10. Jahrestag, 6. Bericht
9. Oktober 1959
Information Nr. 722/59 – 6. Bericht Stimmung, Feindtätigkeit und andere Vorkommnisse anlässlich des 10. Jahrestages der DDR
Nachdem die Höhepunkte des 10. Jahrestages vorüber sind, sind auch die Stellungnahmen dazu und zu den damit in Verbindung stehenden Fragen zurückgegangen. Es gibt keine wesentlichen nachträglichen Hinweise, die eine Korrektur der bisher gegebenen Einschätzungen erforderlich machen. Von allen Bevölkerungskreisen wird der 10. Jahrestag als ein großes Ereignis gewertet.
Negative und feindliche Stimmen sind im Vergleich zu den positiven gering, in vielen Fällen wurde ihnen sofort entgegengetreten. Neue Gerüchte sind nicht bekannt geworden.
Die feindlichen Handlungen sind auf allen Gebieten nur noch gering. Es wurden insgesamt zwei neue Hetzlosungen »10 Jahre Knechtschaft sind genug, nieder mit der SED-Freiheit« (in Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt) »Ran und den Plan erfüllt, ihr dreckigen Arbeiter« (VEB Reparaturwerk »Clara Zetkin«, Erfurt1) angeschmiert.
Faschistische Schmierereien wurden nur in drei Fällen bekannt, in der Bahnmeisterei Görlitz, [Bezirk] Cottbus, und an einigen Telegrafenmasten in Petershagen, Kreis Strausberg, [Bezirk] Frankfurt/O., und auf dem Bahnhof Grimmen, [Bezirk] Rostock.
Das Abreißen und Beschädigen von Fahnen, Plakaten und Transparenten wurde nur aus den Bezirken Magdeburg, Dresden, Neubrandenburg, Cottbus, Leipzig, Frankfurt/O. und Potsdam bekannt. Aber auch dort nur in geringem Umfang.
Im Stadtgebiet von Querfurt, [Bezirk] Halle, wurden elf mit Handruckkasten gefertigte Flugblätter gefunden. Der Inhalt der Hetzschriften richtet sich gegen den 10. Jahrestag der Gründung der DDR.
Im VEB ABUS-Getriebefabrik Coswig, [Bezirk] Dresden2 wurde in der Abteilung Arbeit im Speisesaal und am Eingang je eine mit Schreibmaschine geschriebene Hetzschrift gegen die Lohnpolitik unseres Staates angebracht.
Am 6.10.1959 in den Abendstunden wurden die Feuerwehren in Saupsdorf und Hinterhermsdorf, [Kreis] Sebnitz, [Bezirk] Dresden, durch anonyme Anrufe alarmiert.
Im Kreis Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, an der Wegstrecke nach Kandelin wurde am 7.10.1959 eine selbstgefertigte Hakenkreuzfahne an einer Birke in der Höhe von 1,50 m angebracht.
Am sowjetischen Ehrenmal in Wittichenau, [Kreis] Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus, wurde am 7.10.1959 festgestellt, dass in etwa 1,5 m Höhe rotbraune Ölfarbe angeschüttet worden war.
In Mirow Kreis Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg, wurden in der Stadt vom 6. zum 7.10.1959 vier Kabel der Lautsprecheranlage durchgeschnitten.
In der Nacht vom 8. zum 9.10.1959 wurden von unbekannten Tätern auf der Straße von Karl-Marx-Stadt nach Mittweida Dachnägel gestreut, sodass fünf Fahrzeuge durch Reifenschaden festlagen.
Im VEB Oberlausitzer Baumwollweberei Neusalza-Spremberg, [Kreis] Löbau Werk 5, verließ ein großer Teil der Arbeiter den Saal, als zum Schluss das Lied: »Brüder zur Sonne« gesungen wurde.3
Der Genossenschaftsbauer [Name 1], ehemaliger Großbauer aus Wensickendorf, [Bezirk] Potsdam, lud am 6.10.1959 mehrere Personen zum Westfernsehen in seine Wohnung ein. Die Hetzsendung gegen unsere Republik nahm [Name 1] zum Anlass, ebenfalls gegen unsere Republik zu hetzen und die »westliche Freiheit« zu verherrlichen.
Nach einer Feierstunde zum 10. Jahrestag in Drahnsdorf,4 [Bezirk] Cottbus, wurde der Bürgermeister der Gemeinde von einer angetrunkenen Person tätlich angegriffen. Diese Person versuchte, ihm das Parteiabzeichen und die Aufbaunadel5 abzureißen. Die Person wurde festgenommen.
Ein Mitarbeiter des Kreisvorstandes der GST6 Beeskow, [Bezirk] Frankfurt/O., wurde von dem [Name 2] (von 1953 bis 1958 Angehöriger der Fremdenlegion, kam am 3.10.1959 in die DDR) als Kommunistenschwein bezeichnet und tätlich angegriffen. Festnahme ist angeordnet.
Besondere Vorkommnisse feindlichen Charakters:
In der Gemeinde Großhartmannsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fand in der Zeit vom 4. bis 6.10.1959 eine sogenannte »Evangelisation« statt. Daran beteiligten sich 58 Personen, einschließlich einiger Pfarrer aus den Bezirken Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt. Es wurde festgestellt, dass die Quartiergeber dieser Personen ihre Häuser nicht schmückten und auch an keinen Veranstaltungen zum 10. Jahrestag teilnahmen.
Am 7.10.1959 erschien gegen 14.00 Uhr eine Gruppe von 13 Jugendlichen aus Weimar in Bad Berka, [Bezirk] Erfurt. Diese traf sich hier mit weiteren fünf Jugendlichen. Gemeinsam begaben sich diese in Bad Berka zum Markt, wo sie eine Rock ›n‹ Roll-Veranstaltung aufzogen. Durch ihr Lärmen und ihre Verrenkungen sammelte sich eine große Anzahl Jugendlicher aus Bad Berka an, sodass das Schnellkommando des VPKA eingesetzt werden musste, um die Jugendlichen auseinanderzutreiben. Vier Jugendliche davon, die bereits seit einiger Zeit operativ bearbeitet werden, wurden in der Nacht zum 8.10.1959 auf dem VPKA festgehalten.
Am 8.10.1959, gegen 13.00 Uhr, traf auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld die planmäßige Linienmaschine der sowjetischen Aeroflot AFL 111, welche mit 23 Passagieren besetzt war, ein. Die Maschine hatte außerdem sieben Isotopenbehälter geladen. Da einer dieser Behälter defekt war, bestand die Gefahr radioaktiver Ausstrahlungen und es mussten entsprechende Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden. Eine Untersuchung der Passagiere mit dem Geigerzähler erfolgte nicht, nachdem das Amt für Kernforschung die Maschine, die Ladung und die Frachtarbeiter untersucht und keine radioaktive Strahlung festgestellt hatte. Als wahrscheinliche Ursache des Defektes am Behälter wird schlechtes Verladen angenommen.
Neue Grenzprovokationen wurden im Gebiet von Salzwedel (wo 17 BGS-Angehörige den 10-m-Kontrollstreifen7 betraten) und Bockelnhagen, [Kreis] Worbis (Grenzsperre beschädigt) festgestellt. Außerdem halten die verstärkten Kontrollen durch den westdeutschen Zoll noch immer an. Besonders krasse Provokationen traten nicht auf.
Wegen Lohnfragen kam es in der Abteilung Faserhalle und Viskosekeller des VEB Spinnstoffwerkes »Otto Buchwitz« in Glauchau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, zu einer äußerst schlechten Stimmung.8 Die Ursache dazu war die administrative Handlungsweise des TAN-Büros bei der Einführung des Prämienzeitlohnes. Durch das Fehlen von Ätznatronlauge und Zellstoff wurde der Plan nur zu 94 % erfüllt und die Arbeiter erhielten 50,00 bis 80,00 DM9 weniger Lohn. Auf Veranlassung der Werkleitung wird der Lohnausfall jedoch nachgezahlt.
Unter den Schlächtern des Seuchenviehhofes Berlin (Herzbergstraße) herrscht ebenfalls eine äußerst unzufriedene Stimmung, die z. T. in starker Fluktuation ihren Ausdruck findet. In der letzten Zeit war auf dem Viehhof ein großer Arbeitsanfall zu verzeichnen, wodurch in starkem Maße Überstunden geleistet werden mussten. Dazu wurde von den Schlächtern die Meinung vertreten, »wochenlang wird kein Vieh geliefert und jetzt kann die Arbeit nicht geschafft werden«. Aufgrund dieser Situation gibt es äußerst negative Diskussionen. Mehrere Schlächter haben bereits gekündigt und die Arbeit in Westberlin aufgenommen. Bei weiteren Schlächtern besteht die Absicht zu kündigen, um in Westberlin zu arbeiten. Zum Beispiel äußerte der Schlächter [Name 3]: »Die schimpfen auf den Kapitalismus, doch bei uns ist es viel schlimmer. Das sind ja richtige Ausbeuter.« [Name 3] ist als guter Schlächter bekannt und trägt sich ebenfalls mit dem Gedanken zu kündigen.
Zu Prämienfragen gab es vor allem wegen der Art der Verteilung in mehreren Betrieben negative Diskussionen. Dabei wird wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass die Verteilung ungerecht sei, da die leitenden Angestellten so hohe Prämien und die Arbeiter, die die Pläne erfüllen, nur einen geringen Anteil erhalten. Im Bhf. Quedlinburg, [Bezirk] Magdeburg, gaben drei Rangiermeister ihre Prämie zurück, weil ein anderer Rangiermeister 25,00 DM mehr erhielt als sie. Im RAW Blankenburg vertraten einige Arbeiter die Meinung, dass das Prämiensystem immer Spannungen unter den Kollegen hervorrufe und aus diesem Grund statt Prämien lieber Kleiderschränke und Waschräume beschafft werden sollten.
Im VEB Goldfisch, Werk Oberlungwitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt,10 kam es zur Unzufriedenheit unter den Arbeiterinnen, weil Kolleginnen ausgezeichnet wurden, die erst 14 Tage im Betrieb sind und noch keine besonderen Leistungen zeigten.Weiter gibt es im Betrieb solche Diskussionen, dass die Prämien nur »von oben bestimmt« werden.
Aus dem VEB NAK Wurzen11 wurde bekannt, dass die Verladebrigade des Werkes sonntags nicht mehr arbeiten will, weil sie zum 10. Jahrestag keine Prämie bekommen hat.
In der Firma Knobloch Apolda, [Bezirk] Erfurt12 (Betrieb arbeitet mit staatlicher Beteiligung) wurden zwei Arbeiter als Aktivisten und zwei als Bestarbeiter ausgezeichnet. Die nicht ausgezeichneten Arbeiter vertreten den Standpunkt, »man solle endlich damit aufhören, Prämien zu zahlen, wenn genügend Geld vorhanden ist, solle man die Löhne aufbessern. Damit wäre allen Arbeitern geholfen und vielen bliebe der Ärger erspart.«
Im VEB Kaliwerk Bleicherode äußerten die Kollegen [Name 4], [Name 5] und [Name 6] ihre Unzufriedenheit über die Prämiierung einiger Kollegen. Ihre Meinung war, dass man die Prämien von ihrem Geld bezahle und sie in Zukunft weniger arbeiten wollten, wenn man ihnen keine Prämien gibt.
Folgende neue Brände und Havarien wurden bekannt:
Am 8.10.1959 wurde im individuellen Stalle des Buchhalters der LPG Boisterfelde,13 [Kreis] Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, [Vorname Name 7], ein Brand festgestellt. Bei der Bekämpfung des Brandherdes wurde in der Küche ein zweiter Brandherd festgestellt. [Name 7] selbst hatte sich auf dem Boden erhängt. Auf der Straße vor dem Verwaltungsgebäude der LPG wurden unfrankierte Briefe gefunden, in denen [Name 7] die von ihm durchgeführte Brandstiftung erläuterte. Dadurch konnten im gesamten Komplex der LPG weitere sieben von [Name 7] angelegte Brandsätze beseitigt werden. Ein Ausbrechen dieses Brandes hätte für die LPG einen Schaden von einer Million DM bedeutet. Außerdem wäre durch die ungünstige Lage des Waldes, die halbe Gemeinde von Boisterfelde den Flammen zum Opfer gefallen, zumal auch die Wasserversorgung des Ortes nicht in Ordnung ist. [Name 7], der seit 1927 Mitglied der KPD/SED war, hatte diese Briefe vor seinem Selbstmord an verschiedene Personen sowie an die Kreisleitung der Partei und an zwei seiner in Westberlin lebenden Geschwister geschrieben. Von den zwölf gefertigten Exemplaren wurden bisher acht sichergestellt. Als Grund für seine Tat gibt [Name 7] Differenzen mit der Kreisleitung der Partei an, wofür er sich rächen wollte. Der Schaden beträgt 600 DM.
Am 6.10.1959 brannten in der LPG in Mühlberg, [Kreis] Gotha, [Bezirk] Erfurt, drei Scheunen, drei Stallgebäude und drei Schuppen nieder. Schaden ca. 38 000 DM – Ursache noch unbekannt.
Am 8.10.1959 wurden in Pößneck, [Bezirk] Gera, durch einen Brand ein Lagerschuppen der VEAB; 60 t Stroh, 55 t Heu, 1,3 t Luzerne und eine Strohpresse vernichtet. Schaden ca. 30 000 DM – Ursache noch nicht bekannt.
Am 8.10.1959 geriet in Hettstedt, [Bezirk] Halle, eine Scheune der LPG »Wilhelm Pieck« in Brand. Schaden: ca. 80 000 DM – Ursache noch nicht bekannt. Bisher ist nur bekannt, dass der Scheunenbrand durch Übergreifen des Feuers von einer brennenden Strohdieme entstand. Von dieser Strohdieme hatte zuvor ein Jagdkollektiv Stroh entnommen.
Am 7.10.1959 brach im Sägewerk Grevesmühlen, [Bezirk] Neubrandenburg,14 in dem auch das Kreiskontor für landwirtschaftlichen Bedarf untergebracht ist, ein Brand aus. Schaden: nach vorläufigen Schätzungen im Kreiskontor für landwirtschaftlichen Bedarf ca. 20 000 bis 25 000 DM und im Sägewerk ca. 6 000 bis 8 000 DM – Ursache: vermutlich Brandstiftung.
Der LPG Bornstedt, [Bezirk] Magdeburg, brannte am 8.10.1959 eine Strohdieme mit ca. 2 000 dz Stroh = 14 000 DM nieder. Ursache: nach bisherigen Ermittlungen Brandstiftung.
Ebenfalls durch Brandstiftungen brannten am 7.10.1959 eine Strohdieme der LPG Frauenhain, [Kreis] Riesa (Schaden 3 000 DM) und eine Strohdieme eines Einzelbauern in Staucha, [Kreis] Riesa (Schaden 2 000 DM) nieder.
Durch Kinderbrandstiftungen an Strohdiemen und Gebäuden entstanden in Adamsdorf, [Bezirk] Neubrandenburg, Hinrichsdorf, [Bezirk] Rostock, Dolgemost, [Kreis] Rügen, Kaeselow, [Kreis] Wismar, und Egstedt, [Bezirk] Erfurt, insgesamt fünf Brände mit einer Schadenssumme von ca. 40 000 DM.
Zwei kleinere Brände mit Schadenssummen bis 1 500 DM entstanden aus noch ungeklärter Ursache am 8.10.1959 im Heizhaus des Bekleidungswerkes Burg15 und in der VEB Fleischwarenfabrik Möckern, [Bezirk] Magdeburg.
In der Brikettfabrik »Rosa Luxemburg« des BKW Großräschen,16 [Bezirk] Cottbus, entstand am 7.10.1959 eine Verpuffung, wobei 200 m Förderband und zwei Elektromotoren verbrannten. Schaden ca. 1 800 DM – Ursache unbekannt.
Am 8.10.1959 kam es in der Teerverarbeitung im Kombinat Espenhain, [Bezirk] Leipzig17 zu einer Explosion, durch welche die Rohrleitungen in Brand gerieten. Schadenssumme noch unbekannt. Ursache: Es wird vermutet, dass in dem …ackwärme18-Austauschrohr zu starkes Benzin gemischt war, welches sich durch die hohe Temperatur (350 Grad) entzündete.
Im VEB Baustofflager Frankfurt/O. brannte durch Fahrlässigkeit beim Rauchen ein G-Waggon19 aus. Schaden: 2 000 DM.
Auf der Baustelle am Staubecken in Straußfurt, [Kreis] Sömmerda, [Bezirk] Erfurt, ist schon zum zweiten Mal an einem Bagger UP 75 die Königswelle abgebrochen.20 Es wird bewusstes Handeln des Baggerführers vermutet, da dieser zum 10. Jahrestag keine Prämie erhielt. Untersuchungen sind eingeleitet.
Im VEB Kalk- und Zementwerk Rüdersdorf, [Bezirk] Frankfurt/O., wurde am 8.10.1959 festgestellt, dass die Elektromotoren in der Schlämmabteilung des Zementwerkes I für ca. zwei Tage außer Betrieb gesetzt sind, da sie durch das Wasser eines geöffneten Hahnes überschwemmt wurden. Gleichzeitig wurde im Zementwerk III von unbekannten Tätern versucht, durch Anbringung einer Überwurfmutter an der Druckleitung die Cerapumpe21 und alle Ölpumpen in der Rohmahlanlage außer Betrieb zu setzen.