Kaderlage, Leitungstätigkeit, Materialversorgung im Bauwesen
13. Oktober 1959
Information Nr. 726/59 – [über] die Kaderlage, ungenügende Leitungstätigkeit und mangelnde Materialversorgung auf dem Gebiete des Bauwesens
Aus einer Reihe von Informationen wurde bekannt, dass auf einigen wichtigen Gebieten des Bauwesens erhebliche Schwächen und Missstände bestehen, die auf die Kaderlage und mangelnde Leitungstätigkeit der verantwortlichen zentralen Organe der Bauwirtschaft der DDR zurückgeführt werden.
Die im Bericht enthaltenen Angaben dieser Art erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen nur auf einige wichtig erscheinende Probleme hinweisen, die bei dem Einsatz der Komplexbrigade im Ministerium für Bauwesen eventuell von Bedeutung sein können.
Nach uns vorliegenden Hinweisen gibt es im Ministerium für Bauwesen bereits seit Jahren ständig strukturelle Veränderungen, die sich hemmend auf die Leitungstätigkeit auswirken und zu einer Vernachlässigung der operativen Arbeit führen.
In Vorbereitung und Durchführung des Gesetzes vom 11.2.19581 wurde beschlossen, die Belegschaftsstärke des Ministeriums von ca. 500 auf ca. 290 Planstellen zu reduzieren.
Vom Minister Scholz2 wurde dieser Beschluss jedoch rückgängig gemacht und die Ansicht vertreten und auch teilweise durchgesetzt, das Ministerium wieder »stark zu machen« und bestimmte Zweige des Bauwesens erneut zu zentralisieren.
Diese ständigen strukturellen Veränderungen führten zum Teil zu verantwortungsloser und bürokratischer Arbeitsweise und wirkten sich auf die gesamte Leitungstätigkeit hemmend aus.
Im Zusammenhang mit diesen ständigen strukturellen und damit auch verbundenen personellen Veränderungen sind Feststellungen bemerkenswert, wonach sich in verantwortlichen Funktionen des Bauwesens eine Reihe negativer Kräfte konzentrieren.
Zum Beispiel war der ehemalige HV-Leiter für Zement, Lampe,3 im Zuge der Reorganisation wegen Unzuverlässigkeit an die Basis versetzt worden.
Minister Scholz holte Lampe aber entgegen dem Beschluss der ZKK in das Ministerium zurück und übertrug ihm die Funktion des Planungsleiters für Zement.
Der erst vor Kurzem abgelöste ehemalige Hauptdirektor der VVB Chemie und Klimaanlagen, Alfred Böhm,4 wurde ebenfalls von Minister Scholz in das Ministerium für Bauwesen eingestellt, wobei als Begründung angeführt wurde, »Böhm wird schon Ordnung schaffen«.
Diese Äußerung, die offenbar zugleich Begründung für die Einstellung des Böhm sein sollte, wird von den verantwortlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Bauwesen abgelehnt.
(Böhm ist der Konstrukteur des von den Faschisten während des Krieges in der SU eingesetzten »Schienenreißers«5.)
Ohne Zustimmung der dafür verantwortlichen Chemie-Kader-Kommission wurde auch der Hauptdirektor für das Bau- und Montagekombinat Chemie [Halle], Präßler,6 durch den Gen. Scholz persönlich eingesetzt, obwohl verschiedene Hinweise (z. B. Gründe für sein Ausscheiden aus dem Ministerium für Nationale Verteidigung) gegen seinen Einsatz sprachen.
Besonders ist außerdem die vom Minister Scholz durchgesetzte neue Struktur der Kritik ausgesetzt.
Unmittelbar nach dem 11.2.1958 gab es im Ministerium für Bauwesen eine Abteilung Planung, die zwischen den örtlichen Organen des Staatsapparates und der Staatlichen Plankommission koordinierend wirkte.
Nach der jetzigen Struktur gibt es aber im Ministerium in den drei Bereichen je eine Abteilung Planung und darüber hinaus eine zentrale Planungsabteilung, sodass die Räte der Bezirke und VVB ihre Pläne mit vier verschiedenen Abteilungen des Ministeriums abstimmen müssen, um die richtigen Planzahlen zu erhalten.
Die ungenügende Leitungstätigkeit des Ministeriums zeigt sich auch im formalen Einsatz von Brigaden in den Bezirken.
So wurden z. B. vom Ministerium für Bauwesen Mitarbeiter des Instituts für Typung der Deutschen Bauakademie schematisch (nach Namensliste) in die Bezirke beordert, ohne dabei die fachliche Qualifikation zu beachten.
Da keine vorherige Absprache erfolgte, wurde der größte Teil berufsfremd eingesetzt.
Ähnlich wird die Situation an der Deutschen Bauakademie7 eingeschätzt.
Auch hier wird seit zwei Jahren »reorganisiert«, wobei die Strukturveränderungen immer noch nicht abgeschlossen sind. Dieser Schwebezustand wirkt sich zwangsläufig auf die Arbeitsmoral und die Arbeitsproduktivität der Mitarbeiter aus.
Nach vorliegenden Hinweisen sollen z. B. 1958 von 29 vorgesehenen Forschungsaufgaben nur vier soweit abgeschlossen worden sein, dass sie veröffentlicht werden konnten.
Als ein besonderer Mangel wird immer wieder hervorgehoben, dass fast alle leitenden Funktionäre nur »Theoretiker« sind, denen die praktische Bauerfahrung fehlen würde.
Nach Ansicht von Mitarbeitern der Deutschen Bauakademie entspricht auch die politische Arbeit nicht den Erfordernissen und wirkt sich völlig ungenügend auf die Erfüllung der Aufgaben der Akademie aus.
Dies hätte auch mit zur Folge, dass ein erheblicher Teil der Mitarbeiter der Akademie den Einflüssen der westlichen Propaganda unterliegen würde, was seinen Ausdruck in negativen Diskussionen und in ungenügender Arbeitsdisziplin fände.
Nach vorliegenden Informationen geht eine Reihe von Mitarbeitern der Akademie darauf aus, sich unter Ausnutzung der Arbeitszeit und unter Verwendung von Arbeitsunterlagen einen guten Nebenverdienst zu sichern.
So ist z. B. häufig anzutreffen, dass Mitarbeiter der Akademie unter Ausnutzung ihrer Arbeitsergebnisse und während der Arbeitszeit Artikel für Fachzeitschriften und Lektionen für Vorlesungen an Hoch- und Fachschulen schreiben, die sie sich privat bezahlen lassen, oder ihr Fernstudium durchführen.
Diese Situation mangelnder Arbeitsintensität hinsichtlich der Erfüllung der Aufgaben der Akademie wird offensichtlich durch eine ungenügende Abgrenzung der Verantwortungsbereiche der Leitungsmitglieder begünstigt. Dies trifft auch auf die ungenügende Kontrolle zu.
Seit Jahren hält sich auch innerhalb der Leitung die Meinung, dass alle technisch-ökonomischen Fragen nebensächlich seien und allein die architektonisch-schöpferische Gestaltung die Entwicklung bestimmt.
Diese Erscheinungen werden vor allem darauf zurückgeführt, dass der Präsident Prof. Liebknecht8 sowie die anderen Leitungsmitglieder Auseinandersetzungen über unklare Fragen oder Differenzen ausweichen und dabei die persönliche Seite der Differenzen in den Vordergrund stellen.
Für die dabei zu Tage tretende Unsicherheit in Fragen der Architektur und des Städtebaus soll sich Prof. Liebknecht damit entschuldigen, dass es auch bei sowjetischen Architekten und Städtebauern noch keine ganz klaren Auffassungen gäbe.
Von Mitarbeitern der Akademie wird aber dabei auf unzureichende theoretische Kenntnisse verwiesen, die für derartige Begründungen ausschlaggebend sein sollen.
Diese Umstände dürften auch die Ursache für das Verhalten Prof. Liebknechts gegenüber einer Arbeit des Dresdner Architekten Franz Ehrlich9 angesehen werden. Prof. Liebknecht ignorierte die als gut eingeschätzte Arbeit des Architekten zur Schaffung einer Bezugseinheit als Entwurfsgrundraster für die bauliche Städteplanung. Diese wissenschaftliche Arbeit hat für die Typisierung und Industrialisierung im Bauwesen eine außerordentliche Bedeutung.
Obwohl diese Aufgabe auch seit Jahren vor der Deutschen Bauakademie steht, ist es bisher noch zu keinen auswertbaren Ergebnissen gekommen.
Im Entwurfsbüro für Industriebau sind ähnliche Mängel wie im Ministerium für Bauwesen und in der Deutschen Bauakademie festzustellen.
Besonders das Verhalten des Direktor Alder10 gegenüber fortschrittlichen Mitarbeitern führt zu negativen Erscheinungen in der Arbeit des Entwurfsbüros. Nach vorliegenden Hinweisen werden derartige Kräfte von Alder »weggelobt«, während andererseits von der Partei zur Rechenschaft gezogene Personen großzügige Unterstützung erhalten.
In freiwerdende leitende Funktionen werden daher auch fast ausschließlich »parteilose Fachkräfte« eingesetzt, was wesentlich mit dazu führt, gute Genossen in ihrer Entwicklung zu hemmen.
Hinweise von fortschrittlichen Angestellten über das negative Auftreten ihrer Brigadeleiter werden von Direktor Alder ignoriert bzw. so ausgewertet, dass er damit die Autorität dieser Personen untergräbt.
Kollektive Beratungen der leitenden Angestellten lehnt er als »fruchtlos« ab. Das bezieht sich auch auf die politische Erziehungsarbeit unter den Leitungsmitgliedern.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch der persönliche Umgangskreis des Alder als negativ eingeschätzt wird.
Unter den Personen, mit denen er privat verkehrte oder teilweise noch Beziehungen unterhält, befinden sich u. a. Republikflüchtige.
Dieser Haltung des Direktors Alder entspricht auch die kaderpolitische Zusammensetzung des Instituts.
Obwohl das Entwurfsbüro für so wichtige Objekte wie die Kraftwerke »Schwarze Pumpe«, Lübbenau und Berzdorf,11 das Atomkraftwerk I,12 das Stahlwerk Finow13 usw. zuständig ist, entspricht die kaderpolitische Zusammensetzung keineswegs den Aufgaben und der Bedeutung.
Von den 800 Beschäftigten sind nur 42 Mitglieder der SED. Unter den Beschäftigten befinden sich dagegen
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18 ausgeschlossen SED-Mitglieder,
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60 ehemalige NSDAP-Mitglieder und
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40 ehemalige Konzernangehörige.
In den letzten Jahren wurden über 100 Mitarbeiter republikflüchtig, davon 1958 allein 25 Personen.
In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass fast alle Mitarbeiter des EFI, einschließlich des Direktors, in Westberlin verkehren und einkaufen.
Jeder Mitarbeiter kann dienstliche Unterlagen aus den Arbeitsräumen entnehmen, ohne dass darüber eine Kontrolle besteht.
Es liegen auch Hinweise darüber vor, dass wiederholt bei Durchfahren des Westsektors Dienstmaterialien mitgeführt werden.
Erhebliche Mängel und Schwächen bestehen nach vorliegenden Hinweisen immer noch in der Projektierung, die zu Verzögerungen im Bauablauf führen und große Verluste hervorrufen.
Zum Beispiel wurde bekannt, dass gegenwertig noch der überwiegende Anteil aller Industriebauten der DDR, darunter das Kraftwerk »Schwarze Pumpe«, Kraftwerk Lübbenau, Kraftwerk Berzdorf, das Atomkraftwerk u. a., der gleitenden Projektierung unterliegen.14
Da der Projektierungsverlauf nur ca. vier bis sechs Wochen beträgt, treten bei Nichteinhaltung der Termine durch das Entwurfsbüro für Industriebau zwangsläufig Arbeitseinstellungen von einzelnen Baustellen oder ganzen Bauvorhaben ein.
Allein im Bezirk Frankfurt/O. nehmen die Bauvorhaben in gleitender Projektierung 32 % der gesamten Bausumme ein. Dabei sind alle Schwerpunktobjekte (ausschließlich zentrale Projekte) in gleitender Projektierung.
Da unter Nichtbeachtung des generellen Verbotes, wiederholter Beschwerden und der offensichtlichen Mängel immer wieder Ausnahmegenehmigungen durch die Staatliche Plankommission erteilt werden, wird die gleitende Projektierung von einigen Funktionären des Staatsapparates als »staatlich anerkannte Sabotage« bezeichnet.
Nach unseren Feststellungen werden die Sondergenehmigungen oftmals ohne die erforderliche Notwendigkeit gegeben.
Zu erheblichen Missständen hat nach vorliegenden Hinweisen eine im Februar 1959 vom Minister Scholz erlassene Dienstanweisung geführt, wonach vom volkseigenen Entwurfsbüro wieder Subaufträge an Privatarchitekten und Privatingenieure gegeben werden können.
Diese Maßnahme hat u. a. zur Folge, dass Ingenieure in den volkseigenen Entwurfsbüros kündigen und als selbstständige Ingenieure arbeiten, da sie durch Subaufträge weitaus mehr verdienen.
Ferner gibt es solche Erscheinungen, dass Ingenieure der volkseigenen Entwurfsbüros privat Subaufträge annehmen, sie dann aber zum größten Teil während der Arbeitszeit fertigstellen.
Diese Maßnahmen und die dadurch eingetretenen Auswirkungen haben zu einer starken Senkung der Arbeitsproduktivität und Arbeitsmoral in den volkseigenen Entwurfsbüros geführt.
Größere Schwierigkeiten bestehen gegenwärtig auch in der Versorgung mit Baustoffen.
Diese Feststellung trifft insbesondere für die Versorgung mit Zement zu, wodurch sich Auswirkungen für die gesamte Bauindustrie der DDR ergeben.
Die Ursachen für die ungenügende Zementversorgung liegen vor allem in der Nichteinhaltung der Termine für den Beginn der Produktion in den Erweiterungsbauten der Zementwerke Rüdersdorf III und Karsdorf II:
Es war vorgesehen, beide Werke im IV/1958 in Betrieb zu nehmen. Die Produktion wurde deshalb bereits mit in den Volkswirtschaftsplan aufgenommen.
Aufgrund großer Verzögerungen im Bauablauf und erheblicher technischer Mängel traten grobe Terminverschiebungen ein.
So wurde z. B. der Probebetrieb in Rüdersdorf III erst im Februar 1959 und in Karsdorf II im Juni 1959 aufgenommen. Da die vom Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg15 gelieferten technischen Ausrüstungen nicht die vorgesehene Kapazität erreichen, kann die geplante Leistung von den beiden Zementwerken nicht geschafft werden, sodass zwangsläufig große Schwierigkeiten in der Zementversorgung entstehen.
Gegenüber dem Plan fehlen gegenwärtig noch 240 000 t Zement, die auch im Laufe des Jahres 1959 nicht mehr aufgeholt werden können.
Wie dazu bekannt wurde, war zur wesentlichen Verbesserung der Zementversorgung der Bau von zwei zusätzlichen Zementwerken vorgesehen.
Trotz Kenntnis der territorialen Lage wurde von Dr. Bergt,16 Apitzsch17 und Lampe (Ministerium für Bauwesen) der Vorschlag unterbreitet, ein Werk in Hödingen, [Kreis] Haldensleben, in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze zu bauen.
Ohne Genehmigung dieses Projektes wurden bereits über 400 000 DM verbaut.
Ähnliche schädliche Erscheinungen zeigen sich auch besonders im Rekonstruktionsplan der Zementindustrie für 1960.
In diesem Plan wurden von Apitzsch und Lampe Vorschläge zur Verbesserung der Zementgüte aufgenommen.
Dem war bereits im Dezember 1957 die Entscheidung von Dr. Bergt vorausgegangen, der im Normenausschuss seine Zustimmung zur Erhöhung der Zementnormen gegeben hatte.
Nach vorliegenden Einschätzungen muss sich gegenwärtig eine Erhöhung der Zementnormen negativ auswirken, da es vorerst notwendig ist, bei bisheriger Güte eine absolute Steigerung der Produktion zu erzielen.
Ähnliche Schwierigkeiten wie in der Zementversorgung bestehen auch in der Versorgung mit anderen Baumaterialien. Zum Beispiel steht dem diesjährigen Kiesaufkommen von 6 400 Tt ein Bedarf von 10 500 Tt gegenüber (40 % Fehlmenge). Bei Splitt und Schotter fehlen ca. 50 % zur Deckung des Bedarfs, während es bei Pflastersteinen 35 % sind.
Um den Bedarf an Druckrohren für die gesamte Wasserwirtschaft der DDR zu decken, wurde der Bau des Asbestbetonwerkes Rothensee18 beschlossen. Dabei ergaben sich aber Schwierigkeiten, indem die Fertigstellung des Vorprojektes um zwei Jahre hinausgezögert wurde.
Zum Beispiel wurden die vorgesehenen Investmittel für 1957 durch die Verantwortlichen des Ministeriums für Bauwesen gestrichen und erst auf Veranlassung der Staatlichen Plankommission wieder freigegeben.
Das Vorprojekt wurde hauptsächlich nur auf Vermutungen und oberflächliche Vorstellungen der Technologie abgestimmt.
Diese Handlungsweise führte zu ständigen Veränderungen, sodass die Projektierung der Technologie erst am 30.6.1959 fertiggestellt wurde, obwohl die Produktion laut Ministerratsbeschluss vom 15.3.195619 bereits 1957 aufgenommen werden sollte.
Ähnlich ist die Situation beim Spannbetonwerk Laußig.20 Dieses Projekt wird ständig verzögert, sodass die Produktion voraussichtlich erst 1962 aufgenommen werden kann. Zwei Jahre Verzögerung ergaben sich allein deswegen, weil von den Investverantwortlichen des Ministeriums für Bauwesen die Mittel für den Ankauf eines Rohrfertigers – der zu Versuchszwecken benötigt wird – nicht genehmigt wurden.
Auswirkungen der Materialschwierigkeiten zeigen sich in allen Bezirken.
Vor allem sind davon das ländliche Bauwesen (Bau von Offenställen usw.) sowie das Wohnungsbauprogramm betroffen, da die zur Verfügung stehenden Materialien den volkswirtschaftlich wichtigeren Großbaustellen zugeführt werden.