Feindliche Bestrebungen zur Veranlassung einer Republikflucht
23. Juli 1959
Information Nr. 515/59 – Auskunftsbericht über vermutliche Bestrebungen feindlicher Kräfte, den Prof. Dr. Ingenieur Rüdiger von der Bergakademie Freiberg zur Republikflucht zu treiben
Prof. Dr. Ingenieur Rüdiger,1 32 Jahre alt, verheiratet, entstammt einer Arbeiterfamilie. Er studierte an der TH Dresden und erwarb sich große Spezialkenntnisse in der Fachrichtung Technische Mechanik, weshalb er auch am 1.1.1956 an die Bergakademie Freiberg als Professor mit vollem Lehrauftrag für Technische Mechanik und als Direktor des Instituts für Technische Mechanik berufen wurde. Er gilt auf diesem Gebiete als Kapazität (u. a. hielt er auch schon mehrere Vorträge in Westdeutschland) und widmet sich ausschließlich seinen fachlichen Aufgaben, ohne – wie man es aufgrund seiner Herkunft erwarten könnte – sich gesellschaftlich zu betätigen. Jedoch kümmerte sich auch die Parteiorganisation der Bergakademie sehr wenig um ihn.
Prof. Rüdiger verständigte von sich aus Anfang Oktober 1957 die Kreisdienststelle des MfS in Freiberg davon, dass er sich unsicher und bedroht fühle und nicht mehr in der Lage sei, seine fachliche Tätigkeit ungestört auszuüben, weil während seiner Abwesenheit in seine Wohnung eingedrungen wurde. Als Beweis führte er eine ihm nicht gehörende, in seiner Wohnung vorgefundene Strickweste an. Einen auf bestimmte Personen zielenden Verdacht äußerte er nicht. Er befand sich an jenem Abend auf Einladung des Prof. Dr. Ingenieur Erdmann-Jesnitzer2 in dessen Wohnung.
Prof. Rüdiger verlangte Verhaltensmaßregeln und eine Aufklärung der Angelegenheit vom MfS. Prof. Rüdiger wurde von uns gebeten, sich nicht beunruhigen zu lassen, keinen unüberlegten Schritt zu tun und dem MfS bei der Aufklärung behilflich zu sein, was er auch versprach. Unter anderem wurde ihm geraten, mittels verschiedener Hilfsmittel festzustellen, ob und wann in seine Wohnung eingedrungen wird und ein Sicherheitsschloss anbringen zu lassen. Die seit dieser Zeit vom MfS eingeleiteten Absicherungs- und Aufklärungsmaßnahmen blieben bis zum 23.5.1959 erfolglos bzw. gab es bis dahin keine weiteren Versuche, Prof. Rüdiger einzuschüchtern, sodass er sich auch nicht wieder an das MfS wandte.
Am 23.5.1959 zeigte die [Vorname Name 1], die Wohnungsnachbarin von Prof. Rüdiger, die bei ihm verschiedene häusliche Arbeiten verrichtet und deshalb einen Wohnungsschlüssel für die Wohnung Prof. Rüdigers besitzt, folgenden Sachverhalt an: Am 23.5.1959 (Prof. Rüdiger befand sich vom 19.5. bis 4.6.1959 auf Urlaub in Ägypten) zwischen 9.00 und 10.00 Uhr verlangte eine der Frau [Name 1] unbekannte männliche Person den Wohnungsschlüssel für die Wohnung Prof. Rüdigers mit der Begründung, er sei ein westdeutscher Studienfreund von Prof. Rüdiger namens [Name 2] oder ähnlich, nehme am »Berg- und Hüttenmännischen Tag in Freiberg« (21.–23.5.1959) teil und habe durch Korrespondenz die Erlaubnis von Prof. Rüdiger erhalten, in dessen Wohnung zu übernachten. Als Frau [Name 1] sich ganz entschieden weigerte, den Schlüssel herauszugeben, entspann sich folgender Dialog:
Männl. Person: »Ich habe abgestritten, dass sie raffiniert sind, aber sie sind ja raffinierter als wir.«3
Frau [Name 1]: »Ach so, Sie sind wohl einer von der Clique!« (Frau [Name 1] wusste, dass sich Prof. Rüdiger verfolgt fühlt.)
Männl. Person: »Sie werden wohl gut bezahlt? Aber wir zahlen auch nicht schlecht.«
Anschließend drehte sich die unbekannte Person zur Wohnungstür des Professors um und sagte: »Da ist doch schon wieder ein zweites Sicherheitsschloss dran. Der Herr hat sich wohl sehr geärgert darüber?« Als Frau [Name 1] versuchen wollte, Mitbewohner zu verständigen, um den Unbekannten aufzuhalten, flüchtete dieser.
In diesem Zusammenhang wies die [Name 1] erstmalig am 23.5.1959 darauf hin, dass bereits an einem Montag im Februar oder März 1959 eine andere unbekannte männliche Person das Sicherheitsschloss zur Wohnung von Prof. Rüdiger abtastete. Deshalb von Frau [Name 1] zur Rede gestellt, machte die Person Ausflüchte und verließ ebenfalls auf schnellstem Wege das Haus. Frau [Name 1] wurde aufgefordert, alle diesbezüglichen und neuen Versuche sofort dem MfS mitzuteilen.
Auch Prof. Rüdiger wurde sofort nach seiner Rückkehr am 5.6.1959 in seiner Wohnung aufgesucht, doch dieser erklärte den Mitarbeitern des MfS zynisch und abweisend, er habe »keine Zeit für sie, vielleicht nächste Woche einmal«. Nachdem am 8.6.1959 abermals vergeblich versucht wurde, eine Zusammenkunft zu vereinbaren, fand am 9.6.1959 eine Aussprache zwischen zwei Vertretern des MfS und Prof. Rüdiger statt, auf welcher Prof. Rüdiger, ohne irgendwelche Fragen oder Erklärungen abzuwarten, Folgendes erklärte: Er sei von Frau [Name 1] über die Vorgänge am 23.5.1959 unterrichtet worden und könne keinerlei Hinweise geben, die auf die unbekannte Person schließen lassen. Er habe auch mit niemandem etwas über die Benutzung seiner Wohnung vereinbart. Im Übrigen habe er kein Vertrauen zur Arbeit der Staatssicherheit allgemein und glaube auch nicht, dass die Staatssicherheit in der Lage sei, aufzuklären, wer sich für seine Wohnung interessiert. Zur Begründung führte er sinngemäß an: »Sie haben seit Oktober 1958 bis jetzt keinen Erfolg gehabt, Sie werden es auch in Zukunft nicht fertigbringen.«
In dieser Aussprache konnte Prof. Rüdiger überzeugt werden, dass es gar nicht so sehr um seine Wohnung geht, sondern dass dies eine Methode des Feindes darstellt, um durch das Hervorrufen von Unsicherheit hervorragende Wissenschaftler zur Republikflucht zu treiben. (Beispiel über anonyme Anrufe in Dresden) In diesem Zusammenhang erklärte er, dass er über diese Angelegenheit hinweg sei und sich durch solche dummen Streiche nicht mehr aus der Ruhe bringen lässt. Ihn habe das zwar erst beeindruckt, aber jetzt nicht mehr. Es käme für ihn nie infrage republikflüchtig zu werden. Er habe aufgrund der Aussprache auch erkannt, der Staatssicherheit jeden Hinweis zu geben, um dadurch zur Aufklärung der Sache beizutragen.
Der engste Bekannte Prof. Rüdigers ist der Prof. Dr. Ingenieur Erdmann-Jesnitzer, Professor der Fachrichtung und Direktor des Instituts für Metallkunde und Materialprüfung an der Bergakademie Freiberg, der einen spürbaren Einfluss auf Prof. Rüdiger ausübt. Prof. Erdmann-Jesnitzer versuchte öfters Prof. Rüdiger einzureden, dass sie beide von der Staatssicherheit »bespitzelt« würden. Zum Beispiel schlug Prof. Erdmann-Jesnitzer im Oktober 1958 vor, einmal zusammen auszugehen. Es wäre aber vorteilhaft, dazu nach Dresden zu fahren, weil sie in Freiberg beide beobachtet würden. Sie fuhren daraufhin nach Dresden ins Hotel »Astoria«. Als sie allein an einem Tisch in der Gaststätte Platz genommen hatten, kam ein Herr ins Lokal. Nachdem sich Prof. Erdmann-Jesnitzer vergewisserte, dass Prof. Rüdiger diesen Mann nicht kannte, erklärte er, es handle sich um einen Mann von der Staatssicherheit, der sich bestimmt um sie kümmern wolle und sich auch mit an ihren Tisch begeben werde. Dieser Herr nahm auch am Tisch der beiden Professoren Platz, worauf diese das Lokal verließen und zum Café4 »Prag« in Dresden gingen. Dort stand eine männliche Person am Eingang zum Café, von der Prof. Erdmann-Jesnitzer wiederum behauptete, sie sei von der Staatssicherheit. Bei einer Aussprache zwischen Professoren der Bergakademie, dem 1. Sekretär der Hochschul-Parteileitung, dem Rektor und dem Direktor des gesellschaftlichen Instituts5 äußerte Prof. Erdmann-Jesnitzer, die Staatssicherheit habe in seiner und der Wohnung Prof. Rüdigers illegale Hausdurchsuchungen geführt. Alle diese Behauptungen Prof. Erdmann-Jesnitzers entbehren jedoch jeder Grundlage.
Zum Verhalten von Prof. Erdmann-Jesnitzer ist weiterhin noch zu erwähnen, dass er sich auch gegen den aktiven Einfluss der Parteiorganisation und der FDJ auf die Entwicklung an der Bergakademie wendet. Er versuchte in seiner Eigenschaft als Direktor des Außeninstituts der Bergakademie Freiberg politische Vorträge, die im Rahmen der Berg- und Hüttenmännischen Tage gehalten werden sollten, nicht in das Vortragsprogramm aufzunehmen, weil dadurch »westdeutsche und ausländische Tagungsteilnehmer vor den Kopf gestoßen bzw. von einer Teilnahme überhaupt abgehalten würden«. Sich als Anti-Militarist ausgebend, bezeichnet er alle ehemaligen Offiziere, die am 2. Weltkrieg teilgenommen haben, jetzt Mitglied der SED sind und Funktionen inne haben, als Militaristen. Dies ist vor allem gegen führende Genossen der Bergakademie gerichtet. So gibt er dem Leiter des Instituts für Gesellschaftswissenschaften, Genossen Herlitzius,6 die Schuld, dass Prof. Leutwein7 republikflüchtig wurde, obwohl hier keinerlei Zusammenhänge bestehen. Über dieses Verhalten des Prof. Erdmann-Jesnitzer ist auch der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Freiberg, Genosse Wappler,8 unterrichtet.