10. Jahrestag, 4. Bericht
7. Oktober 1959
Information Nr. 715/59 – 4. Bericht über Stimmung, Feindtätigkeit und andere Vorkommnisse anlässlich des 10. Jahrestages der DDR
Die Stimmung der Bevölkerung ist unverändert positiv. Auch weiterhin wird über die zunehmende Realisierung von Verpflichtungen, über gute Ausschmückung der Städte und Ortschaften und über vorwiegend positive Stellungnahmen berichtet.
Vereinzelt wurden im Zusammenhang mit der Vereidigung der Kampfgruppen wieder Ablehnungen bekannt.1 Zur Begründung wurde wieder auf den Abrüstungsplan des Genossen Chruschtschow2 verwiesen, was auf politische Unklarheit bei diesen Kämpfern schließen lässt.3 Im Bezirk Magdeburg blieben durchschnittlich 7,5 % der Kämpfer der Vereidigung unentschuldigt fern.
In zahlreichen Diskussionen halten sich die Vermutungen über eine neue Preissenkung bei Lebensmitteln und Industriegütern anlässlich des 10. Jahrestages.
Folgende neue Gerüchte und gerüchteartige Vermutungen wurden bekannt: Am 7.10.1959 könnten sich die Einwohner des Grenzgebietes mit ihren Angehörigen aus der Westzone an der Staatsgrenze treffen (Einwohner von Sondershausen – einige Bürger hielten deshalb beim VPKA bereits Rückfrage, ob sie ohne Schwierigkeiten in das Grenzgebiet einreisen könnten). Am 6.10.1959 sei ab 14 Uhr Arbeitsschluss angeordnet worden (PGH-Bauhandwerk Erfurt).
Diskussionen zu Versorgungsfragen traten nicht in Erscheinung. Aus dem Kreis Kalbe, [Bezirk] Magdeburg, wurde bekannt, dass in der Gemeinde Engersen am 5.10.1959 ein Waggon mit 20 000 kg Datteln nicht der Versorgung zugeführt werden konnte, da die Datteln verdorben waren.
Als direkt feindliche Handlungen tritt nach wie vor in starkem Maße das Abreißen und Beschädigen von Fahnen und Plakaten in Erscheinung. Derartige Handlungen wurden in den Bezirken Berlin (5), Leipzig (5), Magdeburg (7), Potsdam (6) und Erfurt (5) festgestellt. Auf dem Bahnhof Forst, [Bezirk] Cottbus, wurden an zwei Kesselwagen, die der polnischen Staatsbahn übergeben werden sollten, Hakenkreuze festgestellt.
Auf einem Transparent, mit dem auf die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft hingewiesen wurde und das vor dem Kalikombinat »Werra«4 in Unterbreizbach,5 [Kreis] Bad Salzungen, aufgestellt ist, wurde unter die Losung geschrieben »Wer dies geschrieben, ist dumm geblieben«.
Auf der Vollversammlung der LPG in Süplingen, [Kreis] Haldensleben, Bezirk Magdeburg sang ein Mitglied statt der Nationalhymne der DDR, das faschistische Lied »Die Fahne hoch«.6
Am 5.10.1959 wurden in einem Privatgeschäft in Weißenborn, [Kreis] Gotha, [Bezirk] Erfurt, schwarz-weiß-rote Papierfähnchen verkauft (E-Verfahren7 eingeleitet).
In den Bezirken Magdeburg und Erfurt wurden erneut größere Mengen Hetzflugblätter (Ballons) der ZOPE sichergestellt.8
Außerdem wurden folgende Vorkommnisse feindlichen Charakters bekannt:
In Frankfurt/O. wurde der [Name 1, Vorname], wohnhaft [Straße, Nr.], festgenommen, da er in betrunkenem Zustand geäußert hatte, dass in der Nacht vom 6. zum 7.10.1959 die Unterführung in Frankfurt/O. – Stalinallee –gesprengt werden soll. [Name 1] wurde von der BV Frankfurt in einem Spionagefall bearbeitet. Das Gelände wurde abgesucht und die Streifentätigkeit verstärkt.
Am 5.10.1959 wurde das LPG-Mitglied [Name 2, Vorname] aus Weimar, Höhe Weimar-Siedlersfreud von fünf männlichen Personen überfallen, zusammengeschlagen, 2 km mitgeschleppt und in [eine] 1,50 m tiefe Grube gestoßen. Als sie ihn anschließend in der Ilm ertränken wollten, wurden sie durch einen Motorradfahrer gestört. [Name 2] hätte diese Personen 1958 angeblich wegen Obstdiebstahls angezeigt. Die Verbrecher wurden festgenommen und eine Überprüfung durch die BV Erfurt eingeleitet, da es sich vermutlich um eine organisierte Gruppe handelt.
Durch die VP-Inspektion Berlin-Treptow wurde in der Nacht zum 7.10.1959 der in Berlin-Baumschulenweg wohnhafte [Name 3, Vorname] festgenommen, weil er den BPO-Sekretär und zwei Genossen des VEB Kali-Chemie9 belästigte und versuchte, tätlich gegen sie vorzugehen.
Im VEB Simson Suhl10 wurde aus Anlass des 10. Jahrestages in der Abtlg. Schmiede eine Brigade gebildet, die den Kampf um den Titel Brigade der sozialistischen Arbeit aufnahm. Zur Brigade gehören elf Arbeiter. Andere angesprochene Kollegen lehnten jedoch ihren Eintritt mit verschiedenen Argumenten, wie mit politischer Arbeit überlastet, zu alt dazu usw. ab. Außerdem sollten erst noch andere Kollegen eintreten.
In der Nacht zum 7.10.1959 wurde durch den ABV bei der MTS Falkenrehde11 beobachtet, wie Insassen eines Fahrzeuges der amerikanischen Militärmission eine Staatsflagge abrissen. Der ABV versuchte das Fahrzeug zu stoppen, was jedoch nicht gelang. Der Wagen fuhr mit abgeschalteten Scheinwerfern in Richtung Hoppenrade davon. Der ABV gab daraufhin sechs Zielschüsse auf das Fahrzeug ab. Nach Meinung des ABV muss das Fahrzeug getroffen worden sein. Nach Mitteilungen des Wachdienstes bei der amerikanischen Mission in Nedlitz fuhr der Missionswagen Nr. 23 gegen 0.23 Uhr in das Objekt ein.
Ergänzung zum 3. Bericht:12
Ermittlungen im Krankenhaus Zehdenick, [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam, ergaben, dass es sich bei dem französischen Missionswagen, der am 5.10.1959 mit dem verwundeten Offizier dort vorfuhr, um den Wagen Nr. 57 handelte. Der Kraftfahrer dieses Fahrzeuges erklärte gegenüber dem Krankenhauspersonal, dass sie von sowjetischen Soldaten beschossen worden seien. Ein unbekannter deutscher Bürger habe ihnen den Weg zum Krankenhaus gewiesen.
An feindlichen Plänen und Maßnahmen wurde bekannt, dass Eleanor Dulles13 in Westberlin angekommen ist. Angeblich ist sie gekommen, um den Ablauf des 10. Jahrestages der DDR zu verfolgen. Sie interessiere sich besonders dafür, wie die Anteilnahme der Bevölkerung an den Feierlichkeiten ist bzw. inwieweit sie es vorzieht, diesen Tag für Einkäufe in Westberlin zu benutzen. Inoffiziell wurde der Kreisdienststelle Oranienburg bekannt, dass die Agentenzentrale14 NTS15 aufgrund der Presseveröffentlichungen in der DDR eine Gegenaktion starten wolle, was in Form einer Briefaktion erfolgen soll. Die Agenten seien angewiesen worden, Adressen von Bürgen der DDR sowie Sondermarken der Deutschen Post zu liefern. Am 5.10.1959 berichtete die Verwaltung Groß-Berlin, dass zurzeit eine rege Tätigkeit der Verladung von Paketen bei der Zentrale der NTS festzustellen ist.
Durch inoffizielle und offizielle Meldungen wurde der BV Potsdam bekannt, dass am 7.10.1959 in Westberlin alle Kinos und Theater für Bürger der DDR freien Eintritt gewähren.
Durch eine zuverlässige inoffizielle Quelle wurde der Verwaltung Groß-Berlin bekannt, dass die Westberliner Falken16 am 7.10.1959 im demokratischen Sektor Provokationen planen, um das Volksfest zu stören. Es wird vermutet, dass sie eine Mopedraserei durchführen wollen.
Grenzprovokationen:
Aus Ludwigsstadt und Lübbow/Westdeutschland wurde bekannt, dass der westdeutsche Zoll verstärkte Kontrollen durchführt. Es wurde festgestellt, dass Fahrzeuge in Richtung Grenze zurückgeschickt und westdeutsche Bürger, die im Besitz von Aufenthaltsgenehmigungen für das Gebiet der DDR sind, besonders nach den Adressen ihres Aufenthaltes befragt werden.
Unter westdeutschen Fernfahrern ist das Gerücht stark verbreitet, dass ab 6.10.1959, 14.00 Uhr anlässlich des 10. Jahrestages die Grenzen geschlossen würden. Aus dem gleichen Grunde richtete ein Angehöriger des westdeutschen Zolls von Büschen aus eine telefonische Anfrage an den Kontrollpunkt Schwanheide.
Neben solchen Grenzprovokationen wie Herunterreißen von Markierungsschildern (Kreis Salzwedel), Aufforderungen an Bürger der DDR, zur Kundgebung auf westdeutsches Gebiet zu kommen (bei Lübeck), wurde auch versucht, die Grenzstreife am Bahnhof Ellrich, [Kreis] Nordhausen, durch Steinwürfe von westdeutscher Seite aus zu provozieren.
Am Ring um Berlin wurden folgende Provokationen bekannt:
Gegenüber der Gemeinde Osdorf, [Kreis] Zossen, [Bezirk] Potsdam, führte am 5.10.1959 eine Einheit amerikanischer Besatzungstruppen in Stärke von 50 Mann eine Übung mit Flammenwerfern und Brandflaschen durch. Am gleichen Tage wurde in Heiligensee eine Panzereinheit gesichtet, die sich auf der Ruppiner Chaussee in Richtung Schulzendorf in die dortige Unterkunft der Bereitschaftspolizei bewegte.
Im Grenzgebiet zwischen Hohen Neuendorf17 und Hennigsdorf führte die Stummpolizei18 in der Nacht vom 5. zum 6.10.1959 gemeinsam mit westlichen Besatzungseinheiten eine Nachtübung durch.
Am 6.10.1959 wurde auf Westberliner Gebiet ein Fackelzug festgestellt, der sich im Schweigemarsch von der Gleimstraße19 in Richtung Eberswalder Straße und zurückbewegte. Der Fackelzug umfasste 60 Personen und löste sich danach auf.
Direkte Arbeitsniederlegungen oder Anzeichen dafür wurden in der Berichtszeit nicht bekannt.
Im Zusammenhang mit erfolgten bzw. vorgesehenen Prämiierungen trat Folgendes in Erscheinung:
Im VEB Glaswerk Lauscha, [Kreis] Neuhaus, [Bezirk] Suhl, wurde der Arbeiter [Name 4] aus der Abteilung Gemenge mit einer 200 DM-Prämie ausgezeichnet, da er die Seifert-Methode in seiner Abteilung einführte.20 Das ermöglichte, je Schicht eine Arbeitskraft einzusparen. [Name 4] war mit dieser Sonderprämie von 200 DM21 nicht einverstanden und gab diese nach der Auszeichnung an den Betriebsleiter zurück. Aus dem VEB Jenapharm Jena, [Bezirk] Gera, war das Kollektiv Vitamin »B 12« zur Auszeichnung vorgeschlagen. Von Berlin wurde der Rat des Bezirkes in Gera verständigt, dass die Auszeichnung abgelehnt wurde. Obwohl durch den Rat des Bezirkes keine Einladung erfolgte, erschien das Kollektiv zur Auszeichnungsveranstaltung. Sie bezogen sich auf eine fernschriftliche Mitteilung ihres Ministeriums, wonach sie zur Auszeichnung erscheinen sollten. Das Kollektiv war durch die Belegschaft feierlich zur Auszeichnung verabschiedet worden. Es ist zu erwarten, dass die nicht erfolgte Auszeichnung zu Missstimmungen führt.
Folgende neue Brände und Havarien wurden bekannt:
Auf dem Gelände der im Bau befindlichen Papierfabrik Schwedt, [Bezirk] Frankfurt/O., brannte am 7.10.1959 die neu errichtete Kulturbaracke nieder. Schaden 300 000 DM. Ursache: vermutliche Brandstiftung.
In der Brennerei des Elektrogerätewerkes Gornsdorf, [Kreis] Stollberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt22 brach am 6.10.1959 in einem Zinkbad ein Brand aus, der das Zinkbad und die Brennerei vollkommen vernichtete. Der Betrieb hat einen wichtigen Exportauftrag zu erfüllen. Schaden ca. 60 000 DM. Brandursache noch unbekannt.
In der Gemeinde Selchow, [Kreis] Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, brach am 6.10.1959 ein Scheunenbrand aus. Schaden: 30 bis 35 000 DM. Ursache: vermutliche Brandstiftung.
In der LPG Pretzien, [Kreis] Schönebeck, [bezirk] Magdeburg brannte am 6.10.1959 ein massiver Schuppen nieder. Schaden ca. 8 000 DM. Ursache: vermutliche Brandstiftung.
Brände von Strohdiemen wurden in zwei Fällen aus dem Kreis Gardelegen und Erfurt gemeldet. Schaden zwischen 500 und 800 DM. Ursache: vermutliche Brandstiftung durch Kinder.
Auf dem Verladebahnhof Falkenberg RBD Magdeburg wurde die erstmals in der DDR gebaute Drehscheibe einen Tag nach ihrer Inbetriebnahme außer Betrieb gesetzt.
Am 5.10.1959 hatte der Kalizug 19/965 von Sollstedt über Bad-Schandau nach Děčín/ČSR 90 Minuten Verspätung. Ursache: Bei fünf Luftschläuchen fehlten die Dichtungsringe. Außerdem waren bei zwei Wagen die Notbremsen gezogen. Der Zug wurde von Rangierern des Kaliwerkes Sollstedt23 abgefertigt.