zu Glimmen anfing.37 Ursache war der nur halbgefüllte Bottich, durch den das Getriebe übermäßig erhitzt wurde. Schaden entstand nicht. Operative Maßnahmen wurden eingeleitet.
Seit dem 3.10.1959 stehen im Kombinat Lauchhammer, [Bezirk] Cottbus, die Fabrik 9 und das Kraftwerk still.38 Vermutliche Ursache ist ein Erdschluss in der 15-kV Leitung.
Am 3.10.1959 fuhr auf dem Bahnhof Mehltheuer (RBD Dresden) ein von Gera kommender Güterzug auf einen leeren Personenzug auf. Ursache: der diensthabende Stellwerkmeister hatte die Fahrstraße falsch festgelegt. Schaden: ca. 20 TDM.
Berichtigung: Die im Bericht vom 3.10.1959 im Zusammenhang mit dem Silobrand in Demmin, [Kreis] Neubrandenburg, gemachten Angaben über die Feuerwehr, entsprechen nach genauen Untersuchungen nicht der Wahrheit.39