Missstimmungen im Zusammenhang mit lohnpolitischen Maßnahmen
8. Juni 1959
Information Nr. 379/59 – Bericht über Missstimmungen im Zusammenhang mit Normenveränderungen und anderen lohnpolitischen Maßnahmen
In der letzten Zeit wurden Hinweise bekannt, wonach von einzelnen Betriebsleitungen administrativ Normenveränderungen und andere lohnpolitische Maßnahmen durchgeführt wurden, die zu erheblichen Missstimmungen und teilweise zu Arbeitsniederlegungen und Kündigungen führten. In allen Fällen konnte bisher festgestellt werden, dass von den Betriebsleitungen administrativ die Beschlüsse von Partei und Regierung verletzt wurden und die Maßnahmen ohne vorhergehende Aussprache mit den Arbeitern erfolgten.
Am 4.6.1959 kam es im VEB Gummikombinat Thüringen, Werk Waltershausen, [Kreis] Gotha, [Bezirk] Erfurt, in der Abteilung Fahrraddecken zu negativen Diskussionen über die Abrechnung nach den neuen Lohnkatalogen.1 Ein Teil der Beschäftigten hat bei der Abrechnung nur 5,00 bis 20,00 DM erhalten. Da von den Betriebsfunktionären keine konkrete Auskunft über die neuen lohnpolitischen Maßnahmen gegeben wurde, suchte ein Teil der Arbeitskräfte um die Entlassung nach. (Der Verdienstausfall beläuft sich bei den guten Arbeiterinnen monatlich auf 40,00 bis 100 DM.) In Kurzversammlungen wurde von den Wirtschaftsfunktionären gefordert, dass sie in den einzelnen Abteilungen konkret zu den lohnpolitischen Maßnahmen Stellung nehmen und innerhalb des Kombinats ein einheitliches Lohngefüge geschaffen wird. In der Nacht zum 5.6.1959 wurde im Werk 2 Waltershausen, [Kreis] Gotha, in der Abteilung Luftschlauch durch ca. 15 Frauen ein 1½ stündiger »Sitzstreik« durchgeführt. Auch in der Abteilung Mischerei wurden dahingehend Diskussionen geführt, in den Fragen der Lohnverordnung unbedingt Klarheit zu schaffen.
Im VEB Leipziger Eisen- und Stahlwerke (LES)2 kam es in der Nacht vom 5.6.1959 von 20.00 bis 4.15 Uhr zu einer Arbeitsniederlegung durch fünf Formkastenauslehrer3. Die Normerfüllung dieser Arbeiter lag bisher bei ca. 300 %. Da die Norm ohne Aussprache mit ihnen um 100 % gesenkt wurde, nahmen sie die Arbeit nicht auf und verlangten die Klärung der Angelegenheit. Während die Arbeiter am 5.6.1959 beim FDGB um eine Klärung nachsuchten, beschloss der Betrieb die fünf Formkastenauslehrer zu entlassen und den Sicherheitsorganen zu übergeben. Von der SED-Bezirksleitung Leipzig wurde das Verhalten des Betriebes verurteilt und die Wiedereinstellung der Arbeiter veranlasst. Produktionsausfall: 30 t Grauguss = 18 000 DM.4
In der Eisengießerei Altenburg, [Bezirk] Leipzig,5 (Betrieb mit staatlicher Beteiligung), nahmen am 6.6.1959 elf Former die Arbeit nicht auf. Die Former hatten bisher eine Normerfüllung von 240 bis 250 %. Da sie bei der Lohnauszahlung (vor Arbeitsbeginn) feststellten, dass die Norm ohne vorhergehende Aussprache um 100 % gesenkt worden war, verweigerten sie die Arbeitsaufnahme. In der späteren Aussprache erklärten sie sich bereit, die ausgefallene Zeit nachzuarbeiten.
Im Geräte- und Reglerwerk Teltow, [Bezirk] Potsdam,6 gibt es besonders unter den Frauen negative Diskussionen über Lohnfragen. Obwohl den Frauen bereits vor einem Jahr eine Verbesserung der Lohnverhältnisse versprochen wurde, hat sich noch nichts geändert, sodass sie im Monat 160 bis 180 DM verdienen. Es handelt sich dabei um angelernte Kräfte, die an einer Bolly-Maschine arbeiten und an bestimmten Werkstücken ständig gleiche Arbeitsvorgänge vornehmen. Aufgrund der Lohnverhältnisse haben schon einige Frauen gekündigt.
Am 8.6.1959 kam es im »Sachsenwerk« Dresden-Niedersedlitz7 zu einer Arbeitsniederlegung in der Reparaturabteilung. Eine Arbeiterin wollte bei der Lohnrechnerin festgestellt haben, dass durch die Einführung des Prämienzeitlohnes eine Lohnminderung eintritt. Die dadurch hervorgerufenen Diskussionen veranlassten 40 Arbeiter, die Arbeit von 15.00 bis 15.30 Uhr niederzulegen. (In der Abteilung sind 105 Personen beschäftigt.) Nach einer Aussprache mit den an der Arbeitsniederlegung beteiligten Personen wurde die Arbeit um 15.30 Uhr wieder aufgenommen.
Weitere Unzufriedenheiten gab es im Kalksandsteinwerk Niederlehme, [Kreis] Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam.8 Nach der Lohnerhöhung wurden im Werk neue Tätigkeitsmerkmale festgelegt, sodass fast alle Beschäftigten in eine niedere Lohnstufe kamen und jetzt weniger Geld als vor der Lohnerhöhung verdienen.9