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Pläne der kirchlichen Leitungsgremien gegen die DDR

6. Mai 1959
Information Nr. 251/59 – Materialien über Pläne der kirchlichen Leitungsgremien gegen die Deutsche Demokratische Republik und über die Einflussnahme Bonner Regierungsstellen auf die Kirche und deren Missbrauch für die entspannungsfeindliche Bonner Politik

Seit ca. zwei Jahren treten bestimmte kirchliche Kreise verstärkt in der Öffentlichkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik auf.

Durch Hirtenbriefe, Memoranden, Kanzelabkündigungen, offene Briefe u. a. soll die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, dass in der DDR angeblich eine Benachteiligung von Bürgern wegen ihrer Weltanschauung oder ihres Glaubens erfolgen würde. Es wird behauptet, dass in der DDR eine verfolgungsfreie Existenz nur dann garantiert ist, wenn der jeweilige Staatsbürger sich zur gleichen Weltanschauung bekennt, die der Staat als wissenschaftliche Grundlage betont. Analysiert man diese Veröffentlichungen und die Beweggründe, die zu diesen Veröffentlichungen führten so erweist sich eindeutig, dass sie nicht auf Tatsachen, aus Erfahrungen im Leben christlicher Bürger der DDR beruhen, sondern vielmehr das Ergebnis einer planmäßigen, von bestimmten kirchlichen Kreisen beider Konfessionen getragenen und mit staatlichen Stellen Westdeutschlands ständig abgesprochenen politischen Kampagne sind. Ursache dieser Angriffe ist deshalb keine Kontroverse zwischen der Weltanschauung der Kirche und der des Staates, sondern Ausdruck politischer Gegensätze.

Diese Veröffentlichungen sollen in kirchlicher Form der Durchsetzung der jeweiligen Konzeption der westdeutschen Regierung durch deren indirekte und direkte Rechtfertigung Unterstützung geben und aus einer Reihe Ausführungen kirchlicher Würdenträger ist ersichtlich, dass man offensichtlich auch plant, mit dieser Kampagne die Verhandlungen der Genfer Außenministerkonferenz durch gegen die DDR gerichtete Provokationen zu stören.1

Da sie für diese Pläne aber noch keine genügende Massenbasis besitzen, versuchen sie in letzter Zeit diese u. a. durch Lancierung entsprechender Veröffentlichungen in den wichtigsten westdeutschen und Westberliner Zeitungen zu schaffen.

Die Westberliner Zeitung »Der Tag« vom 30.4.1959 schreibt u. a. in dem Artikel »Ein Bischof warnt« unter Bezugnahme auf den bekannten Brief von Dibelius2 vom 15.4.19593 an Ministerpräsident Grotewohl4 Folgendes: »Wenn es am Verhandlungstisch in Genf hart auf hart geht – und es wird hart auf hart gehen –, dann müssen die Beauftragten Grotewohls damit rechnen, dass man ihnen die Feststellungen eines international so anerkannten Mannes wie Bischof Dibelius entgegenhalten wird. Was ist das für ein Staat, der sich anbietet, etwa die Freiheit Westberlins mit zu garantieren und dem man gleichzeitig aus der langen Leidensgeschichte seiner überwiegend christlichen Bevölkerung nachweisen kann, dass er die eigenen Verfassungsbestimmungen über die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit seiner Bürger nicht einhält?«5

Informationen der Westberliner Korrespondenten [Name 1] (DPA) und [Name 2] (Tagesspiegel) besagen, dass die westdeutsche Delegation in Genf beabsichtige, eine Pressekonferenz abzuhalten, deren Gegenstand die »Verfolgung der Christen in der DDR« sein soll. Aus diesem Anlass soll der Öffentlichkeit Material unterbreitet werden, welches zusammengefasst in dem sogenannten Weißbuch die »Belege« für die angebliche Christenverfolgung in der DDR beinhaltet.

In welcher Form und durch welche Methoden diese Absichten verwirklicht werden sollen, zeigen auch einige kirchliche Publikationen und Anweisungen. Faktisch treten stets die gleichen Argumente der kirchlichen Kreise beider Konfessionen auf:

1. Die Identifizierung der DDR mit einem faschistischen Staat. Begründet wird dieses Argument mit angeblich vorhandenen Ähnlichkeiten zum Kultur- und Kirchenkampf Hitlers in den Methoden der Auseinandersetzung mit Religion und Kirche.

2. Die Behauptung, dass ein gläubiger Mensch in der DDR als Christ nicht existieren könne, dass er rechtlich und tatsächlich als Bürger 2. Klasse gelte.

(Der nachfolgende Bericht und das im Anhang befindliche Material gibt einen kurzen Überblick über die fieberhafte Aktivität der beiden Kirchenleitungen im Auftrage der Bonner Regierung und mit dem Ziele, durch Provokationen der westdeutschen Politik Entlastung und Glaubwürdigkeit zu verschaffen und auf der anderen Seite die Regierung der DDR als nicht verhandlungs- und glaubwürdig hinzustellen.)

A) »Weißbuch über den Kirchenkampf in der DDR«

Ende Februar 1959 fand auf Einladung des kirchlich-politischen Gremiums der katholischen Kirche eine Tagung mit Vertretern des Bundestages in Bonn zu dem Thema »Die augenblickliche Situation in Berlin« statt. An dieser Tagung nahmen teil: Der Leiter des Katholischen Büros bei der Bonner Regierung, Wissing,6 die Generalvikare der westdeutschen Bistümer, Prälat Adolph vom Bistum Berlin,7 katholische Bundestagsabgeordnete mit dem Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der CDU/CSU Krone.8

Von den Vertretern des Bundestages wurde dargelegt, dass die augenblickliche Situation verwirrend sei, dass man für die Lösung der Berlin-Frage lediglich noch als Maximum damit rechne, den Status quo für Berlin zu erhalten. Es wurde erklärt, dass in diesem Zusammenhange von der katholischen Kirche eine größere politische Aktivität erwartet wird. Die katholische Kirche dürfe aufgrund der Situation zu dieser entscheidenden Frage nicht mehr schweigen. Von allen Kirchen im Osten müsse etwas getan werden, um in die Vorbereitungen der Außenministerkonferenz und in die Lösung der Berlin-Frage aktiv einzugreifen.

Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU des Bundestages, Krone, schlug deshalb vor, dass von der katholischen Kirche ein Weißbuch erarbeitet wird, welches durch das Ordinariat des Bistums Berlin vorbereitet und herausgegeben werden soll. Dieses Weißbuch soll durch Auszüge aus Reden der Bischöfe, aus Hirtenbriefen, aus Briefen an die Regierung der DDR und anderen Materialien den angeblichen Kirchenkampf in der DDR beweisen.

Zum gleichen Thema fand Ende Februar 1959 in Bonn eine Unterredung zwischen Kardinal Döpfner9 und Adenauer10 statt. In dieser Unterredung erklärte Adenauer gegenüber Kardinal Döpfner: »Wenn wir hinsichtlich Berlin den Status quo erhalten können, sodass wir etwas Luft bekommen, dann haben wir das Maximum erreicht, welches überhaupt möglich ist.« In diesem Zusammenhang forderte Adenauer von Döpfner energisch, in der gegenwärtigen Situation eine größere Aktivität durch Einsatz der kirchlichen Organisationen an den Tag zu legen. Die Verwirklichung dieser Aufforderung, in die gegenwärtige Situation aktiver einzugreifen, sollte dieses Weißbuch darstellen.

Die Aufforderung Adenauers an Kardinal Döpfner wird in ihrer ganzen Tragweite erst durch Adenauers Ausführungen während der Tagung des »Internationalen Komitees für christliche Kultur« vom 26. Juni bis 29. Juni 1958 in Bonn verständlich.11 In Anwesenheit von Bundesminister Dr. Lindrath,12 Staatsminister Antoine Pinay,13 Außenminister a. D. Gaetano Martino,14 Außenminister Dr. von Brentano15 u. a. begründete Adenauer erneut die Notwendigkeit der Verstärkung einer antibolschewistischen Kampagne größten Ausmaßes. Durch das sogenannte Weißbuch sollen führende katholische und evangelische Kreise ihren Beitrag zu dieser erneuten antibolschewistischen Kampagne leisten.

Auf einer am 17.3.1959 in Westberlin durchgeführten Sonderordinarienkonferenz, an der die Bischöfe und bischöflichen Kommissare der katholischen Kirche aus der DDR teilgenommen haben, wurde in Anwesenheit von Kardinal Frings16 der Beschluss gefasst, dass die katholische Kirche selbst das Weißbuch nicht herausgeben wird. Die Teilnehmer erklärten sich aber einverstanden, dass dieses Weißbuch, dessen Materialien durch die evangelische und katholische Kirche geliefert wurden, den Bonner Stellen zur Verfügung stehe und nach Notwendigkeit – bedingt durch die jeweilige politische Situation – durch den westdeutschen Staat veröffentlicht werden kann.

Dass diese politische Grundkonzeption der Zusammenarbeit zwischen Bonner Stellen und der evangelischen und katholischen Kirche die ausdrückliche Sanktion und Unterstützung des Vatikans findet, wurde während des Ad-limina-Besuches17 Bischof Spülbecks18 vom 10.10. bis 20.11.1958 in Rom bestätigt. Bischof Spülbeck führte dort ausführliche Gespräche mit hohen Würdenträgern des Vatikans über die Lage der Kirche in der DDR und einzuleitende Maßnahmen:

  • am 6.11.1958 mit Exzellenz Ferretto19 und Kardinal Mimmi,20 Exzellenz Roberti,21 Referent für deutsche Angelegenheiten,

  • am 7.11.1958 mit Kardinal Ottaviani22

  • am 8.11.1958 mit Dell'Acqua23

  • am 11.11.1958 – nach der Papst-Audienz – mit dem Leiter der Kongregation für auswärtige Angelegenheiten des Vatikans Tardini24

In den Gesprächen mit Kardinal Tardini und den anderen kirchlichen Würdenträgern zeigte sich, dass sie aufgrund der genauen Information der katholischen Kirche über ihre Tätigkeit und Lage in der DDR unterrichtet waren.

Ein von Bischof Spülbeck und Roberti vorgeschlagener Artikel gegen die Regierung der DDR »Über die Rettung der Menschenrechte« im »Osservatore Romano«25 lehnte Tardini ab. Er formulierte aber den Grundsatz der einzuhaltenden Politik. Dieser Grundsatz von Kardinal Tardini lautet: »Der Widerstand ist eine nationale Aufgabe der katholischen Kirche, die für Deutschland zu erfüllen ist.«

Eine Aussprache mit Kardinal Frings in Rom diente der Konkretisierung dieser vatikanischen Empfehlung. Zum Zeitpunkt seines Rombesuches führte er beim Vatikan Besprechungen mit Vertretern des Bonner Staates. So wurde er am 13.10.1958 von dem westdeutschen Botschafter beim Vatikan, Graf Straschwitz,26 empfangen. Zum gleichen Zeitpunkt fand eine Unterredung mit Staatssekretär Globke27 im Vatikan statt.

Bei diesen Besprechungen mit Vertretern des Bonner Staates erstattete Spülbeck Bericht über die Situation von Staat und Kirche in der DDR und wies auf die Bedeutung finanzieller Zuwendungen an die Kirche der DDR hin.

In Auswirkung gemeinsamer Festlegungen verfassten die Bischöfe und bischöflichen Kommissare in der DDR einen Fastenhirtenbrief (Anlage 1), der am 8.2.1959 zur Verlesung gelangte.28 Der Inhalt des Fastenhirtenbriefes ist ein einziger Aufruf zum »Widerstand als nationale Aufgabe«, wie er vom Kardinal Tardini gefordert worden war.

B) Handreichung über die christliche Existenz in der DDR

Dass die Aufforderung der Bonner staatlichen Kreise nicht nur an die katholische Kirche, sondern auch an evangelische Kreise in der Deutschen Demokratischen Republik gerichtet war und einen bestimmten Erfolg hatte, zeigt sich in der Ausarbeitung der sogenannten Handreichung über die christliche Existenz in der DDR.

Die Erarbeitung dieser Handreichung wurde von der EKU29-Synode im Zeitraum vom 8. bis 13. Februar 1959 mit Bundes[tags]präsident Gerstenmaier30 und Prälat Kunst31 – Bevollmächtigter des Rates der EKiD32 bei der Bonner Regierung – beraten. Es wurden Aussprachen darüber geführt, in welcher Form diese Handreichung aufzubauen ist und in welcher Hinsicht die politischen Akzente zu setzen sind.

Die 64 Seiten umfassende Handreichung stellt eine Anweisung dar für das Verhalten christlicher Bürger in der DDR in bestimmten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Situationen. (Anlage 2). Diese Handreichung ist zusätzlich erarbeitet worden zu den Materialien und Argumenten, die von der evangelischen Kirche für die Ausarbeitung des Weißbuches den Bonner staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt wurden.

C) Finanzielle Unterstützung der Bonner Regierung an bestimmte Kirchenkreise der DDR

Die dargelegten Beispiele der Einflussnahme Bonner staatlicher Stellen auf kirchliche Kreise beider Konfessionen in der DDR wären jedoch unvollständig, da sie noch ergänzt werden durch umfangreiche finanzielle Subventionen in Höhe von sechs- bis siebenstelligen Zahlen.

Über die Bereitstellung derartiger finanzieller Mittel durch die Bonner Regierung fanden verschiedene Unterredungen zwischen kirchlichen Würdenträgern beider Konfessionen in der DDR und leitenden Mitgliedern der Bonner Regierung statt. Ende 1958 verhandelte Bischof Spülbeck mit Bundeskanzler Adenauer über die Bereitstellung von einer Million DM. Außerdem intervenierte Spülbeck für die evangelische Kirche. Oberkirchenrat Pettelkau33 – Vizepräsident der Kirchenkanzlei der evangelischen Kirche in Deutschland – erklärte daraufhin, dass er durch Vermittlung katholischer Kreise zwei bis drei Mio. DM für die evangelische Kirche von der Adenauer-Regierung erhält.

D) Gemeinsames Kommuniqué zwischen der evangelischen Kirche und der Regierung der DDR vom 21.7.1958.34

In welchem Umfange die Bonner staatlichen Stellen Einfluss auf das Verhalten, auf die Maßnahmen und Argumentationen der leitenden Kreise der evangelischen Kirche nehmen, beweisen auch die Vorgänge um die gemeinsame Erklärung vom 21.7.1958, die von einer autorisierten Delegation der evangelischen Kirche in Deutschland und der Regierung der DDR unterzeichnet wurde.

Die Ansprache von Bischof Dibelius am 26.7.1958 im »RIAS« und [der] Verlauf der Tagung der Ostkonferenz35 vom 23.7.1958 sind dazu außerordentlich aufschlussreich. In seinem RIAS-Kommentar vom 26.7.1958 gab Bischof Dibelius prinzipiell sein Einverständnis zur gemeinsamen Erklärung. In derselben Form äußerten sich die Angehörigen der Ostkonferenz der Landeskirchen der DDR, indem sie ihr Einverständnis zur gemeinsamen Erklärung abgaben. (Anlage 3 – Protokoll der Ostkonferenz vom 23.7.1958, in welchem das Kommuniqué enthalten ist.)

Während der Bischofskonferenz Anfang Januar 1959 wurde erklärt, dass die bisherigen Ergebnisse der gemeinsamen Erklärung (Kommuniqué) vom 21.7.1958 gezeigt haben, dass eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche eingetreten ist und dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Beschwernisse des kirchlichen Lebens im Gebiet der DDR festzustellen sind.

E) »Offener Brief« vom Bischof Dibelius an Ministerpräsidenten Grotewohl vom 20.4.1959

Nach einem Hinweis des Bundes[tags]präsidenten Gerstenmaier im Verlauf der Synode der EKU vom 8. bis 13.2.1959 im internen Kreis, dass eine Aufkündigung der gemeinsamen Erklärung (Kommuniqué) vom 21.7.1958 in der gegenwärtigen Situation der Vorbereitung der Außenministerkonferenz den größten Schlag für die Regierung der DDR bedeuten würde, änderten die leitenden Kreise der evangelischen Kirche ihre Haltung zur gemeinsamen Erklärung im negativen Sinne. Auf einer Tagung der Ostkonferenz am 14. u. 15. April 1959 wurde durch Bischof Dibelius den anwesenden Bischöfen der Gliedkirchen der DDR der Entwurf eines Briefes an den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl vorgelegt, in dem die gemeinsame Erklärung vom 21.7.1958 für zurückgezogen erklärt werden sollte. Die versammelten Bischöfe der DDR stimmten diesem Briefentwurf nicht zu, da sie infolge ihres guten Verhältnisses zu den örtlichen Organen der Staatsmacht der DDR die Aufkündigung der gemeinsamen Erklärung für unbegründet und die dargelegten Gründe für wahrheitswidrig hielten. Um die Spaltung der EKiD zu verhindern, unterschrieben die Bischöfe eine abgeänderte Fassung des Schreibens an den Ministerpräsidenten Grotewohl vom 15.4.1959. (Anlage 4).

Durch das Verhalten der Bischöfe der DDR gelang es Dibelius und seinen Anhängern nicht, die Anweisung vom Bundes[tags]präsidenten Gerstenmaier für diese Ostkonferenz durchzusetzen.

Nach dieser im Ergebnis für Bischof Dibelius und Bundes[tags]präsidenten Gerstenmaier unbefriedigenden36 Ostkonferenz, fand eine Unterredung zwischen Bischof Dibelius und Kardinal Döpfner im Amtssitz des Kardinals in Westberlin statt. Im Ergebnis dieser Aussprache legte Bischof Dibelius am 23. bis 24.4.1959 auf einer Tagung des Rates der EKiD in Westberlin einen neuen Brief an Ministerpräsident Grotewohl vor. Obwohl sich die Mehrzahl der Bischöfe auf dieser Ratstagung mit dem Inhalt des Briefes nicht einverstanden erklärten, veröffentlichte Bischof Dibelius in Form eines »offenen Briefes« dieses Schreiben am 24.4.1959 in der Westpresse (Anlage 5).

Bemerkenswert ist dabei, dass während der Zeit der Ratstagung sich Bundestagspräsident Gerstenmaier in Westberlin befand und am 25.4.1959 erneut interne Besprechungen mit führenden kirchlichen Würdenträgern der evangelischen Kirche in Berlin-Dahlem führte.

Anlage 1 zur Information Nr. 251/59

Fastenhirtenbrief 1959 der Bischöfe und Bischöflichen Kommissare in der DDR »Kirche unter dem Kreuz«

Geliebte im Herrn!

In den vergangenen Jahren sprachen wir mehrmals in gemeinsamen Hirtenbriefen über die Bedrängnis der gläubigen Christen zu Euch und haben Euch auf die wachsende atheistische Propaganda in Wort und Schrift hingewiesen und Euch unsere Sorge um die Erziehung der Kinder und der Jugend und um die Wahrung Eurer Gewissensfreiheit dargelegt. Wir machten uns dabei zum Anwalt Eurer Not. Deshalb wart Ihr von Herzen dankbar für das Wort Eurer Oberhirten. Ihr habt neuen Mut geschöpft, weil das Wort der Bischöfe Euch bezeugt, dass Ihr nicht allein steht. Zudem wusstet Ihr, dass wir bei den verantwortlichen staatlichen Stellen wiederholt für Eure Rechte als Glieder der Kirche eintraten.

Eure Bedrängnis ist seitdem nicht geringer geworden, sondern noch gewachsen. So sehen wir uns veranlasst, zu Beginn der heiligen Fastenzeit wieder gemeinsam zu Euch zu sprechen. Dieses Mal wollen wir die Not des einzelnen Christen von der Kirche her sehen. Die Kirche ist ja nicht eine Einrichtung, die Euch fremd gegenübersteht und nur von den Bischöfen und Priestern vertreten wird. Diese Kirche seid Ihr, sind wir alle. Der für uns unvergessliche Papst Pius XII.37 sagte einmal: »Wir gehören nicht nur zur Kirche, wir sind die Kirche« (Allocutio an die Kardinäle vom 20.2.1946)38. So ist der Triumph der Kirche unser Triumph, die Not der Kirche ist unsere Not. Wenn wir aber heute die Kirche in Not sehen, dann erkennen wir sie aus der Schau des Glaubens als Kirche unter dem Kreuz Jesu Christi. Kirche in Not – Kirche unter dem Kreuz des Herrn: Darüber wollen wir heute zu Euch sprechen.

Wir leiden an der Not der Kirche. Vielfältig ist heute die Not der Kirche. Drei Tatsachen wollen wir herausgreifen:

Die Kirche soll entwürdigt werden.

Wir finden als gläubige Christen in unserer heiligen Kirche eine hohe Würde. Diese Würde soll verdunkelt werden. Uns ist die Kirche die von Gott bestellte Künderin der Wahrheit und die Vermittlerin der Erlösungsgnade. Diese Sendung wird ihr durch eine Ideologie streitig gemacht, die Sünde und Erlösung leugnet. Die Gottesleugner bezeichnen unsere Kirche als Hort des Betruges und Aberglaubens, als Feindin der fortschrittlichen Wissenschaft. Wir lieben die Kirche als Mutter jenes Lebens, das aus Gott ist. Doch wie oft müsst Ihr hören, ihre Sakramente seien Magie und ihre Ewigkeitshoffnung hemme die menschliche Entwicklung. Voll Dank erlebt gerade Ihr die Kirche als die Schützerin Eurer Persönlichkeitsrechte und Eurer Gewissensfreiheit. Von anderen aber wird sie als Bundesgenossin des Kriegslagers und der Ausbeuter geschmäht.

Damit ein solch entwürdigendes Zerrbild der Kirche entsteht, werden Vorgänge der Kirchengeschichte und Ereignisse der Gegenwart einseitig oder falsch dargestellt, verleumdet man Päpste und Bischöfe. So könnt Ihr es in den Zeitungen und Zeitschriften lesen, so hört Ihr es im Funk und auf der Bühne, so wird es Euren Kindern in der Schule gelehrt. Das Ziel ist klar. Ihr sollt durch solche Hetze die Freude an der Kirche, das Vertrauen zur Kirche verlieren und so in Eurem Herzen der Kirche entfremdet werden.

Die Kirche soll entvölkert werden.

Das ist der nächste Schritt. Einer solchen Kirche – so lautet die Folgerung der Kirchenfeinde – muss man den Rücken kehren.

Gerade im vergangenen Jahr ist der Kirchenaustritt in ungewöhnlicher Schärfe propagiert worden. Mit Drohungen und Versprechungen sucht man zum Ziel zu kommen. Mit Methoden, die menschenunwürdig sind und zudem dem verfassungsmäßigen Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit eindeutig widersprechen, soll vielfach der Kirchenaustritt erzwungen werden. Es gibt bei uns Berufe, die nur der ergreifen oder behalten kann, der sich von der Kirche getrennt hat und aus der Kirche ausgeschieden ist.

Die Kirche soll ersetzt werden.

Man weiß, was die Kirche und ihr Gottesdienst, ihre Sakramente und ihr Brauchtum den christlichen Menschen bedeuten. Deshalb setzt man irdische Ersatzformen an ihre Stelle. Die Menschen sollen durch Weihehandlungen und Gelöbnisse dazu gebracht werden, dass sie Gott und die Kirche vergessen und sich einzig dieser Erde, der Arbeit und der Gesellschaft verschreiben. All das geschieht, um die Irrlehre der Selbsterlösung eindrucksvoll in das Leben der Menschen zu stellen. Zu solchen atheistischen Riten, die in jüngster Zeit von Stellen des Staates und der Partei immer stärker gefördert werden, gehören die sozialistische Namensgebung,39 die sozialistische Jugendweihe,40 die sozialistische Trauung und die sozialistische Beerdigung. Besonders der Druck zur Teilnahme an der Jugendweihe ist in unerträglicher Weise gewachsen. In den letzten Jahren wollte man manchmal den christlichen Eltern glaubhaft machen, dass die Jugendweihe mit religiöser Überzeugung vereinbar sei. Doch die Äußerungen maßgeblicher Persönlichkeiten, der Lehrplan der Vorbereitungsstunden und gerade auch die Einordnung der Jugendweihe in die anderen, vorhin genannten sozialistischen Feiern erweisen unwiderleglich, dass die Jugendweihe ein Bekenntnis und Gelöbnis zum atheistischen Materialismus sein will.

Ein ernstes Bild von der Not der Kirche und ihrer Kinder mussten wir Euch entwerfen. Kein Wunder, dass manche unsicher werden, sich von der Kirche lösen oder doch einer klaren Entscheidung ausweichen. Umso mehr danken wir in ehrfürchtiger Bewunderung Euch, den Kindern und Jugendlichen, den Männern und Frauen, dass Ihr so tapfer feststeht und Euch durch nichts von Eurer Kirche trennen lasst.

Wir schauen die Kirche unter dem Kreuz Christi

Nun wollen wir die Not der Kirche, die wir eben sahen, von Christus her verstehen. Die Kirche ist der in der Zeit fortlebende und fortwirkende Christus. Christi Sendung aber verstehen wir am tiefsten vom Kreuz her. Darum schreibt der heilige Paulus an die Gemeinde von Korinth und wir, Eure Oberhirten, sagen Euch ebenso: »Ich hatte mir vorgenommen, bei euch von nichts zu wissen als von Jesus Christus, und zwar dem Gekreuzigten« (1. Kor. 2,2).41 Wie aber damals auf Golgatha Maria unter dem Kreuz ihres Sohnes stand, so steht die Kirche auf ihrem Weg durch diese Erdenzeit immerdar unter dem Kreuz ihres Herrn und Erlösers. Merkt Euch drei Sätze:

1. Die Kirche leidet mit dem Gekreuzigten.

Ihr wisst aus dem Evangelium, wie es unserem Herrn erging. Er wurde zu Unrecht als Aufwiegler, Gesetzesübertreter, Gotteslästerer hingestellt und wie ein Verbrecher starb Er am Kreuz. All das hat Er um unseres Heiles willen im Auftrag Seines Vaters auf sich genommen. Auf diesen Weg des Kreuzes führt Christus auch Seine Kirche und all Seine Jünger. Denkt nur an Sein Wort: »Der Knecht ist nicht größer als sein Herr« (Joh. 13, 16);42 »Wenn die Welt euch hasst, so wisset, dass sie mich vor euch gehasst hat« (Joh. 15, 18).43

In der Kirchengeschichte gibt es freilich Zeitabschnitte und Länder, wo die Kirche ob ihrer göttlichen Sendung geachtet und geliebt unter den Menschen steht. Doch selbst in solcher Lage muss sie stets bereit sein zur »Schmach des Gesalbten« (Hebr. 11, 26)44 und verkündet ihren Kindern das Wort des Meisters: »Wer mir nachfolgen will, muss sich selbst aufgeben und täglich sein Kreuz nehmen, um mir zu folgen« (Luk. 9, 23).45

Immer aber finden wir von Anfang an bis heute Zeiten und Umstände, in denen das Leiden Christi in Seiner Kirche besonders sichtbar wurde. Wegen der besonderen Nähe zum Gekreuzigten galten solche Zeiten der Bedrängnis stets als Zeiten der Gnade. Die Kirche hat dabei nur die eine große Sorge, dass ihre Kinder wirklich um Christi willen leiden. Der heilige Petrus spricht davon in seinem ersten Brief: »Was für ein Ruhm wäre es, wenn ihr euch vergangen hättet und würdet dafür Züchtigung ertragen? Handelt ihr hingegen recht und müsst dafür leiden und traget es, so ist es Gnade vor Gott. Dazu wurdet ihr ja berufen« (1. Petr. 2, 20–21).46 Die gegenwärtige Bedrängnis unserer heiligen Kirche ist trotz unserer menschlichen Schwachheit Leiden um Christi willen; dessen sind wir gewiss.

2. Die Kirche spendet die Gnaden des Gekreuzigten.

Das Kreuz Christi ist der Kirche heilige Last, doch von dort erhält sie auch ihre herrliche Sendung. Sie teilt in den sieben Sakramenten die Gnade, die Christus am Kreuz erwarb, an uns aus.47 Dieser Mittlerdienst gehört wesentlich zum Bild der Kirche unter dem Kreuz.

In der Taufe erhalten wir aus Christi Sterben neues, göttliches Leben und durch die Firmung werden wir im Zeichen des Kreuzes gesalbt zur Zeugenschaft in der Welt. Bei der Feier der Eucharistie verkünden wir das Gedächtnis des Leidens Christi und beim Empfang des Bußsakramentes werden wir jeweils neu geläutert im Blut Christi. In der Krankenölung aber schenkt uns der Gekreuzigte die Gnade, die Krankheit in Geduld zu tragen und, so es Gottes Wille ist, vereint mit ihm zum Vater heimzugehen. Im Weihesakrament erhält der Priester Anteil am Mittlerdienst des Gekreuzigten und im Sakrament der Ehe stellen die Eheleute ihren eigenen Lebensbund hinein in die Hingabe des Gekreuzigten an Seine Kirche. All diese Gnadenfülle der Sakramente spendet uns die Mutter Kirche, die bräutliche Gehilfin unseres gekreuzigten Herrn.

3. Die Kirche verkündet die Herrlichkeit des Gekreuzigten.

Wir spürten bisher schon, wie das Kreuz auf Leben und Herrlichkeit hinüberweist. Christus sagt von sich am Ostertag: »Musste nicht Christus dies leiden, um so in Seine Herrlichkeit einzugehen?« (Luk. 24, 26).48 Das gilt auch für die Kirche und ihre Kinder. Wie sie am Leiden Christi teilnehmen, so vereinigen sie sich auch mit dem auferstandenen Herrn. Nicht darf die Kirche das ernste Wort von der Nachfolge des Gekreuzigten in ihrer Verkündigung verkürzen, doch stets wird sie hinzufügen, dass Christus unser Leid in Seine Herrlichkeit und unsere Trauer in Seine Freude verwandelt. So ist die Kirche eine Pilgerin, die auf ihrem Kreuzweg voll glückseliger Hoffnung dem verherrlichten Herrn entgegengeht. Gewiss verzagen und erkalten manche auf diesem Weg, doch das ist für die getreuen Kinder der Kirche ein Ansporn, noch stärker zu hoffen, noch inniger zu lieben. Aus solcher Hoffnung erwächst uns schon hier auf Erden Friede und Freude; denn in unseren Herzen klingt die Seligpreisung des Herrn: »Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und euch fälschlich alles Böse nachsagt um meinetwillen: Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß im Himmel!« (Mt. 5, 11–12).49

III.

Wir erneuern unser Ja zur Kirche

Das soll die Frucht dieses Hirtenbriefes sein, dass Ihr Euch wieder enger mit der Kirche des Gekreuzigten verbindet und Euch wappnet gegen alle Einflüsse von außen. Wir singen so oft in dem bekannten Taufbund-Lied: »Dank sei dem Herrn, der mich aus Gnad’ in Seine Kirch’ berufen hat. Nie will ich von ihr weichen.«50 Lasst uns auch das in einigen Anrufen entfalten!

Prüfet die Geister und höret auf die Stimme der Kirche!

Wir hörten von den Schmähungen gegen die Kirche und ihre Getreuen; wir sprachen von der Frohbotschaft des Gekreuzigten, die die Kirche uns kündet. So seid Ihr zur Entscheidung aufgerufen! Ihr könnt nicht immer auf alle Anwürfe eine Antwort geben, aber das Kennzeichen der Lüge könnt Ihr oft entdecken. Darum lasst Euch nicht irreführen und nehmt mit desto größerem Eifer das Wort der Kirche in Euch auf! Sie kündet die Wahrheit Gottes!

Habt keine Angst und haltet der Kirche die Treue!

Wie wir hörten, ist unser Weg und unser Ziel – Erdenzeit und Ewigkeit – in den durchbohrten Händen unseres Herrn geborgen. Darum fürchtet Euch nicht und steht zur Kirche! Es gibt keine gültige Begründung, die den sogenannten Austritt aus der Kirche rechtfertigen könnte. Ihr dürft auch nicht zum Schein und nach außen hin eine Kirchenaustrittserklärung abgeben. Verwahrt Euch von vornherein gegen eine solche Zumutung und besteht nachdrücklich auf Eurem in der Verfassung garantierten Recht der Gewissensfreiheit. Wenn Ihr aber wegen Eurer Festigkeit Bedrängnis und wirtschaftliche Nachteile auf Euch nehmen müsst, dann umklammert liebend das Kreuz des Herrn, dass Er Euch Kraft und inneren Frieden schenke!

Holt nicht Wasser aus den Zisternen, sondern schöpfet aus den Quellen des Heiles!

Wir sprachen von den atheistischen Ersatzriten; sie sind für den Christen wie brüchige Zisternen, aus denen kein Heil zu gewinnen ist. Wir hörten von den Sakramenten der Kirche; sie fließen gleich lauterem Quell aus den Wunden unseres Heilandes. Auch hier seid Ihr zur klaren Entscheidung aufgerufen. In der Kraft des apostolischen Amtes, das uns verliehen ist, erklären wir Euch nach reiflicher Prüfung: Kein katholischer Christ kann die sozialistische Namensgebung, die sozialistische Jugendweihe, die sozialistische Trauung, die sozialistische Beerdigung oder ähnliche antikirchliche Feiern vollziehen, ohne seinen heiligen Glauben zu verleugnen. Zwischen dem Glauben an Gott und dem Bekenntnis zur Gottlosigkeit gibt es keinen Kompromiss. Erwägt gewissenhaft die Anordnungen, die Eure Bischöfe für diese Fälle, ganz besonders aber in der Frage der Jugendweihe, getroffen haben! Das Wohl der Kirche verlangt solch klare Weisungen. Eifert der Glaubenstreue all der Bekenner und Blutzeugen nach, die uns in der Geschichte unserer hl. Kirche vorangegangen sind! Holt Euch dazu die Kraft aus den Quellen des Erlösers, aus Seinen hl. Sakramenten, besonders in der eifrigen Teilnahme am hl. Messopfer und im häufigen Empfang des Leibes Christi!

Haltet zusammen und helft einander!

Manche unserer Glaubensbrüder wanken bei so starkem Druck, alle aber leiden unter der schweren Bedrängnis. Und um uns her erliegen so viele Menschen der Verführung und wollen nichts mehr von Christus wissen. Welch große Sorge, welch gewaltige Sendung für unsere Kirche! Sie muss in unserem Land, das der Gnade des Herrn so sehr bedarf, das Heilswerk des Gekreuzigten weiterführen und Ihr seid als lebendige Glieder der Kirche gerufen, mitzusorgen und mitzuhelfen. So stützt Euch gegenseitig in den Seelsorgegemeinden und in den Familien durch ein gutes Wort, durch tätige Liebe und durch Euer Gebet! Ihr mögt eine kleine Schar sein, aber Ihr habt eine große Aufgabe für unser ganzes Volk.

Geliebte im Herrn!

Nun geht an der Hand der Mutter Kirche in die heilige. Fastenzeit!

Oft wird die Liturgie in ihren Gebeten und Lesungen Euch an das erinnern, was wir in unserem Hirtenbrief bedachten. Öffnet dafür Euer Herz in den Gottesdiensten der Gemeinde und nützt die Reichtümer der Liturgie auch im täglichen Gebet Eurer Familie! Gestaltet diese Wochen in einem frohen Bußgeist; dann bleibt Ihr mit der Kirche unter dem Kreuz des Herrn. Vor allem aber vergesst dies nicht: Nach der Passionszeit kommt Ostern; aus aller Not unserer Prüfung wächst die Freude unserer Erwählung und die siegreiche Hoffnung im auferstandenen Herrn.

Es segne Euch Gott + der Vater und + der Sohn und + der heilige Geist. Amen

Die auf der Berliner Ordinarien-Konferenz versammelten Bischöfe und Bischöflichen Kommissare

Julius Card[inal] Döpfner | Bischof von Berlin

Otto Spülbeck | Bischof von Meißen

Dr. Ferdinand Piontek | Kapitelsvikar in Görlitz51

Friedrich Rintelen | Weihbischof in Magdeburg52

Joseph Freusberg | Weihbischof in Erfurt53

Dr. Bernhard Schräder | Bischöflicher Kommissar in Schwerin54

Joseph Schönauer | Bischöflicher Kommissar in Meiningen55

Vorstehendes Hirtenwort ist am Sonntag Quinquagesima (8. Februar 1959) in allen Gottesdiensten zu verlesen.56

Prange57

Generalvikar

Anlage 2 zur Information Nr. 251/59

Richtlinie der Synode der EKU für die kirchliche Arbeit in der DDR

Inhaltsverzeichnis

Das Evangelium und das christliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik

Die Anfechtung der Gemeinde und ihrer Glieder in der DDR 1–10

I. Das Wort Gottes und die Erschließung unserer Situation 1

II. Die Dimension der Anfechtung 2

III. Glaubenserkenntnis und Vernunfturteil 2

IV. Versuchung von innen und außen 3

V. Zwei Irrwege 7

a) Rückzug in die Innerlichkeit

b) Politisierung des Evangeliums

VI. Falsche Beschränkung und falsche Verteidigung des Evangeliums 9

B.

Die Botschaft der Königsherrschaft Gottes in Jesus Christus 11–18

I. Die Überwindung der Mächte 11

II. Die Macht der Versöhnung 12

III. Der Sieg am Kreuz 13

IV. Das Evangelium über den Dämonien der Geschichte 15

V. Die Pilgrimschaft 17

C.

Das Leben der Christen in der DDR 19–64

I. Die Umkehr 20

II. Unser politischer Gehorsam 25

a) unter einer Diktatur

b) im sozialistischen Weltanschauungsstaat

c) unter einer deutschen Teilregierung

III. Unser Beruf in der sozialistischen Gesellschaft 34

IV. Unsere Mithilfe bei der Aufrichtung und Findung des Rechtes 41

V. Republikflucht? 43

a) das Verhalten gegenüber der Gesetzlichkeit

b) Die gläubig-gehorsame Annahme des Lebens aus Gottes Hand

c) Die Konkurrenz der Mandate

d) Die Differenzierungen des Seelsorgeauftrags

VI. Unser Stehen in der Kirche 55

VII. Unser Trauen auf den Geist der Wahrheit 58

VIII. Die besondere Verantwortung der Pfarrerschaft 63

Das Evangelium und das christliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik

Eine Handreichung der Synode der EKU.

A.

Die Anfechtung der Gemeinde und ihrer Glieder in der Deutschen Demokratischen Republik

»Meine lieben Brüder, achtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallet, und wisset, dass euer Glaube, wenn er bewährt ist, Geduld wirkt. Die Geduld aber soll ihr Werk tun bis ans Ende, auf dass ihr seid vollkommen und ohne Tadel und kein Mangel an euch sei« (Jak. 1, 2–4).58

»Darüber freuet euch, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, auf dass eurer Glaube rechtschaffen und viel köstlicher erfunden werde als das vergängliche Gold, das durchs Feuer bewährt wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus« (1. Petr. 1, 6–7).59

»Wir rühmen uns auch der Trübsale, weil wir wissen, dass Trübsal Geduld bringt; Geduld aber bringt Bewährung; Bewährung aber bringt Hoffnung; Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist« (Röm. 5, 3–5).60

Mit der Erinnerung an diese und ähnliche Worte des Neuen Testaments (vgl. Matth. 5, 11 f.;61 Hebr. 2, 18;62 Luk. 22, 28;63 1. Kor. 10, 13;64 Gal. 6, 1;65 Phil. 1, 27 ff.;66 Jak. 1, 12;67 1. Petr. 4, 12;68 2. Petr. 2, 9;69 Offb. 3, 1070 u. a. möchten wir uns zunächst über den Ort (I) klar werden, an dem die Botschaft der Freude (II) uns heute trifft, damit wir den Weg des Gehorsams (III) finden und gehen.

I. Das Wort Gottes und die Erschließung unserer Situation.

Die Situation, in der wir nach dem praktischen Gehorsam zu fragen haben, wird uns allein durch das Wort Gottes erschlossen. Die Bereitschaft, dieses anzuerkennen, gehört notwendig zu der Umkehr, zu der uns das Freudenwort ruft.

Durch Jesus Christus, unsern Herrn, ist das All geschaffen und wird das All erhalten. So ruft Er uns nicht nur zum Gehorsam in unserer Situation, sondern lässt uns verkündigen, dass diese unsere Situation wie alle Situationen unter seiner gnädigen Regierung steht und wir unsere Lage mit ihren Aufgaben und Leiden nur im Zusammenhang mit seiner Person, seinem Werk und Wort begreifen, annehmen und bewältigen können und sollen.

II. Die Dimension der Anfechtung.

Unter dem Worte Gottes finden wir uns als Menschen vor, die in der höchsten Gefahr stehen, ihrem Herrn und Schöpfer abzusagen und damit unter den Zorn des Allmächtigen zu geraten, aus dem es keine Rettung gibt. Das ist die Situation der Anfechtung oder Versuchung, die sicher zu allen Zeiten, darum aber nicht weniger aktuell in der jetzigen Stunde besteht. Mit ihr ist die wahre Dimension angezeigt, in der wir leben und auch heute zu handeln haben.

Mag uns die Welt der sozialistischen Gesellschaft noch so fremdartig und unheimlich sein, so gibt es doch heute wie je nur jene einzige wirklich tödliche Bedrohung. Ihr Ausmaß für Zeit und Ewigkeit aber wird gerade erst dann recht erkannt, wenn uns unter dem gleichen Wort Gottes bewusst wird, dass wir – sogar mit Freuden! – genau diese so bedrohte Existenz als den Boden annehmen sollen, auf dem wir unseren Gehorsam einüben dürfen. Keine Rede also davon, dass wir den Ansturm gottfeindlicher Mächte übersehen oder verharmlosen dürften! Ebenso wenig aber auch Raum dafür, angesichts der übermächtigen Verführung zum Abfall zu resignieren oder in dieser Situation voller Absturzmöglichkeiten zur Rechten und zur Linken etwas anderes als die Lage zu sehen, die uns ohnehin vom Evangelium als die den Weg unseres Herrn und seiner Gemeinde in der Fremdlingschaft dieser Welt entsprechend verkündigt wird.

III. Glaubenserkenntnis und Vernunfturteile.

Gottes Wort, das an uns das geistliche Werk treibt, unsere Lage als eine solche Situation der Anfechtung erkennen und bejahen zu lernen, entlässt uns damit freilich nicht aus der anderen Aufgabe, die marxistische Welt auch unter politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, historischen und geistesgeschichtlichen Gesichtspunkten – also unter Gebrauch der Vernunft – zu studieren, zu deuten und zu bewerten. Erfahrungsgemäß fallen dabei, auch unter Christen, die Beurteilungen so verschieden aus, dass von daher die Einmütigkeit unter ihnen gefährdet oder gar zerstört ist. Darunter leidet die Christenheit und auch unser Volk. Umso wichtiger ist es, den nur sekundären, relativen und vorläufigen Charakter aller dieser Beurteilungen festzuhalten. Die Probe darauf wird wiederum darin bestehen, dass wir das Freudenwort in seiner ganzen Freiheit und Gültigkeit für unsere Existenz in der marxistischen Welt als das uns alle einigende Wort hören und befolgen.

Es stellt sich für einen jeden von uns die Frage, inwieweit er sich bei seinen Urteilen und in seinem Verhalten etwa nur von Wunschbildern leiten lässt, nach denen er sich die Lage mehr einbildet, als sie wirklich, nämlich vom Worte Gottes her zu erkennen.

Diese Versuchung kann darin bestehen, dass man sich – die tiefe Verfallenheit des Menschen an die Sünde verkennend – das marxistische Zukunftsbild einer reintegrierten Menschheit zu eigen macht und dann gegenwärtig offenkundige Ungerechtigkeiten, Willkür, Terror, Zwang zur Lüge oder Flucht, wirtschaftliche Unvernunft u. a.m. zu bloßen Übergangserscheinungen verflüchtigt.

Es kann aber auch sein, dass wir umgekehrt das System, unter dem wir leben, nach Leitbildern beurteilen, die wir einfach durch unsere Herkunft in uns tragen oder auf die wir uns im Sinne gewisser Prinzipien darüber festgelegt haben, wie ein Staat, eine Gesellschaft, eine Wirtschaftsordnung auszusehen haben, wenn wir sie als »normal« und für einen Christen erträglich annehmen sollen, Leitbilder, die sich uns vielleicht im Vergleich zur Bundesrepublik bestätigen, uns aber gerade so darin hindern, auch über und in den hiesigen Gegebenheiten den lebendigen Gott am Werke zu sehen. Diese Versuchung wird umso größer sein, je mehr der einzelne – z. B. ein Bauer oder ein Einzelhändler – zusammen mit solchen Leitbildern auch seine, seiner Familie und seines Betriebes Existenz verteidigt oder sich die politisch oppositionellen Wunschbilder mit der Not getrennter Familien verbinden.

Die größte Gefahr aber dürfte darin bestehen, dass wir derartige Leit- und Wunschbilder – nach welcher Richtung auch immer – mit theologischen Begründungen versehen, die den Anschein erwecken, als ob wir zuerst auf die Heilige Schrift gehört hätten, während wir in Wirklichkeit nur nachträglich unsere (aus irgendwelchen anderen Erkenntnissen oder Überzeugungen stammende) Einstellung auch theologisch rechtfertigen wollen. Dies ist nicht nur eine Gefahr für uns selber, sondern, wo wir ihr erliegen, auch eine besondere Anfechtung für alle anderen.

IV. Versuchung von innen und außen.

Gottes Freudenwort ist nicht darin Freudenwort, dass es uns die Anfechtung erspart. Vielmehr ist es das, was es ist, darin, dass es uns aus der Anfechtung errettet und uns so überhaupt erst wirklich erkennen lässt, wie es eigentlich um uns stand und steht. Das gilt für Gottes Gemeinde zu allen Zeiten, und ebenso ist es im Grunde immer nur eine einzige, selbe Anfechtung, deren sie sich dabei in Scham und Buße bewusst wird: ihr eigener Unglaube, mit dem sie von sich aus die Wirklichkeit Gottes in Christus und dem Heiligen Geist verloren hat. Es kommt alles darauf an, dass sie – wir alle miteinander und jeder für sich im besonderen – auch heute hierin und in nichts anderem, in diesem eigenen Unglauben, den geheimen Ursprung aller offenkundigen Bedrängnisse erfahre und sich von dem freisprechen lasse, der allein frei machen kann, eben dieses aber auch so gewiss will, wie schlechthin nichts anderes gewiss ist. Erst dann, wenn das klar ist (a) – nicht nur in der Weise eines dogmatischen Satzes, sondern im konkreten Trauen auf das Testament, das mit dem Blute Christi geschrieben ist – erst dann ist (b) der Blick auch auf die Gegen-Gemeinde und ihren Ansturm zu richten. Dann freilich ist er wirklich auch auf diese zu richten. Denn die Gemeinde steht in der Welt, und wenn sie dort wirklich stehen und nicht fallen soll, hat sie ebenso wie die Bedrohung von innen auch die von außen mit offenem Visier ins Auge zu fassen.

a)

Es ist keiner unter uns so verlassen, dass er nicht nach seinem Glauben und Gehorsam von Gott gefragt würde, und keiner ist so fromm und gläubig, dass er nicht in den praktischen Entscheidungen bedroht würde und Gefahr liefe, den lebendigen Glauben und den echten Gehorsam mit einer Anti-Ideologie zu vertauschen. Aus unseren von Natur ungläubigen und Gott feindlichen Herzen entsteht für uns die Versuchung, zu fallen und zu verderben. Hier gibt es nur einen Weg der Errettung: den Weg der Buße, die zunächst einmal jeder bei sich selbst zu vollziehen hat, d. h. die Absage an den Ungeist des Richtens über andere Menschen, die Verhältnisse, das System usw. und das Ja-Sagen zu den Führungen Gottes, mögen sie noch so verborgen sein. Diesen Weg hat Gott uns in Christus eröffnet, aber nun fragt er uns auch, ob wir bereit sind, ihn zu betreten und bis ans Ende zu gehen. Er fragt uns danach, ob wir ihn, den Herrn, unsern Gott, über alle Dinge fürchten, lieben und ihm über alles hinaus vertrauen wollen. Das ist die eine, immer gleich bleibende Kernfrage in den vielen, verschiedenen Entscheidungen, die wir zu treffen haben.

Diese Frage stellt sich z. B. für alle Eltern, die den erwarteten Ausbildungsweg ihrer Kinder auf der Schule, Fachschule, Universität usw. heute bedroht sehen, weil sie zur Bürgerschicht gehören oder weil sie glauben, sich nicht so in das gesellschaftliche Leben, seine Anforderungen und Akklamationen, einfügen zu können, wie das erwartet wird (Teilnahme an der Jugendweihe, Mitgliedschaft in der FDJ, Mitarbeit in den Massenorganisationen; Zustimmung zu Resolutionen, Teilnahme an Wahlen und dgl. mehr).

Vor der gleichen Frage stehen der Lehrer und Universitätsdozent, die die von ihnen erwartete Propagierung des dialektischen und historischen Materialismus ablehnen müssen, und alle die, die irgendwie aufgefordert werden, als geheime Mitarbeiter staatlicher Stellen wider ihr Gewissen Informationen über andere zu liefern.

Vor diese Entscheidung sind alle gestellt, die um ihres Fortkommens willen erwägen, dies oder jenes zu tun, was sie sonst nicht tun und sagen würden. Es gilt für alle, die unter dem Druck der massiven und umfassenden Propaganda daran denken, auf das eigene Urteil und die eigene Meinungsbildung zu verzichten und in einer Art geistigen Generalkapitulation dazu übergehen wollen, sich der herrschenden Ideologie anzupassen.

Nicht weniger dringlich ist andererseits diese Frage aber auch denen gestellt, die gleichsam innerlich emigriert sind, für die es ein feststehendes Urteil ist, »dass man hier nicht leben, jedenfalls nicht als Christ existieren könne«, und die sich darum von vornherein weigern, bei den Aufgaben, die hier gestellt sind, mitzuarbeiten. Erst recht sind sie dann nach ihrem Glauben gefragt, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – eine Übersiedlung in die Bundesrepublik erwägen.

Wiederum können wir auch alle die nicht aus jener Grundfrage nach dem Glauben entlassen, die – sei es aus subjektiv ehrlichem Urteil, sei es aus Egoismus oder Leichtsinn – gerade verneinen, dass wir Christen in unserem Raum (ein jeder für sich und für die anderen mit) auf Schritt und Tritt in diese Erprobung des Glaubens gestellt sind. Denn:

b)

In Verfolg der Glaubensfrage an uns selber haben wir dann auch und nicht weniger ernst zu erkennen, dass dem ungläubigen Herzen in uns, der in Form und System gebrachte Unglaube der marxistischen Welt und eine diesem Unglauben genau parallel laufende Revolte gegen den Schöpfer entsprechen, die uns von außen in diesen Aufruhr gegen Gott hineinziehen wollen. Wir dürfen zwar angesichts dieses Ansturms der »Mächte und Gewalten« und mitten in den Versuchungen, die mit ihnen über uns kommen, das Freudenwort hören, dass uns dieses zur Bewährung und Läuterung des Glaubens und zum Ziel des Lobes und Preises unseres Herrn widerfährt. Aber gerade dieses Wort und das Hören darauf verwehren es uns unabdingbar, in einer Schläfrigkeit, die zum Aufruf des Neuen Testamentes, die Geister zu prüfen (1. Joh. 4,1)71 im Widerspruch steht, etwa diese Anfechtung von außen verharmlosen zu wollen. Es ist weiterhin wohl wahr, dass alle diese Mächte an dem wirklichen Glauben, der sich an das Wort Gottes hält, scheitern. Aber darum haben sie nicht weniger den fanatischen Willen, allen Glauben an den dreieinigen Gott zu zerbrechen und alles Lob dieses Gottes zu ersticken. Und es ist endlich gewiss, dass auch unter ihnen um Gottes willen der Mensch noch Mensch sein darf. Dennoch dürfen wir nicht verkennen, wie durch sie nicht nur der Christ in seinem Glauben, sondern auch der Mensch überhaupt in seinem Menschsein bedroht ist.

Inwieweit der Atheismus im Marxismus als einer geschichtlichen Bewegung für diese konstitutiv oder nur historisch entstanden und darum u. U. auch historisch ablegbar ist, mag von uns verschieden beurteilt werden. Die Verschiedenheit dieses Urteils wird auch mit der dem Marxismus programmatisch und praktisch eigenen Taktik zusammenhängen. Unbeschadet der Offenheit solcher geistesgeschichtlichen Erwägungen ist jedoch theologisch festzuhalten, dass der Sozialismus, mit dem wir es hier zu tun haben, der Atheismus, der von seinem maßgeblichen Organ erst neuerdings wieder als die Prämisse des Ganzen bezeichnet worden ist, und der Herrschaftsanspruch der Ideologie, dem wir täglich ausgesetzt sind, eine Aktionseinheit bilden, die man jedenfalls ebenso wenig mit wohlmeinender Interpretation wegdiskutieren kann wie die Trias von Teufel, Welt und Fleisch in uns selbst.

Dabei ist es durchaus angebracht, förderlich und nötig, sich klar zu machen, dass der Aufstand wider Gott und die Bedrohung des Glaubens von außen verschiedene Gestalten haben und dass die, in der sie uns hier begegnen, nur eine davon ist. Es ist zumindest zu fragen, ob die getarnte Gestalt, unter [der] sie im »Westen« umgehen, nicht vielleicht sogar noch gefährlicher als die offene ist, in der sie hier auf den Plan getreten sind. Nur darf uns das nicht blind dafür machen, dass damit die Gefahr gerade nicht eingeebnet, sondern nur in ihrer Besonderheit profiliert wird. Wir hier haben es jedenfalls mit einer bewussten Bestreitung des Glaubens zu tun. Dies tritt ebenso bei bestimmten einmaligen Ereignissen (Jugendweihe, Wahlen, Reserven, Resolutionen und dgl.) wie im täglichen Leben (z. B. Verbindung von Berufsarbeit mit Zugehörigkeit zu Massenorganisationen, die die Leugnung Gottes auf ihre Fahne geschrieben haben) in Erscheinung. Wir haben es damit in einem Volke zu tun, dessen weit überwiegende Zahl noch heute aus Getauften besteht. Wir haben es so damit zu tun, dass diese Leugnung nicht nur durch eine Gruppe oder Partei geschieht, sondern auch in der Staatsmacht verankert ist, die über uns herrscht. Und endlich haben wir es in ihr mit einer Weise zu tun, bei der wir von denen, die sie betreiben, – wenn wir schon nicht den Akt der Huldigung vollziehen – auf einem Boden behaftet oder auf ihn getrieben werden, der gerade nicht der »Grund« ist (1. Kor. 3,11),72 auf dem der Glaube steht, sondern eine Religiosität, die tatsächlich nur Anti-Ideologie ist.

Wer wird hier stehen, statt zu fallen? Ganz gewiss nicht der, der vor diesem Ansturm die Augen verschließt! Indem nun aber der Ansturm auf allen Seiten entbrannt ist und sich auch keineswegs nur gegen den Glauben als Glauben richtet, sondern ebenso die irdische Freiheit, das irdische Recht und das irdische Ethos des Menschen betrifft, (Verhaftungen, indirekte Enteignungen, Denunziationen usw.), kann es nicht wundernehmen, wenn sich die Menschen (nicht nur Christen) bis an den Rand des Erträglichen oder noch über diesen hinaus in ihrem Lebensraum eingeengt fühlen. Gottes Wort bestreitet ihnen nicht, dass sie das seien, sondern verkündigt ihnen im Namen Jesu Christi – der selber zu allererst in der Welt keinen Raum hatte –, dass sie dennoch in ihr[em] »zu Hause«, nämlich bei Gott sein dürfen: bei dem Gott, der ihnen zwar die Gewalt des gegen ihn gerichteten Anlaufs erst richtig durchsichtig macht, aber sozusagen nur im Schatten dessen, dass dieser Anlauf (nicht um unsert-, sondern um Gottes willen) ein vergeblicher ist.

V. Zwei Irrwege.

Das Ausmaß der Bedrohung ist zugleich deren Begrenzung. Auch über den Marxismus haben wir das Zeugnis der Offenbarung des Johannes, aber auch 2. Thess. 2;73 Matth. 2474 und andere Worte der Schrift als Trost und Weisung für die angefochtene Gemeinde zu hören, um uns von aller ungläubigen Über- und Unterschätzung des Wesens der »Welt«, ihrer »Systeme« und »Schemata« befreien zu lassen.

Dabei müssen wir uns zwei Irrwege klarmachen, die wir nur allzu leicht einschlagen könnten:

a. Rückzug in die Innerlichkeit.

Aus sehr naheliegenden Gründen besteht unter uns zweifellos die Tendenz die Reichweite des Evangeliums in der Art zu begrenzen, dass wir einen Rückzug in die Innerlichkeit vornehmen. Wir beschränken uns dann auf eine Ermahnung der einzelnen, jeweils Gott über alle Dinge zu vertrauen und Ihm zu gehorchen, und verzichten also darauf, die von außen kommende Versuchung konkret bei Namen zu nennen – was zu unser aller Warnung und Ermutigung unumgänglich ist!

Als eine Kirche des reformatorischen Wortes können wir nicht hinter die Erkenntnis zurück, dass die Predigt der Schrift uns mitsamt allen Existenzbezügen anredet und nicht nur den Unglauben unseres eigenen Herzens nennt, sondern auch die Konkretionen des Ungehorsams und Aufruhrs in unserer Umwelt aufdeckt, gerade um uns zum Glauben zu rufen und vor dem Abfall zu bewahren.

Gehen wir um der Innerlichkeit des Glaubens und um der Gefahr des Missverständnisses willen, als antworte das Evangelium auf politische Fragen, dieser Konkretion grundsätzlich aus dem Wege, so leisten wir einem verkümmernden Glauben Vorschub. Solcher Glaube mag wohl noch innig und fromm sein, aber er entbehrt des Gehorsams, der sich – und sei es durch Verfolgung und Leiden – in einer Welt voller Unrecht und Versuchungen zu bewähren hat.

b. Politisierung des Evangeliums.

Andererseits müssen wir misstrauisch gegen uns selbst sein, ob wir nicht Gottes Wort in der Weise politisieren, dass wir die Überlegenheit und Freiheit, in denen es uns Frage und Antwort zugleich gibt, mit einer Bindung an den »Gegner« und sein »System« heimlich verraten.

Versucht sind wir nach dem Neuen Testament immer auf allen Seiten unseres Weges. Wir müssen stets wachsam prüfen, ob wir etwa zwar gegen eine mögliche Versündigung (z. B. auf politischem Gebiet) ankämpfen, zugleich aber blind dafür sind, dass uns der Widersacher auf einem ganz anderen (z. B. persönlich-sittlichen) Gebiet währenddessen zu Fall bringen will.

Die nüchterne Erkenntnis des Glaubens von dem widergöttlichen Ansturm der Mächte und ihren wechselnden menschlichen Figuren unterscheidet sich von Grund auf von aller zelotischen Erkenntnis und Haltung, die nur die Alternative von Kollaboration und radikaler Opposition kennt und sich unter dieser Alternative auf ein »Nein von vornherein und auf jeden Fall« festbeißt. Es ist vielleicht gar nicht unnütz, sich mit der Frage zu prüfen: Welches ist der Inhalt meiner Predigt unter der Voraussetzung, dass wir nicht unter der Herrschaft des Marxismus zu leben hätten? Unser Predigt- und Glaubensthema ist qualitativ und quantitativ dem Einzelthema: »Warnung vor der Verführung durch den Marxismus zum Abfall« unendlich überlegen. Diese Überlegenheit, die doch die Überlegenheit des sich erbarmenden Gottes über allen menschlichen Aufruhr ist, gilt es festzuhalten auch im größten Gedränge.

Nur diese Überlegenheit macht uns frei, Freudenboten zu bleiben und bewahrt uns davor, antibolschewistische Streiter zu werden. Nur diese Freiheit des Wortes wird jene gewinnen, die um der Innerlichkeit des Glaubens willen die Reichweite des Wortes Gottes auf eigene Faust beschränken. Und schließlich werden wir nur so alle die nicht von uns stoßen, die, redlichen Herzens, eine sehr viel »positivere« Wertung des Marxismus meinen vertreten zu müssen, als vielen unter uns das möglich ist. Mögen nun jene Redlichen, die mit uns Gottes Wort hören und zum Herrenmahl75 gehen, in ihrer Deutung der Situation Recht oder Unrecht haben (vielleicht haben sie und wir je z. T. Recht oder Unrecht): Wir müssen der Versuchung begegnen, die Abscheidung von der Christengemeinde Gottes Wort aus der Hand zu nehmen und selbst zu scheiden.

Das gilt freilich auch dann, wenn jene den Versuch machen sollten, ihre »positive« Deutung in der Kirche als Vorbedingung des echten Christseins zu erklären und durchzusetzen.

VI. Falsche Beschränkung und falsche Verteidigung des Evangeliums.

a.

Unser eigener Unglaube und der staatlicherseits propagierte Atheismus mit allen seinen Konsequenzen könnten uns schließlich nahelegen, den Anruf Gottes, der doch an die ganze Welt gerichtet ist, auf den Kreis kirchlicher, frommer Menschen zu beschränken. Das könnte sowohl hinsichtlich des Inhalts dessen, was wir aus der Schrift hören und weitersagen, geschehen als auch den Verzicht bedeuten, nach Wegen zu suchen und sie zu gehen, um auch denen das Evangelium auszurichten, die sich nicht zum Gottesdienst versammeln.

Unser eigener Unglaube könnte durch allgemeine Resignation über die Unkirchlichkeit unserer Landsleute, durch Angst vor möglichen Folgen oder durch eine willkürliche Deutung der Schrift genährt sein. Die nahezu lückenlose atheistische Propaganda in Partei, Zeitungen, Zeitschriften, Radio, in der Schule und Universität, Schulungen usw. sowie administrative Maßnahmen allerlei Art lassen uns täglich schmerzhaft die Hindernisse spüren, die dem missionarischen Wort entgegenstehen. Zugleich scheint uns die Beschränkung auf den »kirchlichen Raum« ein sturmfreies Gebiet zu gewähren, in dem wir ohne wesentliche Behinderung predigen, beten und singen können.

b.

Wir würden untreu werden, wenn wir dieser Versuchung nachgäben. Aber es muss gefragt werden, welches die innere Richtung bei dem Weitergeben des Wortes an diese verlorene Welt zu sein hat. Es liegt allzu nahe, bei dem Öffentlichkeitsanspruch der Kirche einzusetzen und von ihm auszugehen, um diesen Anspruch als um die Basis unserer missionarischen Tätigkeit zu ringen. Wichtiger und dringlicher scheint es uns, zunächst den öffentlichen Charakter des Evangeliums seinem Wesen nach zu erkennen und entsprechend zu predigen.

Der sogenannte Öffentlichkeitsanspruch der Kirche – der nicht preiszugeben ist! – ist doch in dem Wort begründet, das alle meint, für alle da war, ist und sein wird und seinem innersten Wesen nach den Herrn verkündigt, der für uns alle gekreuzigt und auferstanden ist. Wo dieses Wort in seiner ganzen Reichweite gepredigt wird, können wir Gott zutrauen, dass er ihm auch einen öffentlichen Raum geben wird. Es wäre versuchlich, heute sich auf die Durchsetzung der Reste des Öffentlichkeitsanspruches zu konzentrieren und dabei zu übersehen, dass nur die echte Predigt des wirklich allumfassenden Evangeliums eine Kraft in sich trägt, die den Anspruch auf Öffentlichkeit erst legitimiert und sich in der Öffentlichkeit durchsetzen wird, wo immer es Gott gefällt. Daraus folgt andererseits aber auch, dass Evangelium und Gebot Gottes auch die betreffen, die davon nichts gehört haben oder nicht mehr hören wollen. Wir sind nicht frei dazu, irgendwelche Menschen aus dem Ruf zur Umkehr auszuklammern, auch wenn wir uns, je größer die Verschlossenheit ist, nach dem Zeugnis der Schrift vom Geist die rechte Stunde, den rechten Ort, die rechte Weise und den rechten Adressaten zeigen lassen sollen. Auf keinen Fall dürfen wir den Marxisten – und sei es ein marxistischer Funktionär – mit dem von ihm vertretenen Marxismus einfach identifizieren. Wir dürfen das auch dann nicht, wenn er selbst sich noch so sehr mit diesem identifiziert. Die Gefahr, dies zu tun, ist groß, zumal wenn wir von diesem Menschen Böses erfahren oder zu gewärtigen haben. Doch würden wir uns damit gegen die Liebe versündigen, zu deren Wesen es gehört, den Menschen von seiner selbst er- und verdichteten Front zu scheiden. Jesus Christus hat sogar Henkersknechte unter seinem Kreuz nicht mit der »antichristlichen Front« in eins gesetzt, sondern er hat um die verlorenen Kinder am meisten getrauert: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«.

Freilich werden wir, wenn wir unserem Herrn darin nachfolgen, zunächst nur in noch größere Versuchung und Bedrängnis geraten. Denn die marxistische Lehre gesteht der Kirche zwar eine auslaufende Daseinsberechtigung für die noch religiös gebundenen Menschen zu, aber für die Ausbreitung des Evangeliums als Grundlebensform der Christenheit hat sie keinen Raum. Doch »Gottes Wort ist nicht gebunden« (2. Tim. 2,9)76 und in diesem Wort sagt uns der Herr: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Matth. 28,20;77 vgl. die VI. These der Barmer Theologischen Erklärung)78.

Angesichts unseres so bedrängten Weges wollen wir nun nach dem Evangelium selber fragen, um dessentwillen wir durch alle diese Anfechtungen hindurch müssen.

Die Botschaft der Königsherrschaft Gottes in Jesus Christus.

»Er erleuchte die Augen eures Herzens, dass ihr erkennen möget, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid … und was da sei die überschwängliche Größe seiner Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde, die er in Christus wirken ließ. Durch sie hat er ihn von den Toten auferweckt und gesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und was sonst noch genannt mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen und hat alle Dinge unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt zum Haupt der Gemeinde über alles« (Epheser 2, 18–22).79

»Denn so spricht der Herr, der die Himmel geschaffen, er, der alleinige Gott, der die Erde gebildet und der sie gemacht, der sie befestigt hat – nicht zur Öde hat er sie erschaffen, zum Wohnen hat er sie gebildet. Ich bin der Herr und keiner sonst … Sie haben keine Einsicht, die da einher tragen ihre hölzernen Götzen, die da flehen zu einem Gott, der nicht helfen kann … Wendet euch zu mir und lasst euch retten, alle Ende der Erde, denn Ich bin Gott und keiner sonst. Ich habe bei mir selbst geschworen, aus meinem Munde ist Wahrheit ausgegangen, ein Wort, das nicht rückgängig wird. Mir wird sich beugen jedes Knie, mir Treue schwören jede Zunge und sprechen: Nur im Herrn ist Heil und Stärke. Zu ihm werden kommen und sich schämen alle, die wider ihn zürnten« (Jesaja 45, 18–24).80

Wir könnten in der Wiedergabe dieser Siegesmeldung der Schrift noch lange fortfahren und nennen nur noch besonders Matthäus 28, 18–20;81 Apostelgeschichte 2, 29–36;82 Römer 8, 35–39;83 1. Korinther 15, 25–28;84 2. Korinther 1, 8–10;85 Epheser 3, 8–12; 14–21;86 Philipper 2, 9–11;87 Kolosser 1, 12–14; 15–17; 2, 9–10; 15;88 Hebräer 1, 1–4; 13–14; 2,8; 10, 12 f.;89 Offenbarung 1, 5–8; 5, 12.90

I. Die Überwindung der Mächte.

Unter verschiedenen Bildern und in mancherlei Redeweisen wird uns gesagt, dass mit dem Kommen des Sohnes Gottes in diese Welt und mit seiner Auferstehung alles, was sich gegen diesen Gott und Vater Jesu Christi erhebt, einen aussichtslosen und vergeblichen Aufruhr unternimmt. Dieser totale Siegescharakter des Evangeliums gehört zu seinem Kern und Wesen und darum auch an den Anfang unseres Glaubens und aller unserer Überlegungen. Wir sagen nicht irgendwann einmal zum Schluss unserer Predigt und es steht nicht irgendwo am Rande unseres Glaubens, dass Christus der schließliche Sieger über alle Mächte ist, sondern diese Totalität der Botschaft von Jesus ist der Ausgangspunkt, den das Evangelium der Apostel und Propheten nimmt, von dem her jeder kommt, der im Glauben steht, und ist die Basis der Gemeinde, die ihrem Herrn treu sein will.

Es geht zunächst um die Erkenntnis, welches Ausmaß und welche Qualität die Botschaft vom Sieg Jesu Christi über die Mächte hat, vor denen wir verzagen möchten. Die Schrift sagt uns in unsere Anfechtungen hinein, dass die Aufrichtung der göttlichen Herrschaft durch die Auferstehung Jesu nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlechthin konkurrenzlos ist. Vor dem kommenden Gott, der doch von Anfang an war, sinken die Götzen der Völker zu Nichtsen hin. Gemessen an der Gewalt und Macht Seines Handelns werden Fürsten und Gewaltige zu bloßen Figuren, deren Er sich bei seinem Heilswillen bedient, so wie sie alle ihre begrenzte und untergeordnete Macht nur von ihm haben: Assur wird als Axt in der Hand des richtenden Gottes von Jesajas verkündigt,91 Nebukadnezar als bloßer Knecht des Herrn von Jeremia gepredigt,92 Cyrus als Gesalbter des Gottes Israels von Deuterojesaja proklamiert,93 die Riesenreiche in ihrer Abfolge ganz und gar unter der planenden Macht des Allmächtigen von Daniel gesehen.94 Ob es sich nun um politische Mächte handelt, die mit ihrer Riesenfaust die Gemeinde Gottes niederschlagen wollen, oder ob es geistige Systeme und Religionen sind, die ihre Idole zur Anerkennung und Anbetung bei uns durchsetzen wollen, oder ob es um die unsichtbaren Gewalten und Fürsten »in der Luft« oder gar um den Diabolos selbst geht: sie alle werden von der Siegesbotschaft entwurzelt und entmächtigt. »Ihr Herrschaftsanspruch ist mit der Erhöhung Christi erloschen«, (G. Bornkamm95 in »Das Ende des Gesetzes. Paulus-Studien« 1952, S. 146). Wenn das »Anomos«, auf dessen Erscheinen die Geschichte zuläuft, auftreten wird, wird der Herr ihn mit dem Hauch seines Mundes vernichten (2. Thess. 2,8).96 In der Versuchung musste Satan von Christus weichen. Der Drache und das Tier aus dem Abgrund kämpfen Kriege gegen Gott und sein Volk, die von vornherein unter dem Zeichen ihrer Niederlage stehen. Und auch vor dem Teufel, der wie ein brüllender Löwe umhergeht, haben wir uns darum nicht zu entsetzen: »Dem widerstehet fest im Glauben« (1. Petrus 5, 8 f.).97 Der Herr – nicht wir ! – sah ihn vom Himmel fallen wie einen Blitz.

II. Die Macht der Versöhnung.

Der im Evangelium proklamierte totale Sieg Gottes über die Mächte wird als der Sieg des Heilswillens Gottes verkündigt, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Mit der Auferweckung Jesu Christi richtet Gott das Wort von der Versöhnung auf und enthüllt seine Gerechtigkeit über alle Gottlosen und über alle seine Feinde, damit sie umkehren und den Namen des Herrn anrufen.

Gott triumphiert über alle Mächte, weil Er die Welt lieb hat und die Verlorenen retten will. Der Grund seines Sieges ist seine freie barmherzige Zuwendung zu seinen ungehorsamen Kreaturen, die er nicht – einsam und allein mit irdischen und überirdischen Gewalten, die sie ins Verderben führen – sich selbst überlassen will. Sein Sieg ist der Sieg seiner Gnade über alles gottfeindliche Wesen und der Triumph seiner Vergebung über alle Menschenschuld. Es hat seine Treue über allen Unglauben gesiegt, damit wir dem trauen, dessen Erbarmung wir alle nicht verdient haben. Dass die Mächte ihr Spiel verloren haben und allen Gottlosen jede Hoffnung genommen ist, wird als Kehrseite jener gütigen und barmherzigen Entscheidung über uns alle verkündigt. Von der Botschaft dieser in Christus ewigen Entscheidung Gottes über uns zum Leben ist kein Mensch ausgeklammert, der lebt, hört und handelt. Im Vollzug der Viva vox evangelii wird die Scheidung zwischen Frommen und Gottlosen, Guten und Bösen, Glaubenden und Ungläubigen, Treuen und Untreuen, Freunden und Feinden Jesu Christi in der Weise aufgehoben, dass wir alle miteinander eingeladen werden, seiner barmherzigen Majestät zu trauen und bei diesem Trauen wider alle Versuchung zum Ungehorsam zu bleiben.98 Ohne den tatsächlichen Aufruhr wider Gott zu übersehen und ohne die Androhung ewiger Verdammnis zu eliminieren, nehmen wir im Hören, Glauben und Predigen des vergebenden Herrn an der Liebe teil, die keinen verloren gehen lassen will, der Menschenantlitz trägt. Es kommt alles darauf an, dass wir unser Verhältnis zu den Marxisten grundlegend und umfassend von daher bestimmt sehen und diese Grundlage durch unser Verhalten ihnen gegenüber niemals außer Kraft setzen. Die Liebe hofft alles.

III. Der Sieg am Kreuz.

Der Sieg Gottes über alle Mächte und der Triumph seiner Versöhnung wird uns allein in Jesus von Nazareth zugesprochen, der schwacher und gebrechlicher Mensch wurde, der bei seiner Geburt keinen Raum fand, dessen Leben eine Kette von Versuchungen war, der mit der Gewalt des Todes rang, der ohnmächtig in den Händen seiner Feinde war, dessen Jünger ihn verließen, und der am Kreuz den Verbrechertod starb. Gott siegt in der Niederlage seines Sohnes. Der Siegesweg der gehorsamen Gemeinde Jesu Christi ist darum der Weg der Ohnmächtigen, Niedrigen, Besiegten, alle Zeit Versuchten und gegen den Unglauben nach innen und außen Streitenden, deren einzige Macht und Gewalt Wort und Glaube sind.

Es sitzt uns allen in Fleisch und Blut, dass wir uns gegen diesen einzigen Ort des Sieges Gottes und gegen diese einzige Weise unserer Existenz in der Welt bis zur Ankunft des Herrn sträuben und der Niedrigkeit des Herrn und seiner Gemeinde entfliehen wollen. So wenig es den natürlichen Menschen befriedigt, dass der Herr des Sieges nur ein gekreuzigter Überwinder ist, so wenig wollen wir uns mit der Knechtsgestalt unseres Lebens in seiner Nachfolge begnügen. Wir sind in der Gefahr, an diesem Punkt zu Fall zu kommen und damit das Heil und den Sieg Gottes von uns wegzustoßen. Dieser Fluchtversuch vor dem Kreuzescharakter des Herrn und seiner Gemeinde kann heute sehr verschiedene Formen haben:

Wir können uns den quälenden, unbefriedigenden und fragwürdigen Entscheidungen mit ihrem stetem Ringen innerhalb der entstehenden sozialistischen Gesellschaft dadurch entziehen, dass wir zu dieser Gesellschaft und diesem Staat ein prinzipielles Nein ab ovo sagen, und zwar aufgrund der enthusiastischen Illusion, dass wir dem, mit dem Glauben an den Gekreuzigten unmittelbar gesetzten Streit anderswo oder zukünftig entnommen sein könnten. Die Geschichte des Glaubens und der Verkündigung in zweitausend Jahren aber belehrt uns, dass das Ringen mit den Mächten des Todes und des Bösen in und um uns Kennzeichen der gehorsamen Gemeinde Jesu zu aller Zeit, in allen, im Übrigen sehr verschiedenen Räumen und unter sehr verschiedenen Systemen gewesen ist. Die Formen dieses Streites wechseln, er selbst bleibt der christlichen Gemeinde nie erspart. Diese Tatsache richtet auch an alle, die mit dem Gedanken der Republikflucht umgehen – aus welchen Gründen auch immer – die dringliche Frage, ob sie wohl in dieser Illusion befangen sind und dem Kreuz aus dem Wege gehen wollen mit seinem Streit und Leiden. Diese Anfrage des Wortes von Jesus, dem Gekreuzigten, ist auch den Hugenotten und den Salzburgern99 und vielen anderen nicht erspart worden. Zwischen unserer Republikflucht, ja zwischen dem Spielen mit dem Gedanken daran, und unserem Christsein steht diese Frage, der wir uns alle mit innerster Seele und Gewissen stellen müssen. Mit dieser Frage ist auch die Erwägung verknüpft, welche Verantwortung wir im Bleiben in der DDR für andere Menschen tragen und welche Verantwortung wir auf uns nehmen, wenn wir diese anderen verlassen.

Unser Fluchtversuch könnte auch eine ganz andere Gestalt haben: wir könnten, wieder in einer Art Enthusiasmus und Schwärmerei, wähnen, dass wir dem Streit und dem Ringen mit den Mächten des Unglaubens grundsätzlich enthoben seien, dass unser Glaube so überlegen sei, dass wir diese Mächte gar nicht mehr zu beachten brauchten, sondern frei dazu wären, zur sozialistischen Gesellschaft ein vorbehaltloses Ja auszusprechen, weil sie den Gegensatz zwischen Glauben und Unglauben gar nicht tangiere. Mit diesem Hochgefühl des Glaubens könnte sich die Ansicht verbinden, dass wir gerade in einer sozialistischen Gesellschaft, in der der Mensch seine Würde und Freiheit nach Jahrtausenden der Ausbeutung erhalten soll, die beste Möglichkeit für ein christliches Leben hätten, eine viel bessere als in der bisherigen kapitalistischen Gesellschaft. Wir würden dann die Augen davor verschließen, dass die wehrlose Gemeinde in all ihren Gliedern zum Bekennen gegenüber aller Zumutung der Verleugnung, zum Stehen gegenüber allen ethisch unleidlichen Ansinnen beauftragt ist. Schließlich könnten wir dadurch zu Fall kommen, dass wir uns von der armseligen und unvollkommenen Gestalt der Kirche Jesu Christi und von ihren fehlsamen und sündigen Gliedern distanzieren. Wir bilden uns dann entweder ein, als isolierte Einzelne bessere Christen sein zu können, oder wir träumen von einer idealen Gestalt der Kirche, die einmal kommen wird oder die wir anderswo verwirklicht sehen. Die leeren Kirchen, in denen sich in der Mehrheit alte Menschen, Frauen und kleine Kinder versammeln, die Beschränkung der Gottesbesucher weithin auf eine bestimmte soziologische Schicht, unsere ungenügenden Predigten, Maßnahmen und Entscheidungen kirchlicher Behörden und Leitungen, über die wir uns ärgern, die praktische Flucht der Masse derer, die juristisch zur Kirche gehören, aus den fälligen Entscheidungen gegenüber dem atheistischen Ansturm, verwirrende Stimmen zur Lage aus allen möglichen Richtungen, Presseäußerungen von Verfassern, die sich betont Christen nennen, und in deren Artikeln wir vergeblich die biblische Nüchternheit suchen: all dies und noch vieles andere könnte uns so verwirren, bedrücken und verbittern, dass wir uns innerlich oder auch äußerlich von unserer Kirche trennen und jeder Art von Verführung und Irrtum anheimzufallend drohen.

Vor all diesen Fluchtversuchen bewahrt uns allein die Erinnerung an den Herrn, der für uns ans Kreuz ging und uns dadurch ermöglicht hat, im Auf-uns-Nehmen des Urteils Gottes über unsere böse Art Ihm in Niedrigkeit zu folgen und dabei seines totalen Sieges über die Mächte wie seiner totalen und guten Herrschaft über seine schwache Kirche gewiss zu werden und entsprechend zu streiten und zu handeln.

IV. Das Evangelium über den Dämonien der Geschichte

Die Verkündigung dieses so nach drei Seiten hin beschriebenen Sieges Gottes in Jesus Christus gilt unverändert auch unter dem Gesichtspunkt zusammengeballter und in System gebrachter, dämonischer totaler Machtzentren, in denen sich der Mensch, der sein will wie Gott, zu einer vom Bösen besessenen, energiegeladenen und geordneten Vielheit wider seinen Schöpfer erhebt, die Schöpfung äußerlich und innerlich verderben und das Volk Gottes austilgen will. Das Evangelium von der Herrschaft Gottes in Christum rückt uns, auch im Blick auf diesen Hintergrund alles Geschehens, unter die unmittelbare und gegenwärtige Treue und väterliche Obhut unseres Herrn und macht uns frei davon; vor dieser bösen Gewalt zu kapitulieren oder sie auf eigene Faust und nach Menschenart zu bekämpfen und ihr damit ebenso zu verfallen.

Die Synoptiker100 wie der johanneische Schriftenkreis,101 Paulus, die Paulinen,102 die Petrusbriefe,103 der Hebräerbrief104 und der Judasbrief105 verkünden das Evangelium mit dieser Blickrichtung, auch wenn sie dabei mannigfaltige Anlässe und Zielpunkte haben. Das setzt sich in der Kirchengeschichte laufend fort, wenngleich die Irrwege im Hören auf diese Seite des Evangeliums bei der Christenheit besonders viele gewesen und heute wieder sind.

Das Evangelium enthüllt uns den Abgrund der Geschichte. Diese Aufdeckung des unheimlichen Abgrundes ist mit keinen Analysen zu verwechseln, durch die wir zu dem Ergebnis kommen, dass diese oder jene geistige oder historische Erscheinung ein besonders großes Quantum von Bosheit und Gottlosigkeit enthielte. Das Evangelium selbst verwehrt uns andererseits, diesen Abgrund unserer Geschichte zu übersehen oder zu leugnen. Mag uns unser geschichtlicher Vordergrund noch so vernünftig und hoffnungsvoll, so fortgeschritten und so fern von allen Dämonien erscheinen und unsere Zeitanalysen ein noch so positives Ergebnis erbringen: auch dieser Punkt der Siegesbotschaft will von uns gehört und buchstabiert werden zur Warnung und Bewahrung in heutigen Versuchungen.

Wir sehen den Satan nicht und haben seine Tiefen auch nicht zu untersuchen. Aber wir sehen und erleben Menschen mit ihren Anschauungen, Handlungen, Methoden, Ideologien, Systemen, gesellschaftlichen, politischen und militärischen Machtkonzentrationen, über denen wir das Evangelium von der Gottesherrschaft in ganzem Umfang, auch unter dem Gesichtspunkt des besiegten und sich doch nicht als besiegt unterwerfenden Widersachers Gottes zu hören haben. Darum haben wir weder einen Menschen noch ein geistiges, religiös-kirchliches, politisches oder sonstiges System mit Satan gleichzusetzen, wohl aber haben wir zu vernehmen, dass unser Ringen um den Gehorsam dieses verkehrten und verdrehten Geschlechtes auch diese Dimension und Tiefe hat, wo immer wir auch in diesem Ringen stehen. Wo wir an einem einzelnen, bestimmten Punkt in einer ganz bestimmten Angelegenheit zum Bekenntnis gefordert oder zur Absage an eine uns nahegelegte Bosheit genötigt sind, dürfen wir nicht vergessen, dass dann unser Streit nicht gegen Menschen geht, sondern gegen die hintergründigen Mächte, die allein von Christus besiegt sind und besiegt werden.

Diese Enthüllung der bösen Mächte durch das Evangelium eignet sich nicht zur Kennzeichnung des betreffenden Gegners im Vollzug des »Kalten Krieges« oder konfessioneller Auseinandersetzungen und zu Geschichtsdeutungen. Es liegt uns heute sehr nahe, das politische System, das uns jeweilig schlechter und unvernünftiger als ein anderes erscheint, im Unterschied zu diesem anderen als »antichristlich«, »dämonisch« oder »satanisch« zu brandmarken. Man wird das nur dann tun können, wenn man die Souveränität des Evangeliums in seiner Enthüllung der wirklichen Abgründe unserer Geschichte um uns herum nicht anerkennen will, sondern das Evangelium zur Bestätigung von vielleicht sehr gut begründeten Urteilen und Ansichten missbraucht. Wir haben uns davor zu hüten, die gegenwärtigen politischen, ideologischen, wirtschaftlichen und sonstigen Gegensätze zwischen den Weltmächten durch einen solchen Missbrauch des Evangeliums noch zu vertiefen und damit an der Mehrung des Unfriedens auf dieser Welt schuldig zu werden. Wir werden freilich diesen Dienst des Friedens nur dann leisten können, wenn wir in der marxistischen Welt in concreto das Böse bei Namen nennen, in concreto allerlei Menschen warnen und trösten und etwaiges Leiden um dieser Mahnung willen willig und freudig ertragen.

V. Die Pilgrimschaft.

Diese Botschaft von dem totalen Sieg Gottes über die Mächte in Jesus von Nazareth enthält nun noch zwei Momente, die nur im Zusammenhang recht gehört und verstanden werden können, während sie voneinander isoliert uns je auf einen anderen Abweg des Scheinglaubens führen. Zu der in der Auferstehung aufgerichteten Herrschaft Gottes in Jesus Christus gehören die Verheißung und der Glaube, dass dieser Vater Jesu Christi und Schöpfer der Welt auch in Gestalt seiner Anordnung, die über allen Staatssystemen steht, für uns als der fürsorgende und Lebensraum schaffende Herr da ist und da sein wird bis ans Ende aller Tage. Zugleich aber leitet uns das gleiche Evangelium an, mit Flehen und sehnsüchtiger Erwartung auf die Zukunft zu hoffen, die die Enthüllung dessen bringen wird, der jetzt als der verborgene Herr seine Gemeinde und das All regiert. So ist rechter Glaube gleichzeitig der gegenwärtigen Vorhersehung Gottes dankbar gewiss und harrt doch mit der ganzen Kreatur auf die Offenbarung der Herrlichkeit des Gekreuzigten. Der Ruf: »Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat« ist nicht ohne jenen anderen: »Amen, Ja, komm Herr Jesu«.

Die heimliche Überzeugung manches Christen: »Hier kann man überhaupt nicht mehr leben« ist letztlich nicht in den einzelnen Schwierigkeiten begründet, die jeden aufrichtigen Christenmenschen unter marxistischer Herrschaft in ein Gedränge bringen, aus dem wir oft genug keinen Ausweg zu erblicken meinen. Dass uns das Wasser bis an die Seele geht, ist immer wieder Schrei der angefochtenen Gemeinde und der Einzelnen. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn wir prinzipiell der Überzeugung sind, dass innerhalb dieser sozialistisch-atheistischen Gesellschaft Gott nicht mehr für uns da ist, und dass wir dieses Dasein Gottes für uns anderswo erfahren und sehen. Dass Gott, über die politischen Systeme herrschend, uns je und je Raum zum Handeln und Entscheiden schafft, erfahren wir nie anders als durch das Wunder des Glaubens, der gegen allen Augenschein der Macht des Herrn traut.

Alle diese Erfahrungen der gegenwärtigen Durchhilfe Gottes weisen freilich den, der sie macht, auf den Tag der Erfüllung hin: jetzt glauben wir der Verheißung mit den sie begleitenden Zeichen ihrer Gültigkeit, die Verheißung selbst weist uns auf den Sieg Christi hin, der erst künftig vor aller Kreatur enthüllt werden wird. Aus der Gewissheit des unter uns handelnden und bewahrenden Herrn hoffen wir auf die Herrlichkeit dieses Herrn, die noch aussteht. Wo wir diese totale Hoffnung nicht ergreifen, werden wir uns an Surrogate binden, sei es an den Traum eines besseren Jenseits nach dem Tode (wie ihn uns die Marxisten allenfalls gern zugestehen und zugleich belächeln), sei es an die Utopie einer vollkommenen Gesellschaft ohne Sünde und Leid, sei es an kaum oder gar nicht begründete Erwartungen politischer Natur. Oder wir verfallen der erwartungslosen Resignation und einem nihilistischen Pessimismus, den das Leben anekelt und der die anderen verachtet.

Unsere Erwartung der Erscheinung des Siegers und der Enthüllung seines endgültigen Sieges über seinen Widersacher gibt uns endlich das rechte Maß nüchterner Einschätzung unserer Gegenwart, die einerseits ganz und gar unter der bewahrenden Hut unseres Vaters im Himmel geglaubt werden darf, und in der wir andererseits in diesem Glauben gegen unser Fleisch, die Welt und die unsichtbare, aber spürbare Macht des Bösen zu kämpfen haben. Die Entwicklung zum Sozialismus uns enthusiastisch als der Beginn der eigentlichen und wahren Geschichte der Menschheit angepriesen, ist für den Glauben dieser mythischen Überhöhungen entkleidet und stellt sich uns als eine der vielen, mehr oder weniger revolutionären, relativen und begrenzten, jenes Übel abschaffenden und andere Übel hervorrufenden geistig-politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen dar, bei denen wir gegen das Böse im Hintergrund zu streiten und über denen wir mit der überlegenen Providenz Gottes zu rechnen haben. In dieser Glaubenserkenntnis sind wir frei zu vernunftgemäßen politischen Entscheidungen nach dem Maß menschlicher Einsicht und ebenso frei, hier ein Ja und dort ein Nein zu praktizieren, ohne uns auf ein gleichsam metaphysisch begründetes generelles Nein oder Ja festzulegen.

C.

Das Leben der Christen in der Deutschen Demokratischen Republik

»Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« (2. Mose 20, 2–3).106

»Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, zu seinem Wohlgefallen. Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel, auf dass ihr seid ohne Tadel und lauter, Gottes Kindes, unsträflich mitten unter einem verderbten und verkehrten Geschlecht, unter welchem ihr scheinet als Lichter in der Welt« (Phil. 2, 12–15).107 »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz kraftlos wird, womit soll man’s salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn dass man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen« (Matth. 5, 13–16).108

»… bis dass wir alle hinankommen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur Reife des Mannesalters, zum vollen Maß der Fülle Christi. Auf dass wir nicht mehr unmündig seien und uns bewegen und umhertreiben lassen von jeglichem Winde der Lehre durch Bosheit der Menschen und Täuscherei, womit sie uns beschleichen und uns verführen. Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke, dadurch ein jegliches Glied dem andern kräftig Handreichung tut nach seinem Maße und macht, dass der Leib wächst und sich selbst auferbaut in der Liebe« (Eph. 4, 13–16).109

Gott hilft uns angefochtenen, irrenden, ratlosen Menschen mit der Kundgebung seines heiligen Willens. Sein heiliger Wille ist zwar zuerst sein schenkender Wille. Aber gerade im Schenken nimmt er uns auch in Beschlag. Er schenkt sich und er gebietet und löst uns auch mit diesem zweiten aus der Knechtschaft unter der Sünde heraus. Davon zeugt die Heilige Schrift nicht weniger als von dem ersten (vgl. neben den genannten und vielen anderen Stellen bes. auch noch Matth. 6, 24–34; 7, 1–5;110 Röm. 6, 12–14; 13, 1–7; 14, 19–23;111 Gal. 5, 1.13–15.22;112 Eph. 6, 10–20;113 1. Petr. 2, 11–25.114 Es ist das eine nicht ohne das andere. Die Freudenbotschaft bleibt nicht ohne den Kampfaufruf Gottes. Der Aufruf zum Kampf ergeht nicht ohne die Botschaft der Freude voraus. Das Leben im Glauben bleibt nicht ohne die Gehorsamsbewährung. Das Gebot des Gehorsams wird nicht ohne den Glauben erkannt und befolgt.

I. Die Umkehr.

Christliches Leben ist, solange es währt, ein Kampf des neuen wider den alten Menschen in uns. Der Christ nimmt dabei nicht eine moralisch-ideologische Aufrüstung vor, er reißt sich nicht bloß zusammen, geht nicht nur eine neue Selbstverpflichtung auf alte, unumstößliche Gesetze ein, um dann in einer Zeit, in der alle Dämme des Anstands und Rechts gebrochen sind, gegenüber der Flut der Charakterlosigkeit ein Zeichen der Mannhaftigkeit aufzurichten. Er tut, wenn er wirklich ein Christ ist, viel mehr und viel weniger. Er gibt sich selbst mit allem, was er ist und hat – also auch einschließlich seiner menschlichen Traditionen und Spekulationen –, in das Sterben Christi herein, auf dass der erhöhte und in seinem Geiste regierende Christus, der ihm in der Gemeinde verkündigt wird und ihn in der Taufe bei Namen gerufen hat, zunehmend in seinem Leben Gestalt gewinne. Das ist das »mehr«. Zugleich und eben damit verzichtet der Christ darauf, in jedem Fall einen »Kampf auf der ganzen Linie« zu führen und aus seiner Kraft am liebsten die ganze Welt verbessern zu wollen. Es ist ihm genug, am einzelnen Punkt, an dem er sich gerade befindet, gegen die Sünde zu streiten, und zwar zuerst gegen seine eigene Sünde. Das ist das »weniger« (was doch in Wirklichkeit abermals viel mehr ist als die selbstgewählten Programme der Ethik). So gibt der Christ in seinem Leben Gott die Ehre, und so wird er Mensch unter Menschen.

Schon dieser erste Schritt im Übergang vom Glauben zum Tun will nicht nur als gewiesen und eröffnet erkannt, sondern auch wirklich vollzogen werden. Die Umkehr will gepredigt sein. In der Seelsorge ist zu ihr aufzurufen. Wir selber haben sie einzuüben. Gewiss die freie, frei machende, freudige Umkehr im Aufblick zum auferstandenen Herrn, gewiss die Umkehr, in der das Bekennen der Sünde unter dem Zeichen des Kreuzes – Seines Kreuzes! – nur die andere (allerdings unerlässliche) Seite der Lebensgewinnung für uns und für viele ist. Aber diese Umkehr auch wirklich und die Umkehr zuerst. Wenn anders bringt das Reden über Notwendigkeit, Möglichkeit oder Versagen in der »Auseinandersetzung mit dem Marxismus« gar nichts ein und vertun wir nur mit endlosen Debatten, fruchtlosen Klagen oder nichtigen Lobreden auf ihn unsere Zeit. »Die Zeit ist erfüllt und die Herrschaft Gottes herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mark. 1, 15;115 vgl. u. a. Röm. 2,1–11116).

Entweder glauben wir, dass diese Verheißung und dieses Gebot unseres Herrn, wie es die Schrift uns bezeugt, auch heute noch gilt und auch uns hier in der DDR meint. Dann sagen wir damit auch dazu Ja, dass es uns verwehrt ist, uns auf unser altes Wesen zu versteifen und auf unsern bisherigen Wegen doch einfach weiterzugehen. Oder wir wehren uns unsererseits dagegen, unser Wesen, Denken, Empfinden, Urteilen, Wollen und Tun in den Sieg Christi hereinzugeben. Dann haben wir schon damit Berufung und Glauben verleugnet.

Am Scheideweg dieses Entweder-Oder stehen wir, ob wir es merken oder nicht merken, bei jeder Entscheidung, die wir im Leben zu treffen haben, sei es im privaten oder im politisch-sozialen Bereich in zeitlichen oder in ewigen Dingen. Allerdings gibt es da Unterschiede und zwar nicht nur nach dem Maß unseres Merkens oder Nicht-Merkens, sondern auch und vorerst gemäß dem Wesen des Wortes Gottes selbst: es sind zwar »alle Dinge durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist« (Joh. 1,2);117 auch lässt es selbst zwar uns selbst bei keinem Ding los; aber die ewigen Dinge (res aeternae) sind etwas anderes als die zeitlichen Dinge (res temporales) – auch wenn wir die ewigen in zeitlichen empfangen und die zeitlichen auf die ewigen hingestreckt sind und obwohl wir nur davon leben, dass Gottes Wort zu uns spricht, lässt es uns doch einen Raum und trägt es uns doch einen Raum des Denkens, Redens und Handelns auf, der (auch abgesehen von der Sünde) keineswegs einfach mit dem seines eigenen Sprechens identisch ist. Eben deswegen gibt es auch eine beträchtliche Spanne zwischen direktem Stehen in der Dimension der Entscheidung, d. h. im Sinne der Umkehr, und solchen Situationen, bei denen es allerdings uranfänglich auch um nichts anderes als Glaube oder Unglaube geht, des Näheren aber durchaus nach der Vernunft zu entscheiden ist.

Nicht darum also kann es sich handeln, wenn wir in unserer DDR Situation mit ihrer politisch-ökonomisch-weltlichen Prägung zur Umkehr rufen, – nicht darum kann es sich handeln, alle fälligen Entscheidungen in letzte Glaubensentscheidungen hinein überspitzen zu wollen. Vielmehr ist da, wo es wirklich um Vernunftfrage bzw. Fragen weltlicher Sachverantwortung geht – wie z. B. im Zusammenhang der Ordnung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens – ausdrücklich zu einem möglichst durchgreifenden Gebrauch der Vernunft und einsatzfreudigen Wahrnehmen solcher Verantwortung zu ermuntern und zu verpflichten. Das wird besonders immer dann akut, wenn wir feststellen müssen, dass Christen solche Entscheidungen stattdessen aus Faulheit oder falscher Rücksichtnahme, Ressentiments oder Schwärmertum fällen. Es gibt auch eine Umkehr zu echter Weltlichkeit (Bonhoeffer!).118 Freilich will dies recht verstanden sein. Auch diese Umkehr ist nur im Glauben möglich. Denn nur der Glaube nimmt die »Dinge«, die »Sachen« aus Gottes Hand und wohl nur der Glaube hat heute die Kraft, um solcher weltlich-dinglich-sachlichen Verantwortung willen zu leiden. Gleichzeitig und andererseits ist diese Umkehr aber auch nicht etwa einfach dasselbe wie die, in der es um das Ergreifen des ewigen Heils und dessen Weiterbezeugung zur letzten Errettung der Menschen geht. Dort kehrt der Christ um auf den Weg der Vernunft – wohl wissend, dass auch so noch seine Einsichten, Urteile, Entscheidungen und Taten nur relativ sein werden, dennoch aber bereit, mit diesen seinen Einsichten, Urteilen, Entscheidungen und Taten für Vernunft und Sachlichkeit einzustehen. Hier kehrt der Christ um auf den Weg des Glaubens – wohl wissend, dass auch dieser von neuem ergriffene Glaube noch immer ein angefochtener bleiben wird, doch nur umso fester auf das Wort Gottes sich richtend, wo und was immer es spricht.

Wenn wir so – von Gottes Offenbarung, von seinem Wort, von seinem Handeln und seinem Auftrag an uns in ewigen und zeitlichen Dingen her – denken, wird deutlich, dass wir hier heute (wir Christen in der DDR) in doppeltem Sinn zur Umkehr gerufen sind. Eben deswegen haben wir auch schon, als wir einführend (Teil A) von der Anfechtung sprachen, nicht nur die eigentliche Anfechtung des Glaubens zu bezeichnen versucht (bes. Abschnitt IV), sondern ebenfalls bereits dort (Abschnitt III) gesagt, dass Glaubenserkenntnisse und Vernunfturteile zwar zweierlei sind, wir aber gerade als Christen auch zum Gebrauch der Vernunft verpflichtet sind. Wir haben uns dann bemüht, Handreichungen zur Verkündigung des Evangeliums in der angefochtenen Gemeinde zu leisten (Teil B). Dies war und ist uns das Zentrum: dass das Evangelium gepredigt werde, dass unsere Gemeinden, dass alle Christen und auch alle Nicht-Christen in unserem Volk und Staat es zu hören bekommen – die ganze, umfassende Botschaft von der Königsherrschaft Gottes in Christus. Sie allein pflügt das Neue. Sie allein ist es auch, in der jenes Einstehen für irdische Gerechtigkeit, weltliche Sachlichkeit, Dienst der Vernunft Boden, Weisung, Kraft und Richtung hat. Nach dieser Botschaft haben wir zu fragen. Um sie haben wir zu ringen. Auf sie dürfen wir hören. Sie ist es, die uns sammelt. An ihr vorbei hat gar nichts Verheißung. Auf sie sollen wir uns konzentrieren lassen. Unter ihrem einigen Zeugnis tritt ein Christ an – zu seinen verschiedenen Berufen. Eben das ist die Umkehr in ihrem unmittelbarsten Vollzug, aus dem alle weiteren Schritte (unerlässlich, doch unumkehrbar) dann folgen.

Wie es nicht anders sein dürfte, haben wir schon bei der Handreichung zur Verkündigung immer wieder auch von der Bewährung des Gehorsams gesprochen. Indem wir nun (Teil C insgesamt) versuchen, dies im Blick auf die Entscheidungen, die der einzelne zu treffen hat, noch weiter zu konkretisieren, wollen wir nacheinander (Abschnitt II ff.) auf einige der besonderen Anfechtungs- und Bewährungssituationen eingehen, in denen er steht. Dies wird der Ort sein, um auch speziell auf die Fragen der weltlichen Verantwortung einzugehen. Wir glaubten jedoch und sind überzeugt, einander ein klares Wort darüber schuldig zu sein, dass ebenso wie das Gesamtthema des christlichen Lebens in der DDR so auch dieses besondere nur dann recht erörtert wird, wenn der Ausgangspunkt das Evangelium und die Umkehr sind.

Hierbei denken wir nicht zuletzt auch an Folgendes:

Die eigentliche Anfechtung kennt eine große Zahl unserer Christen ja noch gar nicht oder gar nicht mehr. Aus falschen Motiven heraus sagen die einen zu dem hiesigen Leben ein voreiliges Nein, praktizieren die andern ein leichtfertiges Ja, und viele schwanken bald nach der einen, der anderen Seite hin. Diese Motive müssen außer Kraft gesetzt werden. Das steht zwar nicht in des Menschen eigener Kraft, auch nicht in unserer, die wir zum Botendienst an ihm bestellt sind. Aber im Evangelium selber geschieht es. Es setzt dem Ja der einen, die zu nichts mehr Nein sagen können, und dem Nein der andern, die zu nichts mehr Ja sagen wollen, wie auch dem Schwanken der dritten, die praktisch gar nichts mehr sagen, das freie Ja des Glaubens entgegen, das zwar unaufgebbar das Nein in sich einschließt, es gerade so aber auch einzigartig und unumkehrbar umfängt. Das wirkt das Evangelium. Das ist der Kardinalpunkt des Ganzen. Der natürliche Mensch schüttelt den Kopf, wenn er nicht gar revoltiert. Uns allen ist es, so wie wir von uns aus an die Sache herangehen, schier unverständlich und jedenfalls gegen die Art. Ebenso und darum ist die Frage der Umkehr gestellt: ob wir uns das gefallen und dadurch gerettet werden wollen. Darum geht es.

Um es ganz deutlich zu machen und für alle folgenden Abschnitte – denn durch alle besondere Anfechtungs- und Bewährungssituationen zieht sich dieses als bleibendes Thema hindurch – es hier schon zu sagen: zur Umkehr, zu der uns das Evangelium heute ruft, gehört der Verzicht auf Fixierung, die sich aus anderen Quellen als aus der des bindenden und lösenden Wortes speist, unmittelbar und unerlässlich hinzu.

Es ist der alte Mensch in uns, der sagt: der ganze Marxismus ist vom Teufel, hier gibt es nur ein Nein ohne Bedingung und Abstrich; jeder Marxist steht für diesen Marxismus, hier gibt es keine Brücke zu einem Mitmenschen mehr, und es soll auch keine mehr geben, er sage denn dem Marxismus prinzipiell ab; erst recht ist zwischen mir und jedem Christen, der mit dem Marxismus und den Marxisten paktiert, das Band unheilbar zerschnitten, denn er ist ein Verräter am Christentum, und mit solchen Verrätern habe ich keine Gemeinschaft. Es ist der alte Mensch in uns, der dieses sagt, auch wenn er’s nicht laut sagt, sondern »nur« danach handelt. Freilich ist es nicht weniger der alte Mensch, der Denken und Handeln bestimmt, wenn sich ein Christ dem Marxismus kritiklos (vielleicht sogar ihn glorifizierend) dahingibt und die Marxisten in ihrer Theorie und Praxis bestätigt, wenn er den Kirchen zum Vorwurf macht, dass sie dies nicht so tun wie er selbst, und dann gar noch versucht, die Gemeinden von den Kirchenleitungen abzuziehen, und endlich jeden Christen, der darin mit ihm nicht gleich zieht, als Reaktionär und NATO-hörig abstempelt. Es ist in einem wie im anderen Fall der alte Mensch, dessen Widerspruch gegen den lebendigen Gott der Errettung aus Feindschaft und Schuld das Evangelium aufdeckt, um ihm zu versagen, auf diesem Gott leugnenden und die Menschheit zerstörenden Weg noch einen Schritt weiterzugehen.

Das Evangelium gebietet beiden, es selber die Freudenbotschaft Gottes in Christus, weit höher zu achten als eine noch so revolutionäre und ambitiöse Bewegung der Menschheit; gebietet beiden, in den anderen Menschen – Marxisten und Christen, Christen und Marxisten – ohne Ausnahme und ohne Bedingung Menschen zu sehen, die der ewigen Verdammung verfallen, wenn sie nicht ihm, dem Evangelium, glauben und wenn sie in ihren Sünden beharren, Menschen, die aber gerade dieses nicht tun sollen, sondern zur Freiheit des Lebens in Gott hier zeitlich und dort ewig berufen sind; gebietet beiden, den Leib Jesu Christi, die Kirche, erbauen zu helfen, statt ihn zu zerschneiden und damit gerade auf die Zerstörung dessen hinzuwirken, worum sie zu kämpfen meinen – des Friedens in dieser Welt. Das Evangelium ruft beide aus ihrer menschlich-unmenschlich ideologischen Verkettung heraus und will, dass sie lernen, auf dem Weg des neuen und wirklichen Lebens zu gehen.

»Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt und wenige sind ihrer, die ihn finden« (Matth. 7, 13.14).119

II. Unser politischer Gehorsam.

Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes Gottes, durch das Gott alle Dinge trägt.

»Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden (Barmer Theologische Erklärung vom Mai 1934)«.

»Das Evangelium widerstreitet jedem Versuch, eine bestimmte Gesellschaftsordnung als absolut zu behaupten und sie mit Gewalt als letztes Ziel der Menschheit durchzusetzen … Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der staatlichen Gewalt oder ihrer politischen Gestalt … Das Evangelium befreit uns dazu, im Glauben Nein zu sagen zu jedem Totalitätsanspruch menschlicher Macht, für die von ihr Entrechteten und Versuchten einzutreten und lieber zu leiden, als gottwidrigen Gesetzen und Anordnungen zu gehorchen (Theologische Erklärung der Synode der EKiD in Berlin 1956)120«.

»Nicht die Staatsform, nicht die Art, wie der Staat entstanden ist, nicht einmal, wie er sich selbst versteht, – ob er Gottes Willen erkennt und anerkennt oder nicht – ist maßgebend dafür, wie wir Christen zu ihm stehen. Sondern Gottes Wort befiehlt uns, den Staat in seinem Auftrag als ein Werkzeug Gottes ernst zu nehmen. Gottes Wort befiehlt uns darum auch, von dem Staat trotz aller Enttäuschungen immer wieder Handlungen zu erwarten, in denen wir Christen Gottes bewahrende Güte erkennen können, – – nicht, weil die Staatsmänner von sich aus nach Gottes Willen fragten, sondern weil Gott der Herr aller menschlicher Ordnung ist (1. Petr. 2, 13)121 und darum sich niemand seinem Willen entziehen kann. Ein Christ ist aus der Verantwortung für seinen Staat niemals entlassen; er nimmt sie auch dann wahr, wenn er im Gehorsam gegen Gottes Wort Widerspruch anzumelden hat. Gerade so weist er den Staat an seine Würde, die er nicht von Menschen, sondern von Gott hat.« (Beschluss der Synode der EKU im Dezember 1957, aus »Ein Wort der Hilfe, wie wir Christen uns zu unserem Staat verhalten sollen«).122

Die Anerkennung einer Staatsführung als gottgesandte Obrigkeit im Sinn von Römer 13 steht und fällt nicht einfach mit dem Urteil darüber, wie weit sie ihrem göttlichen Auftrag gerecht wird, sonst würden wir im Gegensatz zu Römer 13 Gottes Gebot eher als eine Anweisung zur Revolution denn als Anweisung zum Gehorsam verstehen.123 Wo wir einer Macht begegnen, die als einzige in dem betreffenden Wirkungsgebiet die Macht hat, für Leben, Recht und Frieden zu sorgen, und diese Macht, wenn auch in sehr verschiedenen Formen anwendet, dürfen wir glauben, dass göttliche Ermächtigung vorliegt, und haben die einzelnen Menschen dieses Gebietes zur Anerkennung dieses Auftrages und zur Mithilfe bei seiner Durchführung aufzufordern. – Die besonderen Fragen und Nöte bei der Einübung des Gehorsams im politischen Bereich entstehen vornehmlich dadurch, dass wir im Bereich der DDR erstens unter einer Diktatur (a), zweitens in einem sozialistischen Weltanschauungsstaat (b) und drittens unter einer deutschen Teilregierung (c) leben.

a. unter einer Diktatur

Wir kommen aus einer Geschichtsepoche, in der an die Stelle des Absolutismus der Fürsten im Lauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland der bürgerlich-liberale Verfassungsstaat trat, in dem das Individuum ein wachsendes Maß von Rechtssicherheit und Freiheit erhielt und in dem die verschiedenen Gruppen (Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsorganisationen, Vereine und Verbände, Religionsgesellschaften u. a.) lt. Verfassungsrecht volle Bewegungsfreiheit in Rede, Schrift und Aktion hatten, die zuletzt 1918 bis 1933 – das zu haltende Gleichgewicht von Ordnung und Freiheit gefährdete, ja aufhob. Wir finden uns nun in einem Staat vor, in dem diese Rechtssicherheit und diese Freiheiten stark begrenzt, z. T. aufgehoben worden sind. Dass die »Diktatur des Proletariats« nach marxistischer Theorie nur ein Übergangsstadium darstellt, das zur kommunistischen Gesellschaft und zu einem völligen Absterben des »Staates« führt, können wir insofern außer Acht lassen, als heute jedenfalls viele weithin empört und verbittert, unter den Methoden einer solchen Diktatur leiden und mit ihren Vorstellungen, wie es in einem Staat zugehen sollte, nicht vereinigen können. Damit entsteht die große Gefahr, dass viele Christen ihr Leben hinsichtlich ihres konkreten Unterworfenseins unter diese Regierungsform mit all ihren Methoden aus dem Hören auf Gottes Wort ausklammern und sich entweder in einem revoltierenden Nein innerlich zerreiben oder sich in einen stumpfen und gleichgültigen Leichtsinn flüchten und damit auf eine zweite Weise ihre politische Verantwortung wegwerfen. Darüber hinaus gibt es unter uns Christen auch einige – wenn ihre Zahl auch sehr gering sein dürfte – die gerade diese Diktatur schätzen und ideologisch rechtfertigen oder die heimlich im Dienst auswärtiger Militärspionage diese Diktatur bekämpfen zu müssen meinen. Immer wieder aber kommen Menschen zu ihren Pfarrern und beichten ihnen, dass sie mit bedrücktem Gewissen die Verpflichtung zur heimlichen Mitarbeit mit den Sicherheitsorganen der DDR eingegangen sind und nicht wagten, diese Erklärung zurückzunehmen. Von diesen Verwirrungen des Denkens, der Gewissen und Entscheidungen wie von den inneren und äußeren Nöten, die wir angedeutet haben, sind wir Christen mitbetroffen und können an ihnen nicht vorübergehen.

In all diesen verschiedenen Versuchungen, aus dem Gehorsam gegen Gott auszubrechen, haben wir ständig zunächst innerlich, dann aber auch äußerlich eine Bewegung in zwei Richtungen zu vollziehen:

Wir haben einmal uns inmitten dieser Versuchungen entschlossen, mit Herz, Ohr, Auge und Hand dem Evangelium und dem Bekenntnis zuzuwenden: »Jesus Kyrios. Er ist auferstanden von den Toten«. Begriffen in vielen kleinen, notvollen Entscheidungen und Leiden haben wir uns daran zu erinnern, dass die Zusage von Gottes gütiger Wendung zu uns auch unser politisches Dasein umklammert und wir in unserem Diktaturstaat um nichts weniger unter seiner allem überlegenen guten Macht stehen als in anderen Staatsformen. Es gehört zu diesem Evangelium und Glauben, dass wir gelassen und durchaus nicht ängstlich und resigniert unsere nun einmal gegebene Lage aus Gottes Hand nehmen und uns nicht an Gegebenheiten und Vorstellungen festklammern, die für uns z.Z. vergangen sind. Wie wir nun auch im Einzelnen politisch denken, urteilen, wünschen und wägen: dieser Glaube ist das Erste, Entscheidende und Tragende, das unsere politischen Wünsche und Ansichten infrage stellt, zu sich in Beziehung setzt, eingrenzt und normiert. Wo diese Bewegung in jener ersten Richtung nicht ständig wiederholt wird, werden uns die »vorletzten« Dinge zu letzten. Wir geraten dann in einen politischen Irrgarten, aus dem wir nicht heraus zu einem gehorsamen Leben finden. Verschiedenheiten der politischen Urteile werden dann nicht nur glaubenshemmend, sondern kirchenzerstörend und zersetzen die brüderliche Gemeinschaft unter uns. Die Seelsorge Jesu, die wir bei Ihm suchen, weist uns in diesen Versuchungen auf sich selbst: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«.

Sodann haben wir, vom Hören und Glauben dieser Freudenbotschaft ausgehend, unsere Situation im Einzelnen jeweils neu zu erkennen und zu bewältigen, dabei offen für neue Entdeckungen von Gottes Dasein in der Welt, für tapfere Entscheidungen und für williges Leiden.

1.) Befreit von der Sorge um uns selbst, werden wir nun umso sorgfältiger jeweils abschätzen und wägen, wo wir frei dazu sind, staatliche Maßnahmen im Einzelnen anzuerkennen, zu respektieren, ihnen gehorsam zu sein, ja sie mit zu verantworten und zu vertreten und dabei persönliche Nachteile ohne Murren in Kauf zu nehmen. Denn das Evangelium schärft uns die Augen zu entdecken, wo überall die Diktatur in ihren Anordnungen und Handlungen dem guten Willen Gottes faktisch dient und sie Kraft seiner Anordnung tatsächlich für Leben, Frieden und Recht sorgt.

2.) Unter dieser Diktatur ist nun ein weiter Raum für Handlungen frei, die nicht gerade durch klare Gesetze und Anordnungen verboten, die aber durch eine intensive Staatspropaganda, durch Presseartikel und Äußerungen von Staatsfunktionären als nicht erwünscht hingestellt werden. Hier öffnet sich für uns ein weites Feld für kleine tapfere Entscheidungen aus dem Vertrauen heraus, dass unser Herr Wege und Möglichkeiten dem öffnet, der mit Ihm in seiner Lage rechnet. Wir werden uns hüten müssen, die Bravour zu glorifizieren, aber können nicht überhören, dass Feigheit und Angst jedenfalls Sünde sind. Wo der Unglaube sagt: »Ich muss ja wohl …«, berät sich der Glaube mit dem Gott, mit dem wir über die Mauer springen können. Dazu gehört dann auch die Bereitschaft, um der Erhaltung und Konsolidierung unseres Staates willen in den »vorletzten« Dingen je und dann zu bitten, zu fragen, Einspruch zu erheben und in geziemender Weise Kritik zu üben.

3.) Schließlich kennzeichnet es über lange Zeitstrecken hinweg und an vielen Orten die christliche Existenz im politischen Raum, dass auch harte und ungerechte Maßnahmen der Mächtigen als geringster Bruchteil dessen, was wir von Gott verdient haben – nämlich die ewige Verdammnis – von einem Christen ertragen werden. Sofern die Diktatur über uns diese zeitliche Strafe des ewig gnädigen Gottes vollzieht, können wir sie in der letzten Freude über den Retter ertragen.

b. im sozialistischen Weltanschauungsstaat.

Nun ist diese Diktatur zugleich ein sozialistischer Weltanschauungsstaat, der sich selbst, seine Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen im Großen und Kleinen ideologisch begründet. Der politische Bereich ist mit der Forderung ideologischer Akklamation durchtränkt. Bei allen sehr erheblichen Verschiedenheiten im Einzelnen erleben wir heute formal etwas ähnliches, wie die Menschen des Mittelalters und darüber hinaus in Europa, die Nichtmohammedanen unter dem Islam bis in die heutige Zeit, die Protestanten heute in Spanien und einigen anderen katholischen Ländern, die Christen fast drei Jahrhunderte im Römerreich und die Glieder der Jungen Kirchen Asiens und Afrikas in Staaten, die mehr oder weniger sich auf alte Kulturreligionen oder einen enthusiastischen, säkularistischen Nationalismus gründen. Im Unterschied zu den genannten Teilen der Christenheit in alter und neuer Zeit haben wir Evangelischen in Nord- und Mitteldeutschland seit 400 Jahren so gut wie keine Erfahrungen darüber, wie das christliche Leben in einem Staat sich gestaltet, dessen weltanschauliche Begründungen und Forderungen, ungeschieden von politischem Selbstverständnis und staatlichen Gesetzen, der Christenheit fremd, bedrohlich, ja sogar feindlich sind. Wir waren seit der Reformation gewohnt und sind darin im Lauf der Jahrhunderte z. T. durch sehr fragwürdige theologische Theorien bestärkt worden uns darauf zu verlassen, dass der Staat sich einerseits auf seine »irdischen Aufgaben« beschränke und andererseits der evangelischen Kirche in ihrer vielseitigen Verkündigungs- und Erziehungstätigkeit Privilegien gewähre und ihr weitgehend mit seiner Macht zur Seite stehe. Das haben z. B. Katholiken und Sozialdemokraten nach 1871 sehr schmerzhaft zu spüren bekommen. Der fast radikale Abbruch dieser langen Tradition, 1933–1945 begonnen, überrascht und verwirrt viele unter uns und macht ihnen die Einübung des politischen Gehorsams auch unter diesem zweiten Gesichtspunkt problematisch.

Unsere Schwierigkeiten entstehen unter diesem Gesichtspunkt an der Tatsache, dass politische Aussagen, Entscheidungen, Handlungen, Aktionsformen usw. zugleich ein enthusiastisch-schwärmerisches und antikirchlich-kultisches Gepräge haben. Dieses Gepräge gibt der politischen Sprache einen »metaphysischen« Charakter: eine politische Wahl wird zum »Bekenntnis«; Leserbriefe zu politischen Tagesfragen stehen in größter Nähe zu liturgisch geprägten, immer wiederholten Hymnen; Verschiedenheiten innerhalb der marxistischen Lehrinterpretation und Praxis werden im Stil der Ketzergerichte behandelt; politische, oft nur kurzlebige Propagandismen werden als eine Art neu proklamiertes Dogma vorgetragen und die gläubige Unterwerfung unter sie gefordert usw. usw. Vor allem aber treibt uns die immer klarer und betonter erhobene Forderung der »Bewusstseinsänderung« in eine schier ausweglose Bedrängnis.

Wir können nicht zu einem Weg ermutigen, den offensichtlich sehr viele unter unseren Landsleuten in der DDR gehen, und der darin besteht, dass sie sich weder auf die politischen Sachfragen, um die es jeweils geht, ernsthaft einlassen, noch den gegenkirchlichen Charakter an diesen Punkten beachten und prüfen, sondern unter einem grundsätzlichen Verzicht auf Wahrnehmung ihrer politischen Verantwortung und einer bewussten oder – so wohl in der Mehrzahl der Fälle – unbewussten Ausschaltung der Frage nach Bekenntnis oder Verleugnung sich anpassen, entweder bedrückt und resigniert oder frech-nihilistisch (»Die Resolution möchte ich mal sehen, die ich nicht unterschreiben könnte!«).

Wir müssen weiter davor warnen, prinzipiell in allen Entscheidungen politischer Art den Bekenntnisfall als gegeben anzunehmen unter Hinweis darauf, dass zweifellos in jeder politischen Frage ein Quantum enthusiastische Ideologie enthalten ist. Wir geraten auf diese Weise schließlich auf den zelotischen Irrweg, der auch in der Steuerfrage keine Möglichkeit des Gehorsams mehr sah und folgerichtig zum Aufruhr im Namen Gottes fortschritt.124 Gegenüber dem prinzipiellen Nein zu unserem – von der sozialistischen Weltanschauung geprägten – Staat können wir darauf vertrauen, dass durch die Bewahrungsgnade Gottes auch in einem ideologisierten Staat rechtliche und staatliche Ordnungsfunktionen wahrgenommen werden, die im Sinne von Römer 13 ein bellum omnium contra omnes verhindern.125 Außerdem wird der Zugriff des ideologisierten Staates immer wieder durch den character indelebilis126 gewisser elementarer Grundbestände des Daseins, das von Gott geschaffen und erhalten wird, begrenzt: es geht nicht »ganz« ohne Gerechtigkeit und Ordnung in der Verwaltung, wie auch das Gewissen in aller Perversion nicht »ganz« preisgegeben werden kann usw. Wir verweisen hier auf den von Martin Fischer127 am 8.10.1952 auf der Synode der EKiD in Elbingerode128 gehaltenen Vortrag »Die öffentliche Verantwortung des Christen heute«, Berlin 1952 im Lettnerverlag erschienen, der leider zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.

Ebenso können wir denen nicht zustimmen, die prinzipiell den enthusiastischen Charakter unseres politischen Lebens zurückstellen oder gar übersehen und dadurch für die Christen den Weg freimachen wollen zu einer grundsätzlichen Bejahung der Praxis und Methoden unseres Weltanschauungsstaates. Tatsächlich bezahlen diese Christen ihr prinzipielles Übersehen der Anfechtung der Gemeinde und ihrer Glieder in einem ideologisierten Staat mit einer täglich zu beobachtenden einseitigen Deutung unseres politischen Geschehens, der sie inhaltlich und formal dogmatische Qualität beilegen. Wir können diesen Stimmen nicht folgen, da wir dadurch zu stummen Hunden würden, die weder Menschen warnen, die verloren gehen konnten, noch andere trösten, die mitten in der politischen Anfechtung leben müssen. Wir würden aber auch unsere begrenzte und relative politische Verantwortung in vielen einzelnen Fragen von uns stoßen, wenn wir nicht versuchten, jeweils in concreto die unheilvolle Vermischung von quasireligiösem Fanatismus und politischer Vernünftigkeit zu erkennen und zu scheiden.

Wir werden bei unseren Versuchen, die Abwege in unserem Verhalten an diesem Punkt zu vermeiden, nicht erwarten dürfen, dass kraft Staatsgesetz die Scheidung der Fragen des politischen Ermessens von denen des Glaubens vorgenommen wird. Dass Politiker grundsätzlich und im Einzelnen diese Scheidung vornehmen und sowohl dem Glauben wie dem vernünftigen Ermessen Raum geben, geschieht (wo es passiert) durch Gottes bewahrende Providenz, wird im Evangelium uns verkündigt und soll von allen Glaubenden an Ort und Stelle praktiziert werden. Wir werden uns bei diesen praktischen Versuchen für sehr verschiedene Gestalten offenhalten müssen, in denen unser Gehorsam erscheinen kann:

Wir werden oft in der Lage sein, unseren politischen Gehorsam in der direkten Form der Beteiligung, Übernahme von Mitverantwortung, Befolgung der Gesetze und Verordnungen, Mitarbeit im staatlichen Raum, der ausgesprochenen Bejahung und Unterstützung u. ä. einzuüben, obwohl das ideologische Vorzeichen prinzipiell nicht zurückgenommen ist. Trotzdem wird uns diese direkte Gestalt möglich sein, sei es, dass in praxi das Gewicht der Tatsachen des politischen Zusammenlebens so groß wird, dass die ideologische Umkleidung ein bloßes Rankenwerk von uns in Kauf genommen werden kann, sei es, dass wir in kühnem Freimut diese ideologische Umklammerung durchbrechen und Raum für politische Vernünftigkeit schaffen.

Es wird aber auch Lagen geben, in denen es uns geboten erscheint, uns durch Schweigen, Nichtmitmachen, Abseitsstehen usw. zu distanzieren, weil uns klar geworden ist, dass wir anders unsere Freiheit des Glaubens verlieren oder in Missverständnisse geraten würden, die aufzulösen über unsere tatsächliche Möglichkeit geht. Wir werden dabei sowohl unsere Verantwortung gegenüber den Politikern als auch gegenüber denen im Auge haben, mit denen wir zusammen Gottes Wort hören und am Tisch des Herrn teilnehmen.

Wir werden aber auch Situationen erleben, in denen wir nur ein ausgesprochenes Nein sagen und vertreten können, wenn wir nicht unseren Herrn verleugnen wollen. Es wird das dann geschehen, wenn die von uns erwartete oder uns befohlene Handlung entweder in einer Art von Verdichtung ihres ideologischen Charakters für uns Götzendienst oder mit der uns gebotenen Nächsten- und Feindesliebe schlechterdings unvereinbar wäre, weil diese abgenötigte Handlung den Ring der Liebe und des Vertrauens zerstörte, der uns mit aller Kraft des Evangeliums zusammenhält.

Welches jeweils das gebotene Verhalten ist, wird sowohl hinsichtlich der Sachfragen wie hinsichtlich der Menschen, die sie zu lösen haben, nicht von vornherein entschieden werden können. Wichtig ist aber Folgendes: Jeder von uns muss sich für alle drei Gestalten dieses Gehorsams offenhalten und bereit sein, an jedem Punkt seiner politischen Existenz zu prüfen, welche Gestalt sein Gehorsam hier haben muss. Keiner steht so fest, dass er nicht gewappnet sein muss, einen Ansturm zu bestehen, der ihn zu Fall bringen kann. Keine Frage ist so »neutral«, dass wir bei ihr nicht plötzlich in den status confessionis gerufen sein könnten.129 Wir müssen uns auch klar darüber werden, dass wir uns einander ein verschiedenes Maß der Erkenntnis zubilligen müssen, ohne dass im Voraus darüber entschieden werden kann, dass hier nur verschiedene Erkenntnis uns scheidet, dort aber Gehorsam gegen Ungehorsam steht. Alle Toleranz, die wir einander gewähren, steht in strenger Beziehung zu der Ankündigung, dass wir alle vor dem Richtstuhl Christi erscheinen werden und wir, was wir nun auch tun, nicht uns selbst, sondern dem Herrn leben und sterben. Wiewohl jeder also allein vor seinem Herrn steht, sollen wir doch alle miteinander die gegenseitige brüderliche Aussprache, Mahnung, Anfrage, Tröstung und Stärkung auch in den auf uns zukommenden politischen Entscheidungen suchen und nicht verachten. Die brüderliche Beratung kann keinem die eigne Entscheidung abnehmen, aber sie kann uns auf unsere Verantwortung hinweisen und uns zu einer besseren Erkenntnis führen, als wir sie bisher hatten. Da wir alle miteinander – wie oben erwähnt – keine Erfahrung haben, wie der gehorsame Weg in einem fremdgläubigen Staatswesen für Christen im Einzelnen aussieht, ist es umso notwendiger, dass wir auch in politischen Sachfragen aufeinander hören. Das gilt besonders im Blick auf die Beschlüsse und Entscheidungen der Kirchenleitungen und Synoden und anderer Gremien kirchenleitender Art, die wir an der Schrift prüfen sollen und die uns anleiten wollen, die Schrift besser in unserer politischen Versuchung durch einen ideologisierten Staat zu verstehen und zu befolgen. Alle Versuche, das Vertrauen zu unseren ordentlich bestellten Synoden und Leitungen zu untergraben, sollten wir entschlossen abweisen, ihre Diffamierungen, denen sie ausgesetzt sind, als unsere Diffamierungen betrachten und durch unsere freie, mitunter vielleicht auch kritische Mitarbeit ihnen helfen, den Weg für uns alle zu erkunden und voranzugehen.

c. unter einer deutschen Teilregierung.

Unser politischer Gehorsam wird nun endlich noch einmal angesichts der Spaltung Deutschlands in zwei deutsche Staaten problematisch, deren Regierungen beide beanspruchen, die allein legitime deutsche Regierung zu sein, und die sich miteinander in einer Art kaltem Bürgerkrieg befinden. Es erhebt sich die Frage, ob unser Gehorsam nicht in Konflikt gerät mit der Mitverantwortung, die wir als Glieder unseres Volkes für dessen weiteren Weg, vor allem für seine Wiedervereinigung haben. Wir können zwar nicht den abstrakten Satz aufstellen, dass ein Christ nie Revolutionär sein und sich nie am politischen Widerstand beteiligen darf. Wohl aber werden wir uns sowohl fragen müssen, welche Verantwortung wir heute für die Folgen einer Unterhöhlung der bestehenden Macht übernehmen, als auch was wir tun, wenn wir zur Konsolidierung unserer Staatsmacht durch gehorsame Einfügung und durch Unterlassen des generellen Widerstandes beitragen.

Beide Fragen sind nicht gleichgewichtig. Das Zeugnis des Neuen Testaments weist uns normalerweise zur Bejahung unserer Verantwortung für die Konsolidierung unseres Staates, zum zweiten aber soll der Intention nach unser recht verstandener Gehorsam nicht das Unrecht, die Unfreiheit und Willkür fördern, die in einem Staat herrschen (der sich damit selbst untergräbt), sondern auch durch unsere Mitverantwortung und Mithilfe versuchen wir, der Aufrichtung des Rechtes, der Eindämmung der Willkür, der Wahrung der Menschenwürde und also der Konsolidierung unseres Staates hinsichtlich seines legitimen Auftrages zu dienen. Wir können niemand die Frage erlassen, ob unter unseren gegebenen Verhältnissen heute jegliche revolutionäre Untergrundarbeit nicht den Erfolg haben würde, den Weg unseres Volkes noch ungewisser, schwerer und leidvoller zu machen, als er ohnehin schon ist.

Die Problematik verschärft sich ganz besonders durch die Aufstellung zweier deutscher Armeen. Die Synode der EKU hat dazu mehrfach Stellung genommen:

»Mit unzähligen Menschen innerhalb und außerhalb unseres Vaterlandes erkennen wir in tiefer Bestürzung, dass die unser Volk und die ganze Welt zerreißenden Gegensätze sich in einer Weise verhärten, die den Weltfrieden von neuem bedroht. Wir fürchten abermals schuldig zu werden, wenn wir dieser Bedrohung nicht entgegentreten, und wir bekennen uns dabei zu der Verantwortung jedes einzelnen, die keiner dem andern abnehmen kann. Wir gedenken an all das äußere und innere Elend, das aus der Aufspaltung unseres Vaterlandes erwächst und sehen in dieser Stunde die Gewissensnot, die vor allem für unsere jungen Menschen daraus kommen kann, dass zwei Armeen in Ost und West aus Deutschen gebildet werden sollen. In dieser Lage erinnern wir alle, die Regierenden und die Regierten, an das Wort Gottes, wie es durch den Mund des Propheten Jeremia zu uns kommt: »Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt und hält Fleisch für seinen Arm und mit seinem Herzen vom Herrn weicht. Gesegnet aber ist der Mann, der sich auf den Herrn verlässt und des Zuversicht der Herr ist.« (Jeremia 17, 5 und 7).130

Im Namen des Gekreuzigten, durch den Gott uns mit sich selbst versöhnt hat, bitten wir: Lass auch unter uns Menschen Versöhnung den Sieg gewinnen! Im Namen des Auferstandenen, den wir als den Fürsten des Friedens bekennen, bitten wir: Tut Taten des Friedens! Widersteht dem Hass und seiner Propaganda! Im Namen des Herrn, der kommen wird, die Welt zu richten, bitten wir: Schafft Gerechtigkeit und beugt nicht weiter das Recht durch Lüge und Gewalt! Im Blick auf unser aller Gewissensnot erklären wir: Wir sind gewillt, vor Gott und Menschen für jeden einzutreten, der seine Entscheidung in der Verantwortung vor Gott unserem Herrn trifft. Das gilt auch für diejenigen, die aus Gründen des Gewissens glauben, sich an einem Krieg und seiner Vorbereitung nicht beteiligen zu dürfen. Wir rufen alle Gemeinden auf, in Buß- und Bittgottesdiensten die ganze äußere und innere Not vor das Angesicht dessen zu bringen, der allein helfen kann. Bei ihm allein ist die Gnade und das Gericht. Wir wagen es, alle Brüder und Schwestern in der Christenheit der ganzen Welt zu bitten, sich mit uns in der Buße und im Flehen für den Frieden der Welt zu vereinigen (Aufruf der Generalsynode der EKU zu einem Buß- und Bittgottesdienst am 15. Mai 1952)«.

»Die Synode bekennt sich zu der vergebenden Langmut Gottes, der seinen Menschen auch in den notvollen Verhältnissen das Leben schenkt und erhalten will bis an den Tag, an dem Er selbst die Welt und Geschichte an sein Ziel bringt. Darum verwirft die Synode alle Massenvernichtungsmittel und alle Versuche, sie durch irgendeinen Zweck rechtfertigen zu wollen. Durch die Massenvernichtungsmittel wird in jedem Falle verraten, was man retten will, und seien es Freiheit und Frieden. In ihrer Mitverantwortung für den Frieden in der Welt und für die Heilung des Risses, der durch unser Volk geht, warnt die Synode nicht nur vor einer Fortsetzung des selbstmörderischen, atomaren Wettrüstens der Weltmächte, sondern insbesondere auch vor einer atomaren Bewaffnung deutscher Armeen. Sie warnt jeden einzelnen in dieser Sache durch Beteiligung, Verharmlosung oder Gleichgültigkeit vor Gott und an den Menschen schuldig zu werden (Aus: »Warnung vor dem Missbrauch der Macht des Menschen im technischen Zeitalter«, Beschluss der Synode der EKU vom 6. Dezember 1957)«.

In der täglichen Praxis werden die im Vorstehenden unterschiedenen drei Problemkreise oft, wenn auch nicht immer, mehr oder weniger ineinander fallen. Die Unterscheidung sollte uns dazu helfen, bei der Prüfung unserer politischen Entscheidungen jeweils Klarheit darüber zu gewinnen, aus welcher Richtung her unsere Anfechtung kommt und welche Gestalt unser Gehorsam jeweils zu haben hat.

III. Unser Beruf in der sozialistischen Gesellschaft.

a.

Unser Verhalten inmitten der revolutionären Umgestaltung der sozialen Verhältnisse (»Entwicklung zum Sozialismus«) hat zwei Irrwege zu meiden:

Einmal: Wir müssen uns entschließen, Gegebenheiten, an denen wir nach unserer Einsicht auch in absehbarer Zeit nichts ändern können, in der Gelassenheit des Glaubens zu akzeptieren als den Boden, den uns Gott zu neuer Bewährung und Erprobung unseres Gehorsams heute zuweist. Dazu gehört es, sich von Illusionen frei zu machen, die durch Wunschbilder die historische Situation verdecken und durch grundlose Erwartungen einer plötzlichen Veränderung den heute geforderten Gehorsam verhindern. Ebenso ist uns ein Pessimismus verboten, der von vornherein nicht damit rechnet, dass wir auch in diesen neuen, sich laufend wandelnden Verhältnissen irgendwelchen Raum zum Existieren und gehorsamen Handeln haben, wie nun auch die Bedingungen und Folgen dieses Gehorsams sein mögen.

Sodann: Andererseits müssen wir uns davor hüten, dieses nüchterne Hinnehmen von Gegebenheiten neuer sozialer Lebensformen (Volkseigene Industrie, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, Handwerkergenossenschaften, Handelsorganisations- und Konsumläden, Polikliniken und Ambulatorien usw.) mit einer Geschichtsphilosophie oder gar mit einer pseudochristlichen Ideologie zu vertauschen. Wie wir nun auch im einzelnen Wert und Unwert, Vernunft und Unvernunft dieser neuen Formen beurteilen: letztlich wissen wir nicht, wohin nach Gottes Plan die »Entwicklung zum Sozialismus« führt und was sie letztlich für unser Volk und die Menschheit bedeutet. Es ist auch eine Verfälschung der Botschaft der Liebe und des Friedens, wenn man sagt, dass gerade diese Entwicklung zum Sozialismus dem Evangelium gemäß sei und uns besonders gute Möglichkeiten, vielleicht sogar erst die rechte Möglichkeit für die Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe oder zur Verwirklichung der Botschaft des Friedens gäbe.

b.

Unsere Freiheit in Christus erlaubt uns die Bereitschaft in diesen neuen gesellschaftlichen Formen zu leben, sodass wir uns gegen ihre Durchsetzung – wo es ohne Sünde geschehen kann – nicht trotzig sperren und uns nicht an die bisherigen Besitz- und Berufsverhältnisse klammern. Es ist uns geboten, auch in neuen, uns ungewohnten, oftmals beschwerlichen und auch Opfer und Verzicht erzwingenden Formen willig und aktiv mitzuarbeiten, um die Ernährung zu sichern, die Industrieproduktion zu halten und zu steigern, die Erzeugnisse zu verteilen, Häuser zu bauen, den Kranken zu helfen, die Gerichte bei Findung des Rechtes zu unterstützen und also in summa alles zu tun, damit Menschen auch in einer sich ändernden Umwelt in Frieden und Ordnung leben können und jeder das Seine erhalte. Bei dieser Mitarbeit ist Folgendes zu bedenken:

Erstens: Ungeachtet des ideologisierten Gesellschaftssystems wie seiner Methoden sind wir zunächst zur schlichten, treuen und fleißigen Arbeit in unseren Berufen und an unserem Arbeitsplatz verpflichtet, sei es nun als noch selbstständiger Bauer, Kaufmann, Handwerker, Unternehmer, Arzt usw., sei es als Glied einer der neuen sozialistischen Berufsgemeinschaften. Den Raum zur Erfüllung dieser einfachen und selbstverständlichen Mahnung gilt es für jeden ganz zu besetzen und sich durch nichts in diesem Berufsethos beirren zu lassen. Ohne Rücksicht auf die ideologische Kommentierung unserer Berufsarbeit haben wir das Unsrige nach Gottes Willen zu tun. Die Grundlage unserer Berufsarbeit ist Gottes Schöpfer- und Erhalterwille und nicht ihre ideologische Deutung. Zu solchem Tun ist zu ermutigen.

Zweitens: Andererseits ist einfach festzustellen, dass sich der Zugang zu einzelnen Berufsarten – z. B. Offizier in der Volksarmee, Funktionär in der SED und anderen Parteien, höherer Funktionär in vielen Organisationen – für Glieder der christlichen Gemeinde verschlossen hat oder – z. B. Angehöriger des Staatsapparates von einer gewissen Ebene an, Student und Dozent mancher Fakultäten und Fachschulen, Lehrer und Pädagogikstudierender – allmählich verschließt. Wir leiden darunter und meinen, dass dieser Ausschluss bzw. seine Voraussetzungen auch nicht im Interesse einer Konsolidierung unseres Staates liegt. Aber wir müssen bereit sein, für uns selbst und unsere Kinder heute die Tatsache zu ertragen, dass sich manche Berufswege für uns verschließen, sei es, dass dieser und jener Beruf einen beherrschenden ideologischen Charakter mit entsprechenden Anforderungen erhalten hat, der ihn für einen Christen unmöglich macht, sei es, dass eine Behinderung von außen erfolgt. Zugleich haben wir junge Menschen der Kirche zu warnen, sich trotzdem derartige Berufe zu wählen und dabei ihre eigne geistliche Widerstandskraft zu überschätzen.

Drittens: Nun tragen die allermeisten Berufe in der DDR einerseits den Charakter einer gewissermaßen zeitlosen Hand- oder Geistesarbeit, andererseits das Vorzeichen einer ideologischen Einordnung, ohne dass es möglich wäre, aufgrund des zu Tuenden von vornherein eine klare Scheidung vorzunehmen. Zwischen – z. B. – dem Straßenkehrer auf der einen und dem hauptamtlichen Propagandisten für den Marxismus auf der anderen Seite liegt die Masse der ausgeübten Berufe und Tätigkeiten, bei denen Berufserfüllung mit ideologischer Akklamation vermischt sind. Die Lage kompliziert sich noch dadurch, dass fast jedermann über seine Berufsarbeit hinaus im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit zu einer gesellschaftlichen Mitarbeit aufgefordert, ja genötigt wird, bei der die ideologische Akklamation oft ein vorherrschendes Moment ist.

Viertens: Wir haben davon auszugehen, dass mit Ausnahme der kleinen Zahl kirchlicher Mitarbeiter und Amtsträger alle berufsmäßigen Gemeindeglieder nicht nur in diesen erwähnten Berufen tätig sind, sondern auch gesellschaftliche Mitarbeit leisten, darunter viele Parteimitglieder, Lehrer, Studenten, Staatsfunktionäre usw. Aus welchen Motiven und Gründen sie sich z.Z. für ihr Mitmachen entschieden haben: heute finden wir sie als Glieder der christlichen Gemeinde vor. Wir haben die Problematik dieser unserer Berufssituation nicht zu übersehen und nicht zu verharmlosen. Die rechte Seelsorge muss gegenüber diesen Unzähligen wach sein, wo immer in ihnen der Glaube versucht ist und das Gewissen unruhig oder auch schläfrig wird.

c.

1. Was haben wir zu raten und zu tun? Einerseits haben wir der Versuchung zu widerstehen, der Problematik dieser beruflichen Existenz dadurch zu entfliehen, dass wir grundsätzlich die Vereinbarkeit von Berufserfüllung und jener Akklamation im Zusammenhang mit Arbeitsplatz und Berufstätigkeit proklamieren und praktizieren. Andererseits haben wir davor zu warnen, jene Berufsproblematik, die überall mit dem Glauben in dieser Welt der Sünde und des Todes gegeben ist, als auf unsere Berufstätigkeit unter dem Marxismus beschränkt zu sehen und zu meinen, wir könnten jener Grundproblematik durch Flucht in den Westen entgehen. Dort werden wir, wenn auch in anderen Formen, in der entsprechenden notvollen Lage sein und um den schmalen Weg des Gehorsams in unseren Berufen ringen müssen. Ebenso aber müssen wir alle davor warnen, diese »Berufsakklamation« mit ständig schlechtem Gewissen zu vollziehen und sich ständig mit dem Gedanken darüber hinweg zu trösten, dass dafür ja die Vergebung Gottes gleichsam en bloc und ein für alle Mal gelte.

2. Vielmehr müssen wir erkennen und entsprechend raten und handeln, dass wir in all unseren Tätigkeiten einen Weg zu gehen haben, der von der Bindung und Knechtung durch ideologische Götzen und ihre Verehrung, von Furcht, Sorge und Ansprüchen weg und hin zum Vertrauen auf den Vater Jesu Christi führt, der der rechte Vater aller seiner Kinder ist. Ein jeder wird an einem verschiedenen Punkt dieses Weges angelangt sein, Weg und Wegrichtung aber sind dieselben. Jeder hat sein Maß des für ihn heute erkennbaren Bösen und Guten, alle aber sind gemahnt, dem Herrn treu zu sein und sich um bessere Erkenntnis des zu Tuenden zu bemühen.

Dabei wird sich unsere Aufmerksamkeit nach zwei Seiten zu richten haben: wir werden uns darum mühen müssen, den mit uns zusammenarbeitenden Menschen menschlich zu begegnen und sie nicht als Objekte, Nummern, Rädchen und bloße Arbeitskräfte zu behandeln oder behandeln zu lassen. Das muss sich auch dann bewähren, wenn ein Berufskollege zur Kritik gestellt und zur Selbstkritik genötigt wird. Die menschliche Würde und Selbstachtung des anderen muss uns genau so kostbar sein wie die eigene. Mit der gleichen Sorgfalt aber werden wir uns bemühen müssen, die mit unserer Tätigkeit gegebenen sachlichen Aufgaben und Verantwortungen in aller Treue, aber auch mit Unerschrockenheit anzupacken und diese Sachtreue durch keine anderen Rücksichten verraten. Was wir in unserer Tätigkeit als vernünftig, sachgemäß, zweckmäßig erkannt haben, ist auch dann zu vertreten, wenn damit unsere Berufsstellung möglicherweise als gefährdet erscheint. Wir haben dabei zu bedenken, dass ohne diese Sachtreue unserem evangelischen Zeugnis im Betrieb und in den Büros die Türen wohl verschlossen bleiben werden, das wir doch in unseren Tätigkeiten dort letztlich zu geben haben. Das einfache Berufsethos, das von so vielen Nichtchristen vorbildlich gelebt wird, gehört auch für uns zum unaufgebbaren Bestandteil unseres beruflichen Handelns in den neuen wie in den alten Gesellschaftsformen.

d.

1. Obwohl wir meinen, dass wir Christen in der DDR die Freiheit haben, auch in den neuen gesellschaftlichen Formen zu leben und also die Entwicklung zum Sozialismus zu akzeptieren und zu respektieren, ist damit die brennende Frage vieler Einzelbauern, Handwerker, Unternehmer, Kaufleute u. a. noch nicht beantwortet, ob nun dieser bestimmte Einzelne heute in die LPG oder HPG eintreten oder um eine Staatsbeteiligung bitten, einen Kommissionsvertrag abschließen oder sich in einen HO-Angestellten umwandeln solle oder nicht. Obwohl unsere Staatsführung keinen Zweifel darüber lässt, dass im Lauf der kommenden Jahre die Sozialisierung restlos durchgeführt werden wird und diese durch Propaganda wie durch administrative Maßnahmen planmäßig vorangetrieben wird, bleibt doch in vielen Fällen dem Einzelnen bald ein weiterer, bald ein engerer Spielraum der Entscheidung. Zwar fällt sie nicht zwischen bleibender privatwirtschaftlicher Existenz und Anschluss an ein Kollektiv, sondern nur zwischen dem Anschluss heute und dem Anschluss morgen bzw. übermorgen. In den vergangenen Jahren haben sich viele den Kollektiven deshalb versagt, weil sie immer noch hofften, dass mit einer in absehbarer Zeit erfolgenden Wiedervereinigung und Wandlung unserer gesellschaftlichen Formen sich das Risiko und die manchmal übergroßen Sorgen und Mühen beim Erhalten des eigenen Besitzes (Landwirtschaft, Geschäft, Unternehmen) gelohnt haben würden. Aber wenn nun heute diese Erwartung wohl bei allen sehr viel geringer geworden oder ganz geschwunden ist, so ringen doch gerade ernste Christen in diesen Berufsständen noch mit einer Reihe von Einwänden, die sie an der Aufgabe ihres Besitzes u. U. hindern und etwa lauten:

aa) Haben wir nicht – auch wider alle vernünftige Abschätzung der politischen Situation – unter allen Umständen die Pflicht, das Ererbte und Erarbeitete unseren Kindern zu erhalten?

bb) Die relative Bewegungsmöglichkeit in unseren bisherigen Berufen, die, wenn auch begrenzte Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, Zeit, Kräfteeinsatz, die eigne Planung, Gestaltung, das eigne Risiko und der unmittelbare und direkte Zusammenhang zwischen dem eignen Vorteil und der eignen Arbeitsintensität (der so direkt und unmittelbar weder bei bisherigen Angestellten und Arbeitern noch bei den Gliedern der neuen Genossenschaft sichtbar ist), die (vor allem in der Landwirtschaft, dem Handwerk und bei Kaufleuten gegebene) Einheit von Familien-, Arbeits- und Wohngemeinschaft und schließlich die gewohnte und erprobte Lebensform, die man einmal gewählt hatte und mit der man, je älter man ist, sehr innig verwachsen ist: alle diese Gründe hemmen wohl viele am Eintritt in die neuen Kollektive.

cc) Immer wieder hören wir von diesen noch Selbstständigen, dass die neuen Kollektive einfach unter dem Gesichtspunkt ihrer Arbeitsleistung, ihrer Erfolge, ihrer Zweckmäßigkeit, Rentabilität sie nicht zum Beitritt reizen: kein geeigneter Leiter, zu wenige Maschinen und Arbeitskräfte, mangelhafte Planung der Arbeitsvorgänge, geringerer Verdienst im Vergleich zu bisher u. a.m. Dies alles wird dann in derartigen Gesprächen in Gegensatz zu dem bisher gut geleiteten eignen Betrieb gebracht. Schließlich wird auch ausgesprochen, dass die Initiative und der Einsatz aller Kräfte bei den Genossenschaftsmitgliedern in gar keinem Vergleich zu dem Maß des Einsatzes in Privatbetrieben stände und man Sorge habe, in einen solchen Ungeist mitgerissen zu werden.

dd) Es gibt auch einige unter diesen Berufsangehörigen, die, verantwortlich für das Ganze denkend, sich fragen, ob sie nicht ihren Betrieb halten sollten, weil sie die Hoffnung nicht aufgäben, dass ihr Beispiel und Aushalten zu gewissen, wenn auch nur kleinen Korrekturen in der Anlage, dem Aufbau, den Methoden, dem Tempo der Umwandlung, zu Zugeständnissen in der Bewegungsfreiheit der Wirtschaftseinheiten usw. zum Nutzen und Vorteil der Gesamtwirtschaft der DDR einmal führen könne.

ee) Wir treffen auch fromme oder doch kirchliche Gemeindeglieder, die sich davor fürchten, in den neuen Kollektiven unter die Kontrolle einer weltanschaulichen Schulung und Propaganda zu geraten, der geistig und geistlich zu widerstehen sie nicht stark genug seien. Diese Sorge kann sich auch auf die in dem betr. Privatbetrieb Beschäftigten erstrecken, mit denen gerade in kleinen Betrieben, vielfach ein ausgezeichnetes menschliches Verhältnis besteht, das durch den Beitritt zu einem Kollektiv ein natürliches Ende findet.

ff) Für wahrhaftige Menschen mit einem feinen Gewissen, die es gottlob in diesen Berufsständen auch gibt, ist es auch bedrückend, dass sie, wenn sie nun aus Zweckmäßigkeitsgründen aufgrund der uns von außen gesetzten Bedingungen in ein Kollektiv gehen, dies offiziell, vielleicht sogar in der Presse genannt, freiwillig tun, als ob sie innerlich von der Überlegenheit und größeren Qualität dieser Kollektive überzeugt worden seien. Auf der anderen Seite ist es ebenso bedrückend, dass mitunter in der Presse der oder jene Inhaber eines Privatbetriebes angeprangert wird, weil er – etwa als letzter Bauer seines Dorfes – immer noch nicht beigetreten sei. Auch die Handhabung der Steueranordnungen und Wirtschaftsgesetze gegen diese Berufsgruppen gehört zu den Erscheinungen, die die Freiwilligkeit ihres Beitritts stark einschränken.

2. Wenn wir überhaupt fragen, was wir in diesen Situationen raten, helfen und tun sollen, so sind wir uns bewusst, dass wir in einer Staatsordnung leben, die die Verantwortung, Planung und Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuordnung in geschlossenen Führungsgremien lokalisiert hat, die eine öffentliche und geschlossene Opposition gegen ihre Entscheidungen nicht zulassen, sondern das Für und Wider im Großen und Kleinen unter sich abwägen. Wir können auch annehmen, dass sich diese Gremien der genannten Einwände und Schwierigkeiten wenigstens z. T. bewusst sind, nur werden sie von ihnen anders eingeordnet und gewertet. Unsere eigne freie Mitverantwortung an diesen Grundentscheidungen ist also eine sehr begrenzte. Unsere Freiheit, die wir gehorsam praktizieren müssen, besteht aber u.E. in folgendem:

aa) Die Angehörigen dieser vor allem betroffenen Berufsgruppen sollen in der Gemeinde Brüder und Schwestern haben, bei denen sie sich aussprechen können, damit sie Gottes Weg mit ihnen erkennen und gehen. In brüderlichem Gespräch muss darum gerungen werden, die verschiedenen Verantwortungen in ein rechtes Verhältnis zueinander zu setzen. Es muss klar werden, wo Motive und Bindungen an den bisherigen Berufsstand sind, die preisgegeben werden können in der Art der Urchristenheit, der gesagt wird: »Ihr habt den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet.« Es muss um die nüchterne Einschätzung des uns heute Möglichen und Realisierbaren gerungen werden. Es muss der konkrete Punkt gesucht werden, wo für den Einzelnen sein Gehorsam erkennbar und möglich wird: Wohl allen, die Opfer und Verzicht aus Gottes Hand annehmen und einen Weg gehen, dessen Sinn sie –zunächst – nicht einsehen. Es ist zu fragen, welche Entscheidungen der Einzelne zu fällen hat, damit er nicht eines Tages fliehen wird, sondern hier in der DDR bleiben kann. Jeder muss die Chancen abschätzen, die ihm bei einer Weigerung gegeben sind. Vor Illusionen politischer Art ist zu warnen, auch wenn wir keine letzten Prognosen aufstellen können und wollen. In allem sollen die Brüder und Schwestern dieser Berufsgruppen erfahren, dass Gottes Wort unter uns den freien Raum schafft, diese Nöte miteinander so zu erörtern, dass sie Menschlichkeit und Ehrerbietung unter uns erleben.

bb) Es wird uns in der Presse laufend erklärt, dass die Kollektivarbeit ein neues Ethos erfordert, ja voraussetzt, wenn sie erfolgreich sein soll. Da wir um die Bosheit unseres Herzens und alle daraus folgenden Trägheiten, Egoismen, Halsstarrigkeiten und Müdigkeiten wissen, werden wir in Beurteilung des Ausmaßes und des Tempos, in denen dieses neue Ethos erreicht werden kann, sehr viel zurückhaltender sein als viele andere. Wir müssen aber insofern beistimmen, als wir durch unseren Beitritt zu den Kollektiven zu einer neuen Gestalt unseres Gehorsams herausgefordert werden und uns dieser Herausforderung auch zu stellen haben. Wir sind frei dazu, nun die bisherige Initiative, Anstrengung unserer Phantasie, den gewohnten Fleiß und die in Fleisch und Blut übergegangene Treue in der Ausführung des uns Angehenden in die Kollektive mit hinüber zu nehmen und entsprechend ihrer Struktur in eine neue Gestalt zu übersetzen, auch wenn das besonders im Anfang schwer oder kaum ausführbar erscheint. Eine ethische Kapitulation, die vielleicht trotzig sagt: »Ich gehe nun zwar in das Kollektiv, weil mir nichts anders übrig bleibt, und tue, was mir befohlen wird – aber keinen Strich mehr« ist mit dem Glauben und Gehorsam unvereinbar, so menschlich verständlich sie auch ist. Selbst die Sklaven der römischen Gesellschaftsordnung hat das Neue Testament innerhalb ihrer unendlich harten Situation zu einer freien und freudigen Aktivität aufgefordert, ohne Murren und Resignation. Unsere Menschlichkeit, so sehr sie heute vielen durch das Kollektiv bedroht erscheint, können wir letztlich nur verlieren, wenn wir sie selbst wegwerfen. Wort und Glaube sind stärker als jede dieser Bedrohungen. Wenn wir dem grundsätzlich widersprechen, widersprechen wir allen Verheißungen unseres Herrn selbst. Wir können auch nicht einsehen, warum die Neueintretenden ihren Glauben verlieren müssten – die meisten Bürger der DDR sind ja nicht in freien Berufen tätig und müssen sich in ähnlicher Lage bewähren –, sondern wir meinen im Gegenteil, dass angesichts der zahlreichen Anfangsschwierigkeiten der neuen Kollektive unser Fleiß, unsere Einsatzbereitschaft, unsere Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, unser menschliches Verhalten, unser Wille zu einem neuen Ethos (das ja über alles von politischer Seite Geforderte weit hinaus gehen soll) unserem Wort und Glauben eine neue Chance geben. Wir sollen Gott darum bitten, dass die neu hinzutretenden Christenmenschen in das Zusammenleben in den Kollektiven die Achtung voreinander, die gegenseitige Hilfe und ein Stück notwendige innere Zucht und Ordnung hineingeben werden, die Gott gefallen und den anderen, solange sie vernünftig urteilen, nicht missfallen können. Ob aus solcher Hineingabe einmal eine auch äußere Umgestaltung der Kollektive erfolgt, die vielleicht noch besser unserer überkommenen Art entspricht und wirtschaftlichen Tatsachen mehr Rechnung trägt, wissen wir nicht. Aber das sollten wir Gott überlassen.

Wir wissen, dass Seelsorge und Entscheidung in vielen einzelnen Fällen vor Ratlosigkeit nicht aus noch ein wissen. Zweierlei sollte unter uns nicht geschehen: dass irgendwelche Nöte und Fragen dieser betroffenen Menschen übersehen, wegdisputiert oder verharmlost werden – denn dann würde die Unmenschlichkeit in unsere Mitte einziehen – und dass wir nicht den entschlossenen Versuch machten, in dieser Berufsnot Weisung und Trost aus dem Evangelium miteinander zu finden, zu unserem ewigen Heil, aber auch zur Erringung des irdischen Lebensraumes.

IV. Unsere Mithilfe bei der Aufrichtung und Findung des Rechtes.

In jedem Staat, und also auch in der DDR, sind wir verpflichtet, für die Aufrichtung des Rechtes zu sorgen, damit der Willkür gewehrt, die Schwachen geschützt, die Menschenwürde des Einzelnen gewahrt, die Wohltat der göttlichen Anordnung in Form der staatlichen Behörden und Gerichte nicht zerstört und nicht ein Chaos herbeigeführt wird. Diese Mitarbeit findet ihre besondere, jeweils begrenzte Gestalt dadurch, dass wir in verschiedenen Staatsformen leben, die ein verschiedenes Rechtsverständnis und eine sehr verschiedene Rechtspraxis haben, denen wir mitunter weitgehend, mitunter nur in geringerem Maß zustimmen können. Das Maß dieser Gutheißung wird zeitlich verschieden, es wird auch in einem und dem gleichen Staat zur selben Zeit unter uns nicht gleich sein. Die Forderung zur Mithilfe dagegen ist unwandelbar. Wo die Gerichte echtes Recht sprechen und wo gerechte und billige Gesetze tatsächlich in Kraft stehen, hat Gott, der Erhalter, sein Wunder gegen unsere böse Natur getan. Wir sollen Ihn bitten, uns Männer zu senden, durch die er diese Wunder des Alltages tut, seien sie Christen oder Atheisten. Wir selbst aber sollten uns mehr mühen, bei diesem Wunderwerk Gottes mit tätig zu sein. Unter den gegebenen Verhältnissen unseres Staatswesens und unter Respektierung seiner Gesetze und Gerichte, sehen wir heute für uns vor allem folgende Möglichkeiten, das Recht mit aufrichten zu helfen:

a) Wir haben durch williges Ertragen von allerlei Unrecht – unbeschadet aller sorgfältigen Bemühung dem Unrecht zu wehren – und ohne Murren und Resignation zu bezeugen, dass wir auch dann am Recht als Gegenstand staatlichen Auftrages festhalten, wenn uns in concreto dieses Recht vorenthalten wird. Durch den Verzicht darauf, an der Rechtssetzung und Rechtsfindung eines Staates zu resignieren oder Unrecht mit Unrecht zu begegnen, ist die christliche Gemeinde von jeher ihrem gekreuzigten Herrn gehorsam gewesen und hat zugleich ihren Beitrag zur Aufrichtung des Rechtes geleistet.

b) In der eignen Mitte (in der Gesamtkirche, in Gemeinden und Werken, Familien, Berufen und am Arbeitsplatz) haben wir vorbildlich für unsere gesellschaftliche Umwelt danach zu trachten, dass ein jeder zu seinem Recht kommt, dass sich die Leitenden als Diener verstehen, dass alle, die jeweils zu sagen haben, in ihrem Auftrag respektiert werden, dass Zucht unter uns geübt wird und gegenseitige Liebe alles Recht erträglich macht. Hier bieten sich uns große, weithin noch nicht erschöpfte Möglichkeiten, um durch ein solches Verhalten zugleich mitzuhelfen, dass Vorbilder einer Rechtsordnung und Rechtshandhabung entstehen, die eine Weiterwirkung in das politische Rechtsleben haben werden, wo und wann Gott es will.

c) Schließlich können wir in allen Berufen dreierlei tun:

Erstens: Wir haben mit unserem Wort und mit der Tat für die einzutreten und denen zu helfen, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen besonders hart betroffen sind, die eine besondere Last aufgeladen bekommen, deren Existenz infrage gestellt ist oder die in Untersuchungshaft oder Zuchthaus sind.

Zweitens: Sodann haben wir nach dem Maß des Möglichen und je nach unserem Beruf zu versuchen, bei den staatlichen und sonstigen Stellen die Bereitschaft zu wecken Härten zu mildern, neue Existenzmöglichkeiten zu gewähren, unbillige Methoden der Rechtsprechung und Untersuchungshaft zu vermeiden und offenbares Unrecht wieder gut zu machen.

Drittens: Wir sind verpflichtet, auch wenn wir dabei nur einen bescheidenen Spielraum haben sollten, darauf hinzuarbeiten, dass in unserem Staat die Rechtssicherheit des Einzelnen gegen Willkür gemehrt und die Tendenz zur Schaffung von festen Rechtsordnungen und präzisen Gesetzestexten verstärkt wird, in deren Schutz die Einzelnen in Familie, Beruf und Gesellschaft ein Mindestmaß von Freiheit zur Wahrung menschlicher Würde behaupten können.

Wir werden uns mitfreuen, wo immer und von wem immer Recht geübt wird, unbeschadet aller ideologischen Begründungen. Da wir glauben, dass Gott selbst der Hüter des Rechtes ist und bleiben wird, werden wir erwartungsvoll und darauf gespannt sein, dass Er auch in unserem Staat sein Werk tut, ohne uns Illusionen darüber zu machen, dass wir der marxistischen Rechtstheorie nicht beistimmen können (ohne damit eine andere säkulare Rechtstheorie widerspruchslos zu vertreten), und dass wir mit Sorgen sehen, dass oftmals eine politische Rechtsprechung die echte Rechtsfindung beeinträchtigt.

V. Republikflucht?

Eine besondere Probe darauf, ob und inwieweit wir bereit sind, hier in der DDR den schmalen Weg des Gehorsams Christi zu gehen, ist endlich immer wieder an alle dem zu bestehen, was sich im Stichwort der Republikflucht zusammendrängt. Zwar ist jedenfalls mit der Möglichkeit zu rechnen, dass eines Tages eine »Absetzung« nach Westberlin bzw. von da in die Bundesrepublik überhaupt nicht mehr durchführbar sein wird. Jedoch wäre auch dann, wenn durch eine staatsgesetzliche oder völkerrechtliche Maßnahme diese (politisch gesehen) letzte Lücke im System hermetisch geschlossen würde, die Frage, die uns mit unzähligen Christen und auch Nicht-Christen seit Jahren umtreibt, keineswegs einfach erledigt. Die Bevölkerung spürt, wenn dergleichen in der Luft liegt. Es könnte sein, dass dann – sozusagen 5 Minuten vor 12 – eine neue Welle der Republikflucht einsetzt, wie wir deren schon mehrere notvoll miterlebt haben. Es könnte auch sein, dass dann plötzlich sogar Wohnungen von Amtsträgern der Kirche leer stehen, bei denen wir nicht im entferntesten daran gedacht hatten, dass sie diesen Weg einmal gehen würden. Wie sollen wir dann damit fertig werden? Was sollen wir dann den Gemeinden sagen? Und wie werden wir selber uns dann hier zurechtfinden, wenn jener heimliche Gedanke, im allerletzten Fall bleibe ja immer noch dieser Weg, unwiderruflich ausgeräumt ist – nicht durch Glaubensentscheidung, sondern durch die äußeren Fakten!? In den anderen Volksdemokratien ist dies schon lange der Fall. Die Christen dort haben Erfahrung darin, sich unter solchen Definitiva auf den Weg des Herrn zu besinnen. Wir nicht. Was werden wir tun? Was kommt hier – nun unter dem Worte Gottes gesehen – auf uns zu?

Nun sind wir zwar nicht der Meinung, unser Denken müsse sich an der Möglichkeit der angedeuteten Entwicklung fixieren. Doch ist uns deutlich, dass die Frage, die sich dann – u. U. – stellt, nur eine Abwandlung derjenigen sein würde, vor der wir im Grunde auch heute schon stehen. Bemühen wir uns also darum, aus dem lebendigen Wort Gottes herauszuhören, was es uns zu dieser Sache ermächtigend und weisend sage, so werden wir (im Akt des einen Hörens auf das eine Wort) Folgendes zu unterscheiden haben:

a) Solange das Problem der Republikflucht im engeren (leiblich-räumlichen) Sinn noch akut ist, haben wir es bei ihm nicht nur mit der Glaubens- und Gehorsamsfrage »Bleiben oder Gehen« überhaupt zu tun, sondern auch mit einer äußersten Konkretion der Frage nach dem Verhalten der Christen gegenüber der Gesetzlichkeit der DDR.

b) Sollte das Problem der Republikflucht aber wirklich einmal nicht mehr in diesem Sinne akut sein, so rückt desto mehr in den Vordergrund, was zwar auch und gerade schon in der bisherigen Situation mitzusehen ist, bislang aber im Hintergrund steht, nämlich die Frage nach dem inneren Auswandern einerseits oder der freien Bejahung des Hierseins andererseits. Das also wäre die Frage nach der gläubig-gehorsamen Annahme des Lebens aus Gottes Hand, sei es, dass man sich der konkreten Situation noch entziehen, sei es, dass man dies nicht mehr tun kann.

c) Bei all dem ist weiterhin zu bedenken, dass Gottes Mandate – obwohl als seine Mandate in ihm alle eins, ja auch im Menschen (wenn mehrere an ihn ergehen) sich treffend – verschiedene sind und z. B. der gemeindliche Auftrag mit dem an der Familie in Konkurrenz kommen kann. Damit rückt uns die Frage nach dem »Kompromiss« (u. U. bis hin zum Bestehen letzter Aporien) – vgl. u. zu VII – besonders zu Leibe.

d) Und endlich macht – zunächst sachlich und dann auch seelsorgerlich – beträchtliche Unterschiede aus, an welchen Punkten sich eine Lebensgeschichte hinsichtlich der Republikflucht befindet, also z. B. ob ich es mit einem Menschen zu tun habe, der sie zwar erwägt, aber doch eigentlich (aus welchen Gründen?) verwirft, oder mit einem, der sie versucht hat, aber daran gescheitert ist und nun im Gefängnis sitzt oder seinen Prozess erwartet, oder mit einem, dem sie »geglückt« ist, dem gegenüber ich aber deswegen noch längst nicht aus meinem seelsorgerlichen Auftrag entlassen bin, usf.

Besonders schwierig wird die Frage dadurch, dass sich in den konkreten Fällen stets mehrere dieser (in der Sache liegenden) Differenzierungen zu jeweils neuen Situationen verbinden. Das dürfen wir, wenn wir wirklich am Mann bleiben wollen, zwar nicht verwischen. Doch dürfen wir diesen Mann auch nicht mit sich selber allein lassen.

a) Das Verhalten gegenüber der Gesetzlichkeit der DDR.

Das äußere Faktum ist zzt. jedenfalls dies, dass zwar ein Verlassen des Staatsgebietes der DDR ohne die hierfür vorgesehene Personalbescheinigung durch Gesetz verboten ist, die staatlichen Maßnahmen und Überwachung der Einhaltung dieses Gesetzes jedoch nicht so lückenlos oder so rigoros sind, dass eine Übertretung dadurch völlig unmöglich gemacht würde. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dies mit Wissen der Regierung geschieht, ebenso wenig aber auch daran, dass im Sinne des Gesetzgebers dieses Offenbleiben von Lücken nicht einen juristischen Freipass zu ihrer Benutzung bedeutet. Nun kann man dieses ungewöhnliche Verhältnis von gesetzlich-eindeutiger Beschränkung der Bewegungsfreiheit einerseits und praktischer Relativierung derselben andererseits verschieden aufnehmen. Man kann z. B. sagen: das hängt natürlich mit dem Viermächtestatus von Berlin zusammen, der jedenfalls zzt. noch in Kraft steht; hier kann also wirklich einmal die staatliche Gesetzlichkeit nicht ganz absolut sein; es ist die Freundlichkeit Gottes, die uns bislang diese Lücke noch offen hält, – und dann den Schluss ziehen: ist es nicht also geradezu ein Wink Gottes, noch schnell durch diese Lücke zu schlüpfen, bevor er sie (vielleicht sehr bald) sich schließen lässt? Andere denken vielleicht: das ist gerade wieder bezeichnend für unsere Situation; mit der Drohung der gesetzlichen Strafen werden die Menschen hier festgehalten, und angesichts der nicht lückenlosen Kontrolle haben diejenigen, deren Verbleiben hier unerwünscht ist, noch eine knappe Möglichkeit, die DDR zu verlassen; gehen sie nicht, so stehen sie in Gefahr bei späterer Gelegenheit verhaftet zu werden, gehen sie wirklich, so kann ihnen das schon dabei widerfahren; das ist die Lage, in der ich leben soll, das ist die Lage, die mir sogar noch meine Kirche als Lebensraum aus Gottes Hand anempfiehlt – ich aber kann darin nur ein unerträgliches Spiel mit den Menschen sehen; ich kann hier nicht bleiben, ich gehe, koste es, was es wolle. Wiederum andere könnten die Lage zwar ähnlich diagnostizieren, aber im Endeffekt sagen: ich denke ja gar nicht daran, mir hierdurch imponieren zu lassen, ich bleibe trotzdem.

Wir sind der Überzeugung, dass keine dieser drei oder ähnlicher, etwa noch denkbarere Reden aus dem Wort Gottes im Glauben geredet wären und dass wir, wo wir etwa unter Christen solchem Denken und Reden begegnen sollten, dieser Einstellung nachdrücklichst zu widerstehen sei.

Warum und wie?

Erstens deswegen und unter Behaftung dabei, dass in keinem dieser Fälle eine Bereitschaft erkennbar wäre, in der DDR und ihren Organen – wenn auch nicht um ihrer selbst, so doch aber um Gottes Gott-Seins willen – göttliche Anordnung anzuerkennen, der Glaubensgehorsam sich aber gerade auch darin zu bewähren hat, dies auch dann noch zu tun, wenn der alte Mensch in uns sich dagegen auflehnt.

Zweitens deswegen und unter Behaftung dabei, dass solche Gedanken die Einsicht vermissen lassen, dass ein Christ, wenn der Staat wirklich seine Gewalt missbraucht, ihm gerade durch Befolgung seiner Gesetze (»nisi cum iubent peccare« CA XVI) ein Beispiel der Ordnung geben soll.131 Der Glaubensgehorsam hat diese Einsicht nicht nur, sondern befolgt sie auch, und sei es unter dem Kreuz.

Drittens deswegen und unter Behaftung dabei, dass solche sich sehr klug vorkommenden Erwägungen oder auch solche aus geängstetem Gewissen kommende Eruptionen die Situation nicht meistern, sondern vergewaltigen. Hier nämlich wird gar nicht (oder zumindest nicht genügend) daran gedacht, dass es sich bei dem allen doch um die Gesamtnot unseres gespaltenen Volkes handelt. Stattdessen wird (jedenfalls in Endeffekten) alles – so oder so – auf die eine Karte der individuellen Selbstbehauptung gesetzt. Der Glaubensgehorsam in der Nachfolge Christi dagegen gibt das Ich in das Elend der vielen hinein. Mit diesem letzten stehen wir an dem eigentlich entscheidenden Punkt, an dem es nun auch wirklich in concreto zu stehen gilt und von dem aus weiterzugehen uns auch dann noch geboten sein wird, wenn sich wirklich einmal das Problem der Republikflucht im engeren Sinn erledigen sollte.

b) Die gläubig gehorsame Annahme des Lebens aus Gottes Hand.

Es geht um die Frage des Dienstes Christi oder des christlichen Dienstes an den anderen Menschen.

1. Diese Frage richtet sich zuerst an die Hirten der Gemeinden und behaftet sie dabei, ob es denn überhaupt irgendeinen erdenklichen Grund geben könne, der dagegen aufzukommen vermöchte, dass ein Hirte nicht seine Schafe verlassen kann, sondern ganz im Gegenteil nur dann wirklich Hirte ist, wenn er im letzten bereit ist, (sollte es Gott so schicken) für sie auch sein Leben zu lassen (Joh. 10, 11–15).132 Wie sollte er auch überhaupt ihr noch raten, ihrer noch warten und sie beisammen, d. h. bei ihrem Erzhirten, halten können, wenn er selbst schon innerlich aus dem Lande (und damit doch auch aus der Gemeinde) ausgewandert ist oder jedenfalls heimlich schon nach dem Wanderstab greift? Gewiss hängt die Wirkung des Wortes Gottes nicht an der Person seines menschlichen Dieners (vgl. CA VIII133), und sicher ist auch die Frage, ob der Gemeinde damit gedient sei, wenn ihr Pfarrer etwa inhaftiert wird, nicht einfach gegenstandslos (wir werden darauf noch zu sprechen kommen). Doch gilt es, sich hier nicht die Perspektiven verrücken zu lassen. Für den, der im Dienste des Wortes steht, gibt es nur eine oberste Frage: ob er eben dieses Wort dem Volk noch schuldig sei. Wiederum kann es Situationen geben, in denen diese Frage tatsächlich zu verneinen ist (vgl. z. B. Matth. 7,6,10,14,15134). Wir aber können nicht sehen, dass das bei unsern Gemeinden und unserem Volk in der DDR heute so sei, sondern halten im Gegenteil – zwar nicht nach empirischem Urteil, aber um Gottes Verheißung willen – dafür, dass das Feld weiß zur Ernte (Joh. 4,35135) und die wirkliche Frage ganz anders gestellt sei, nämlich danach, ob wir genug Arbeiter zur Ernte haben (Matth. 9, 37,38136). Und ist es nicht gerade die königliche Freiheit eines Dieners des Evangeliums, dass er nicht mehr im Bann des Sehens auf sich selber steht, sondern mit den Augen des Herrn das Volk sehen darf, mit Seinem Erbarmen sich dessen erbarmen und die sammeln darf, die verschmachtet und zerstreut wie die Schafe sind (V. 36)? Hier können wir vorerst nichts, gar nichts nachgeben. Hier muss um jeden Preis das erste das erste bleiben, und hier sind unverrückbar zuerst die Brüder und Schwestern im Wortdienst inständig zu bitten: verkauft nicht das Erstgeburtsrecht der Proklamation des heiligen Namens unseres Gottes in dieser Welt, deren Rettung an Ihm hängt, und täuscht nicht euch selber über die Dimensionen eures Bleibens oder Gehens damit hinweg, dass ja auch »drüben« Gemeinde sei, die das Wort braucht. Sie braucht es wohl. Aber das ist nicht eure Sorge.

2. Des Weiteren aber ist auch allen anderen im kirchlichen Dienst stehenden Schwestern und Brüdern, wo nötig, die Freude an diesem Dienst je neu zu erwecken und zu erhalten. Darauf sollten wir alle ständig bedacht sein, und zwar eben nicht erst dann, wenn irgendwie spürbar wird, dass sich der oder die Betreffende mit dem Gedanken der Republikflucht trägt. Hierzu gehört, dass die verschiedenen in einer Gemeinde oder einem Kirchenkreis Diensttuenden zu einer Gemeinschaft zusammengeführt und in ihr behalten werden, die ihnen Gelegenheit gibt, sachliche Fragen und persönliche Dinge brüderlich auszutauschen – besonders auch die Ärgernisse, die ja keineswegs nur aus dem politischen Bereich, sondern auch aus den Gemeindeverhältnissen selber über sie kommen. Desgleichen gehört hierzu die Mitsorge um genügendes Einkommen, angemessene Wohnung, Beschaffung von Beihilfen in besonderen Notständen (z. B. vonseiten der Pfarrer und Gemeindekirchenräte für Katecheten mit Familie oder alleinstehende Katechetinnen). Wo bliebe die Liebe, zu der uns Christus in seiner Gemeinde frei und erfinderisch macht, wenn wir sie schon den nächsten Mitarbeitern und -arbeiterinnen schuldig blieben und wie wollten wir es vor Ihm verantworten, wenn uns nach einer Republikflucht deutlich würde, dass ja unsere eigenen Versäumnisse und die Enttäuschungen, die dieser Mensch durch uns erfahren hat, ihm mit zu diesem sein ganzes weiteres Leben zeichnenden Schritt veranlasst haben? Umgekehrt freilich sind auch diese Mitarbeiter und -arbeiterinnen dabei zu behaften, was eine Republikflucht (die ja noch ganz andere Auswirkungen hat als ein normaler Weggang aus dem betr. Gemeindedienst) für die Zurückbleibenden bedeuten würde – nicht nur an Mehrarbeit für die meist ohnehin schon überlasteten, sondern auch an tiefer Anfechtung.

3. Unbeschadet der Aufgabe umfassend brüderlichen Mitsorgens (bis hin zu materieller Unterstützungsleistung) wird also gegenüber der Gesamtzahl derer, die (haupt- oder nebenberuflich) im kirchlichen Dienst stehen, das wichtigste nach wie vor dies sein, in ihnen die Freude am Dienst des Herrn selbst und das Band der Liebe untereinander angesichts aller Versuchungen zum Verzagen und Versagen je neu zu stärken. Gegenüber allen sonstigen Gemeindegliedern – also der weit größeren Zahl derer, die sich nicht in einem kirchlichen Dienstverhältnis befinden bzw. nicht daraus ihren Lebensunterhalt beziehen – steht zunächst etwas anderes im Vordergrund. Ihr Auftrag, ihr Beruf liegt innerhalb der weltlich-sachlichen Verantwortung, von der wir früher (Abschnitt I) sprachen. Aber: wenn dies zwar auch ein anderer Auftrag als der der Pfarrer, Pfarrvikarinnen und sonstigen kirchlichen Mitarbeiter- und -arbeiterinnen ist, so ist doch auch dieser Auftrag nicht minder ein Auftrag des Herrn. Desgleichen ist deutlich, dass dieser Auftrag heute und hier auf seine Weise genauso akut ist wie jener: der von innen und außen angefochtenen Gemeinde dürfen und sollen wir das Evangelium bringen, und in einer Welt, die die »Dinge«, mit denen sie umgeht, gerade nicht mehr als Dinge aus Gottes Hand nimmt, haben wir dies desto treuer zu tun. Hier haben das Bleiben am Arbeitsplatz, die vorbildliche Erfüllung des weltlichen Berufs und das darin sich vollziehende Einstehen für eine echte Sachlichkeit zugunsten aller heute geradezu zeichenhafte Bedeutung. Wie sollten wir da Christen aus diesem Auftrag entlassen, wie sie rechtfertigen können, wenn sie durch eine Flucht vor der Welt dartun, dass sie ja selbst nicht glauben, es bei den Dingen und Sachen auch dieses zeitlichen Lebens mit dem lebendigen Gott, seinen Gaben und seinem Auftrag zu tun zu haben? Wie auch könnten wir sie, und sei es nur von ferne, in dem gefährlichen Irrtum bestärken, in dem sie verkennen, dass sie in der Bundesrepublik ja nicht weniger von Gott danach gefragt sein würden, ob sie »bei der Sache bleiben« und für diese einstehen wollen, sie nach einer Flucht dann aber gerade und erst recht als Gebrochene an ihrem Arbeitsplatz stehen würden? Wie endlich könnten wir es ihnen ersparen, auch sie dabei zu behaften, dass ihr Weggang für ihre Berufskollegen, ihre Arbeitskameraden, ihre Vorgesetzten, ihre Untergebenen, ihren Betrieb, ihr Kollektiv usw. – mitten in einem Volk, das nach einem verlorenen Krieg seine Existenz wieder aufbaut – Mehrbelastung und tiefe Beirrung bedeuten würde.

Es wird viel darauf ankommen, dass wir im Gespräch mit diesen unseren Brüdern und Schwestern ihre weltliche Verantwortung nicht etwa vorschnell relativieren, sondern ganz im Gegenteil sie ihnen um Gottes und der Menschen willen erst einmal kräftig bestätigen und ihnen Freude und Mut dazu machen. Es wird weiterhin auch hier unsere Aufgabe sein, handgreiflich Beistand zu leisten, wo immer sich besonders Nöte ergeben. Dies letzte wird dann vornehmlich dann der Fall sein, wenn ein Gemeindeglied eben in Ausübung solcher weltlichen Verantwortung Stellung und Einkommen verloren hat. Hier muss die Gemeinde dafür mobilisiert werden, ihm einen neuen Arbeitsplatz zu verschaffen, und zwar keineswegs gleich und unbedingt in einem kirchlichen Arbeitsverhältnis, sondern möglichst und gerade wieder im weltlichen Bereich. Endlich gehört zu dieser Mitverantwortung, im gegebenen Fall Wege zu suchen und beharrlich zu beschreiten, um bei den staatlichen, genossenschaftlichen oder sonstigen in Betracht kommenden Stellen für den Betreffenden und seine Rückführung in eine angemessene Beschäftigung einzutreten. Was haben wir bei den vielen, die schon geflohen sind, in dieser oder ähnlicher Hinsicht getan? Was tun wir von dem allen wirklich, um auch schon der inneren Auswanderung zu wehren?

Erst wenn dies alles klar ist, bejaht und praktiziert wird, hat auch das andere, was nun freilich nicht weniger wichtig und hilfreich ist, seinen richtigen Ort: der Hinweis darauf, dass ein Christ, um Freudenbote Christi zu sein, sich wahrhaftig nicht in einem kirchlichen Anstellungsverhältnis zu befinden braucht, d. h., dass das schlechthin Entscheidende von dem, was die Pfarrer usw. hier in der DDR bindet, im Grunde auch für alle anderen Christen gilt. Sie alle dürfen das Erntefeld sehen. Sie alle sind gefragt, ob bei dem Mangel an Arbeitern auf diesem Feld nicht sie zu einem Ernteeinsatz Gottes sich bereitfinden wollen. Sie alle dürfen sich mit dem Erbarmen des Herrn der Zerstreuten erbarmen. Sie alle sind danach gefragt, ob sie nicht die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken, die Fremdlinge beherbergen, die Nackten bekleiden, die Kranken und Gefangenen besuchen und mit dem Dienst an den Brüdern Christi in der Niedrigkeit Ihm dienen wollen (vgl. Matt. 25, 31–46137). Sie alle dürfen die Königsherrschaft in Christus erfahren. Sie alle sind gefragt, ob sie im Namen des Gekreuzigten nicht lieber bei den Angefochtenen bleiben als anderswo »frei« sein wollen. Das haben wir ihnen zu zeigen und danach haben wir sie zu fragen – nicht um sie aus ihrem weltlichen Beruf abzuziehen, wohl aber dazu, ihnen für ihre ganze Existenz in der hiesigen Situation die Freude und Freiheit des Glaubens zu stärken und damit sie umso mehr in die feste Burg Gottes zu nehmen, in die ein Christ zwar fliehen soll, aus der heraus er aber nicht fliehen darf. Wiederum wird, wenn dies nicht nur ein Notstandsprogramm für den äußersten Fall (in dem es dann meist schon zu spät ist) sein soll, sehr viel daran hängen, diese Einbeziehung der »Laien« in den mannigfaltigen Dienst des Wortes und der Liebe ohnehin und mit aller Kraft zu betreiben. Wer – mag er im weltlichen Beruf sein, was auch immer – z. B. der Gemeinde am Sonntag die Epistel verliest oder im Kirchenchor mitsingt oder sich am Besuchsdienst beteiligt oder in den Akademien mitwirkt oder eine verfallene Kirche aufbauen hilft oder für die Altenspeisung kocht oder um Schlüsselkinder sich kümmert usf., der hat (zusammen mit seinem weltlichen Beruf, ihn zu diesem stärkend) eine Bindung, die ihn auch und gerade dieses Leben hier noch froh und dankbar annehmen lässt und ihn davor bewahrt, anderswo ein »besseres« zu suchen.

4. Endlich haben wir aber auch an alle die Nicht-Christen in unserem Land zu denken, die, obwohl sie es nicht wissen oder gar nicht wahr haben wollen, nicht minder unter dem Angebot Gottes stehen, nicht minder, ja, erst recht aber auch in der Versuchung, dies Leben hier wegzuwerfen, in der kurzschlüssigen Meinung, das wirkliche Leben jenseits der Grenzen der DDR eo ipso zu finden. Ihnen haben wir ein Beispiel der Treue – zu unserm Staat, zu unserm Volk, zu unserm Land, zu unserm Beruf, zu unseren Mitmenschen, nämlich in dem allen der Treue zu Gott – zu geben, auf dass sie merken: das wirkliche Leben hat andere Gründe und ist »zonenfrei«. Hier, nicht zuletzt hier, muss sich bewähren, dass Gottes Gemeinde Stadt auf dem Berge und Salz der Erde ist.

c. Die Konkurrenz der Mandate.

Allerdings hören wir gegenüber allem Gesagten den Einwand schon, der kommen muss – der kommen muss nicht nur um der Trägheit des menschlichen Herzens willen, das das Angebot des Lebens aus Gottes Hand nicht annehmen will, sondern auch und ganz legitim deswegen, weil es gerade unter dem Worte Gottes, gerade für den, der auf es hört, und ihm folgen will, Konflikte gibt, in denen ihm nicht damit geholfen zu sein scheint, dass man ihm abermals sagt, was er ohnehin schon zu wissen meint, sondern ihm doch wohl eine Handreichung eben zur Lösung dieser Konflikte schuldig ist. Haben wir mit dem bisher Gesagten eine solche Hilfe geboten? Der zu erwartende Einwand sagt: genau darauf warten wir erst noch.

Unter Verweis und in gewissem Vorgriff auf das, was später (Abschnitt VII) noch über den »Konflikt« zu sagen sein wird, möchten wir hier folgendermaßen eine Antwort versuchen:

1) Der Einwand setzt ein wirklich angefochtenes Gewissen voraus. Die Mehrzahl der Christen, die eine Republikflucht erwägen oder vorbereiten, haben dieses angefochtene Gewissen aber gerade nicht. Wohl sind auch sie tief beirrt. Wohl fällt der Entschluss auch ihnen nicht leicht. Wohl werden auch sie hin und her getrieben von den »Gedanken, die sich untereinander verklagen oder auch entschuldigen« (Röm. 2, 15138). Wohl wäre es unbillig und lieblos, ihnen etwa zu unterstellen, dass sie bei solchem Für und Wider nur an materielle Vorteile und Nachteile dächten, nur egoistische Interesse verfolgten, nur die Rettung überkommener Werte für sich und ihre Familie bezweckten, nur das Fortkommen ihrer Kinder betrieben, kurz: schlechthin von dem Triebe absorbiert wären, »erst einmal hier herauszukommen«.

Zwar wird es auch unter den Christen in der DDR solche geben, auf die dieser Katalog zutrifft (nicht um zu richten, sagen wir das, sondern weil die Seelsorge den Menschen da aufsuchen muss, wo er ist). Doch meinen auch wir keineswegs, dass das beinahe durchgängig so sei. Wohl aber meinen wir, dass auch dann, wenn umgekehrt alle Anerkennungen, die wir eingeräumt haben, zutreffend sind, diese Menschen noch längst nicht in dem Konflikt zu stehen brauchen, den der Einwand meint. Stehen sie aber darin noch nicht, so ist ihnen die eigentliche Dimension der Entscheidungen eben erst aufzudecken.

2) Bei denjenigen aber, die wirklich in diesem Konflikt stehen, ist immer noch zwischen einem Wissen um die eigentlichen Relationen und letzter Bereitschaft, unter Zurückstellung alles anderen, noch so Gewiesene in das Zentrum, den einen Relationspunkt alles sonstigen, einzutreten, zu unterscheiden. Wir können wohl, analog zu dem Jüngling im Evangelium, sagen: das habe ich alles von Anfang an bedacht; wir können darin wahrhaftig sein und unter dem liebenden Anblick Jesu stehen – und Er sagt doch noch: Eines fehlt dir, gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf Dich (Mark. 10, 20–21139). Es kann sein, dass wir gerade, indem wir Gott ganz ernst nehmen wollen, gefragt sind, ob wir das wirklich ernsthaft wollen – nämlich über unser Wollen und Tun hinaus bis in dessen Preisgabe an das Kreuz Christi hinein. Eben darum aber geht es, wenn wir im Kern nicht anderes raten als dies, uns untereinander (allen Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und nicht im kirchlichen Dienst stehenden Brüdern und Schwestern) das Evangelium so groß sein zu lassen, wie es in Wahrheit ist, und die Berufung zum Dienst in der Gemeinschaft der Nachfolger Jesu neu zu versiegeln.

3) Damit soll nicht reduziert werden, was wir selber über die Unterschiedlichkeit von weltlicher Verantwortung und geistlichem Dienst angeführt haben. Nur meinen wir, dass im Normalfall die so begründete und ergriffene weltliche Verantwortung gerade nicht etwas sei, was in der Weise einer bindenden Glaubenserkenntnis den Gedanken an eine Republikflucht nahelegen und mit der anderen Glaubenserkenntnis, dass wir das hiesige Leben aus Gottes Hand zu nehmen haben, in Konkurrenz treten könne. Im Gegenteil: das Annehmen aus Gottes Hand und das Aufnehmen dieser Verantwortung gehen in eins. Anders steht dies freilich dann, wenn für einen Einzelnen schlechterdings kein Raum mehr zur Wahrnehmung solcher Verantwortung bleibt und dann außerdem auch noch ein Übergang in einen (mit Gewinnung des Lebensunterhalts verbundenen) kirchlichen Dienst verschlossen bleibt. Hierzu ist zweierlei zu sagen: Auch unter den hiesigen Verhältnissen ist dies ein Extremfall. Das wird sich desto klarer erweisen, je enger und tatkräftiger die ganze Gemeinde um diesen geschlagenen Bruder sich schart. Wo aber wirklich dieser Extremfall vorliegt und dieser Bruder sich (gewiss unter Schmerzen) zum Gehen entscheidet, werden wir ihn dazu freigeben dürfen – nicht zum Fliehen (denn das tut er dann gerade nicht), sondern zum Auswandern an den Ort, den Gott ihm zeigen wird (d. h. den er sich nicht selbstmächtig oder gar selbstsüchtig gewählt hat und den er im Voraus nicht weiß, auch wenn der neue Arbeitsplatz schon festgelegt ist).

4) Abgesehen von diesem Extremfall kommt es zu einem wirklichen Konflikt überall da, wo auch nach dem Ermessen des Glaubensurteils tatsächlich Gottes verschiedene Mandate im Widerstreit liegen, und es ist nicht zu leugnen, dass dies in unserer heutigen Situation häufig geschieht. Wir denken besonders an das Mandat, das ein Familienvater gegenüber seiner Frau und seinen Kindern hat und das ihn auch dann noch von Gott her bindet, wenn das Mandat des Berufes – sei es weltlicher Verantwortung oder geistlichen Dienstes – ihn andererseits ebenso bindet, einen Weg zu gehen, auf dem er jedenfalls leiblich für seine Familie nicht mehr sorgen kann, zumindest ernsthaft damit rechnen muss, dass es so komme. Wir denken weiter an die Jugendlichen, denen es durch die äußeren Umstände verwehrt ist, den Beruf zu ergreifen, von dem sie glauben, dass er ihnen von Gott gewiesen sei, und die dadurch doch das Mandat des Dienstes an Kirche und Volk hier in der DDR nicht außer Kraft gesetzt sehen können. Wir denken schließlich an alle die, die sich in weltlichen Berufen befinden, zu diesen Ja sagen, sich an sie gerade unter den hiesigen Verhältnissen von Gott gebunden wissen, diese aber nicht ausführen können, ohne das Mandat der Bezeugung des Wortes Gottes ihrerseits unausgeführt sein zu lassen. An eben diese Fälle – und ihrer sind viele – dankt auch der Einwand, und hier ist nicht nur einzugestehen, sondern gerade Hilfestellung zu der Erkenntnis zu leisten, dass es in solcher Lage keine »glatten Lösungen« gibt. Freilich nicht, um damit den Glauben an das Evangelium, Seine Kraft, Seinen Beistand und Seine Weisung preiszugeben und schließlich doch noch dem Indifferentismus das Tor zu öffnen, sondern in desto bestimmterer Hingabe der ganzen Person an den barmherzig-gnädigen Herrn, der uns nicht bei der Anfechtung behaftet, ohne – auf seine Weise – uns auch aus ihr zu befreien. Eben Er Selbst ist die Mitte, und eben deswegen ist alles andere als müßig, immer und immer wieder zu sagen, dass unser Blick ganz und stracks auf Ihn zu richten ist.

5) Nicht eigentlich eine Frage des Konflikts der Mandate ist die, ob wir uns nicht u. U. einer Lage entziehen müssten, in der wir einer unmittelbaren Bedrohung unserer Freiheit oder gar unseres Lebens ausgesetzt sind, sodass wir, wenn diese Gefahr sich verwirklichen sollte, unser Mandat gerade nicht mehr ausführen könnten. Das also ist z. B. die Frage des Pfarrers, ob mit einer Inhaftierung seiner Person seiner Gemeinde wirklich gedient sei. Sie kann sich aber auch für alle anderen kirchlichen Mitarbeiter und für alle die, die in einem weltlichen Beruf stehen, ganz ähnlich und nicht minder zudringlich stellen. Sie kann dies nicht nur, sondern sie tut es in zahlreichen Fällen. Um hier recht zu raten, wird abermals eine Unterscheidung wichtig sein, nämlich die, worin die Bedrohung begründet ist. Kommt sie aus der Sache, dem Auftrag selbst – also daher, dass die Welt sich solche Sachlichkeit nicht gefallen oder dem Evangelium den Lauf verwehren will –, dann dürfen wir uns daran erinnern lassen und haben einander daran zu erinnern, dass der Weg Christi der Weg des Leides ist und über der Kreuzesnachfolge Gottes Verheißung steht, Er werde gerade in ihr die Ausübung Seines Mandats in Seine Hand nehmen. Kommt die Bedrohung dagegen aus einer eigenen, früheren, noch nicht offenbar gewordenen, nun aber etwa offenbar werdenden Schuld, dann werden wir einander zu fragen haben, ob nicht der Weg des Gehorsams auch und gerade in dieser Bedrohung mit darin bestehe, Gottes heimsuchende Gnade auch im Gericht zu bejahen. Obwohl die Gründe verschiedene sind, läuft der zu erteilende Rat also konkret auf das gleiche heraus, nämlich zu bleiben – auf das Kreuz Christi hin auch dann noch zu bleiben. Ob wir die Kraft haben, den betreffenden Bruder so zu beraten, und ob er selber die Kraft hat, sich so beraten zu lassen und danach zu tun, steht auf einem, für die Seelsorge freilich auch keinesfalls zu überschlagenen Blatt.

d. Die Differenzierungen des Seelsorgeauftrages.

Zweierlei ist, was um Gottes, um seines Wortes, um des Glaubens und um des Gehorsams willen zu tun sei, – und ob der Glaube dessen, der dieses tun soll, stark genug sei und sein werde, um es zu tun. Zweierlei ist, im brüderlichen Rat ein Zeugnis davon zu geben, worin im gegebenen Fall von Gottes Angebot her der Gehorsam bestehe, – und dem Bruder zu sagen, ebenso müsse er jetzt handeln, wie immer es auch um seinen Glauben stehe und stehen werde. Zweierlei ist endlich, ihn zu beraten, wenn er noch vor der Republikflucht zu einem Beichtgespräch zu mir kommt, – und sich um ihn zu besorgen, wenn er sie (mit welchem Erfolg auch immer) ausgeführt hat.

Noch wichtiger, als dieses zu unterscheiden, ist freilich dies, dass Anfang, Mitte und Ende unverrückbar das Hören auf den lebendigen Gott sei und bleibe und dieses Hören auf den Bruder bestimmt, nicht also etwa das Hören auf den Bruder das Gehör für die Stimme des lebendigen Gottes dämpfe oder gar verschließe. Was aber der lebendige Gott zu uns spricht – dieses zu hören und dessen Kern weiterzugeben, darum haben wir uns auf all diesen Seiten bemüht. Wir können es hinsichtlich des ganzen christlichen Lebens in der DDR wie auch der besonderen Frage, die mit der Republikflucht gestellt ist, nicht anders hören als so: ihr dürft, ihr könnt und darum sollt ihr auch bleiben; das Evangelium umfängt euch und will euern Dienst; es weist euch an die nicht minder angefochtenen Menschen um euch herum und bindet euch an sie mit den Fesseln der Liebe, aus denen man nicht ausbrechen kann, ohne auch die eigene Freiheit bis in ihre Wurzeln hinab zu gefährden.

Wenn dieses denn wirklich klar ist, werden wir mit jedem Bruder, der den Gedanken an eine Republikflucht erwägt, aufs Äußerste und bis ins Innerste darum ringen, dass er bleibe und hier die Straße des glaubenden Gehorsams gehe. Sollten wir ihn aber nicht überwinden können, so werden wir auch nicht uns selber mit Gott dem Richter der Gedanken und Herzen verwechseln, sondern den Bruder diesem Gott – unser aller Richter und Herrn! – anbefehlen, dass Er ihm gnädig bleiben und sein scheidendes Wort nicht entziehen möge.

Das heißt zugleich, dass wir auch denjenigen Bruder, der eine Republikflucht unternommen hat, nicht aus unserer Fürbitte entlassen und ihm unsern Beistand entziehen können. Er hat sie gerade dann zu allermeist nötig, und nicht zuletzt daran, ob und wie wir sie leisten, wird sich erproben, was es um unseren eigenen Gehorsam gegenüber dem Evangelium des lebendigen Gottes in der DDR sei.

VI. Unser Stehen in der Kirche.

Wir erleben es, dass die traditionelle Zugehörigkeit zur verfassten Kirche und kraft alter Sitte geübte Teilnahme an kirchlichen Handlungen einschließlich der Taufe spürbar schwinden. Ein besonderes Problem wird uns dabei durch die schon nicht wenigen Menschen gestellt, die heute den offiziellen Kirchenaustritt erklären, gleichzeitig aber heimlich dem Pfarrer versichern, dass sie nicht nur persönlich weiter Christen bleiben, sondern auch Geldopfer in Höhe der bisherigen Kirchensteuern bringen und sich sogar in irgendeiner Form zum Gemeindeleben halten wollten. Sie müssten diesen Weg gehen, da sie nur durch einen Kirchenaustritt den befürchteten Verlust ihrer Stellung im Beruf, den Ausschluss aus der SED usw. vermeiden könnten. Die Verwirrung in dem praktischen Verhalten der angegangenen Pfarrer zeigt, wie sehr wir hier bisher unbekannte Wege gehen müssen. Grundsätzlich werden solche Gespräche von uns als Gelegenheit begrüßt werden dürfen, um gemeinsam mit diesen Angefochtenen um ein echteres und tieferes Verständnis darüber zu ringen, was denn die Kirche sei, aus der man – lediglich juristisch – austreten soll. Folgende Gesichtspunkte scheinen uns wichtig zu sein.

a.

Christen sind Königsboten, die das Erscheinen und Kommen des Herrn aller Herren ansagen, wenn sie Gottes Wort glauben, hören, bekennen, beten und singen. Ebenso ist die Kirche die Schar, die durch ihre Existenz der Menschenwelt die Freudenbotschaft mitteilt, von der sie selbst lebt. Das Apostolat, wie es die reformierte Kirche der Niederlande seit 1945 betont, gehört wesensmäßig zur Kirche wie zum Glaubenden hinzu.140 Und zwar ist das deshalb so, weil der Herr, dem wir glauben, eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen hat und einschlägt, in die Er selbst gegangen ist und gehen wird. Die Richtung seines Willens und Tuns bestimmt auch die unsrige. Jesus Christus geht von der Höhe in die Tiefe, von Gott zu den Menschen, von den Frommen zu den Gottlosen, von den Gerechten zu den Sündern, von den Juden zu den Heidenvölkern, von den Männern zu den gering geachteten Frauen, von den Erwachsenen zu den Kindern, von den Gesunden zu den Kranken usw. und gibt dabei sich selbst preis und behält nichts für sich zurück: Er wird aus einem Herrn ein Knecht, aus dem Sohn Gottes der Gehorsame, der den Verbrechertod nicht scheut. Er weist die in Not Bittenden nicht ab. Er erträgt die Unverständigen und Kleingläubigen, Er stößt den vermessenen Petrus nicht fort, Er redet freundlich und strafend zu denen, die ihn greifen. Auf dem Weg zur Hinrichtung ruft Er noch die unverständig klagenden Frauen zur Umkehr, Er betet für die Kriegsknechte und gönnt auch dem römischen Gouverneur das Evangelium der Umkehr. Schweigend und ohne wider zu schelten, erträgt Er Hohn und Schläge. Im Wort und Werk des irdischen Herrn findet die Gemeinde, wie der Erhöhte mit ihr umgeht und wozu Er sie sendet. Wissen wir uns selbst als die, die von ihm in der Tiefe gefunden und aufgelesen worden sind, so sind wir damit auf Tod und Leben an die Art und Weise dieser Liebe gebunden, die wehrlos unter die Menschen tritt, die zur Errettung gerufen werden. All unser Bekennen und das Beharren auch auf der juristischen Zugehörigkeit zu unserer evangelischen Kirche dient diesem Weg des Herrn und gehört um dieses Charakters seines Tuns willen zu unserem Verhalten hinzu. Gnostiker141 und Doketen142 freilich entdecken hier prinzipiell Möglichkeiten eines heimlichen Christentums, um den Konflikten zu entgehen.

b.

Dieselben Königsboten sind schwache und versuchliche Menschen, deren Glaube und Gehorsam ja an einem Haar hängen. Der vollzogene Austritt oder nicht gewagte Eintritt von Menschen, die christlich leben wollen, beweist das ja selbst. Weil es so um uns steht, haben wir alle die wechselseitige Auferbauung zum Glauben laufend nötig und sind selbst zu dieser Auferbauung der gerade Versuchten berufen. Sowohl im Blick auf die Schwäche unseres eigenen Glaubens, der in der leiblichen Versammlung der Brüder und Schwestern unter dem Wort und um den Tisch des Herrn gestärkt werden muss, wie auch mit Rücksicht auf die Angefochtenheit der anderen, die auf unseren Trost und Mahnung warten, müssen wir an der tatsächlich geübten Teilnahme an den kirchlichen Versammlungen festhalten. So wie die Dinge aber bei uns liegen, wird eine solche Beteiligung an den – bisher grundsätzlich öffentlichen – Versammlungen der Kirche auf die Dauer unmöglich sein, wenn wir aus Sorge und Furcht den juristischen Kirchenaustritt vollzogen und damit bekundet haben, dass wir mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollen.

c.

Zwangslagen – in denen viele heute einen Kirchenaustritt vornehmen – sind nie absolute Zwangslagen. Sie sind es nur so weit, als sie zu einem gefährdeten Gut (Berufsstellung, Parteizugehörigkeit, vielleicht sogar Freiheit und Ehre) in Beziehung gesetzt werden, dessen Verlust man durch den Austritt vermeiden will. Es kommt alles darauf an, dass wir in solcher Versuchung zunächst einmal den Selbstbetrug erkennen, wenn wir uns mit dem Satz rechtfertigen: »Ich kann nicht anders.« Es kann dieser Satz freilich auch ein hilfloser Notschrei sein, der aus Ratlosigkeit und Verzweiflung kommt. Das ist dann etwas ganz anderes. Oftmals ist er aber, wie im Gleichnis, die Ausrede der Geladenen: »Entschuldige mich. Ich kann nicht kommen, denn ich habe ….«143 Solche Zwangslagen sind im Licht des Evangeliums die Ausgangslagen für die überwältigende Erkenntnis, dass wir wirklich in Gottes Hand sind, dies glauben und dies dann auch, so oder so, mit Staunen und Beschämung erfahren werden. Der christliche Bürger, der heute in dieser Weise austritt, bringt sich selbst um die Chance, ein Bürger in Christus zu werden.

d.

Wir werden in Zukunft mit einer Menge derartiger heimlicher Christen in der DDR zu rechnen haben, die sich durch alle Mahnungen und Tröstungen von dem Weg der Heimlichkeit längere oder kürzere Zeit hindurch nicht abbringen lassen werden, zu denen nicht nur die nur äußerlich Austretenden, sondern auch die innerlich Glaubenden gehören, die aber den Eintritt in die Kirche nicht wagen! Wir werden diese unsere Nächsten aus den genannten drei Gründen auf diesem gefährlichen und nur scheinbar bequemeren Wege nicht bestärken, bestätigen oder ermutigen können und zwar sowohl um ihres Heiles wie um ihres irdischen Lebensraumes willen. Der Abfall von jedem, auch noch so kümmerlichen Gottesglauben droht jedem heimlichen Christen, auch wenn er anfangs siegessicher erklärt: »Meinen Glauben lasse ich mir nicht nehmen«. Die Aufdeckung der Zweigleisigkeit aber durch politische Stellen ist gerade bei denen am gefährlichsten, die am ehesten Grund hätten, für sich eine Zwangslage anzunehmen (z. B. Funktionär der SED, Offizier der Polizei oder Volksarmee u. a.). Das gilt in verschärftem Maß für Menschen, die zum Glauben gelangen und sich in einer Position vorfinden, die sie nur in Verbindung mit ihrem Bekenntnis zum Marxismus erlangt haben.

e.

Bei aller schonungslosen Aufdeckung der Wahrheit des Wortes Gottes über diesen Austritten oder nicht gewagten Eintritten in die Kirche und bei aller Askese, hier zu entschuldigen oder zu verharmlosen, werden wir als die selbst Versuchten eine große Geduld mit diesen heimlichen Christen haben müssen. Kirchenzuchtmaßnahmen dürften nur in Fällen angebracht sein, wenn sich offenkundiger frecher Trotz des Austretenden mit einer selbsterwählten Frömmigkeit tarnt. Dagegen sollte das brüderliche Gespräch mit allen diesen Angefochtenen so lange gesucht werden, bis wir mit ihnen zu jenem sieghaften Glauben durchstoßen, der den Mut zum Bekennen einschließt, komme, was da wolle.

VII. Unser Trauen auf den Geist der Wahrheit.

Ob es um unsern politischen Gehorsam (Abschnitt II), um unsern Beruf in der sozialistischen Gesellschaft (III), um unsere Mithilfe bei der Aufrichtung und Findung des Rechts (IV), um das Problem der Republikflucht (V) oder um unser Stehen in der Kirche (VI) geht, – immer sind Christen dazu aufgerufen und immer haben wir sie dazu aufzurufen, ihre Entscheidung zu fällen nicht in Menschen-, sondern in Gottesfurcht, nicht in Zweifel an Seinem Dasein, sondern in Vertrauen auf Seine Wirklichkeit auch heute und hier, nicht einfach von ihren tradierten oder anderweit inspirierten Vorstellungen her, sondern in der Bereitschaft, sich als Jünger Jesu in dieser Welt zu neuen Erkenntnissen öffnen und besserer Gerechtigkeit (Matth. 5, 20;144 vgl. V. 6) rüsten zu lassen. So will es das Evangelium, und wo sie dem folgen, hören sie auf, zu den Anforderungen, die sich aus dieser marxistischen Welt, in der wir leben, an sie richten, immer und von vornherein Nein oder immer und von vornherein Ja zu sagen. So oft und so lang sie dem Evangelium folgen, treten sie unter das Ja, das zwar unaufgebbar das Nein in sich einschließt, es gerade so aber auch einzigartig und unumkehrbar umfängt. So arbeiten sie mit, ohne doch opportunistische Kollaborateure zu sein. So setzen sie sich, wo es sein muss, entgegen und sind doch etwas anderes als antimarxistische Widerstandskämpfer. So fällen sie überhaupt erst wirklich, in concreto, Entscheidungen. Ihre erste Entscheidung ist und bleibt ihre Umkehr.

Freilich sind diese Entscheidungen in den Augen der Welt höchst missverständlich und vielleicht auch gerade gefährlich. Sie sind das bis in das Urteil »kirchlicher Kreise« herein. Das kann nicht verwundern. Denn auch in der Kirche sind Sehen und Blindheit, Erkennen und Missverständnis, Vertrauen und Misstrauen dicht beieinander. Die Kirche als Gemeinschaft von Menschen ist nicht immun gegenüber der Welt. Die Welt ragt tief in diese Kirche hinein. Vor allem aber sind auch jene Entscheidungen nicht aus sich selber heraus gerechtfertigt. Auch sie sind, obwohl im Glauben getroffen, obwohl Praktizierungen der Umkehr, zugleich auch nur menschlicher Art. Auch sie können objektiv falsch sein. Sie können auch falsch sein nicht nur da, wo es um Urteile weltlicher Sachlichkeit unter Vernunftgebrauch geht. Objektiv falsch sein können sie vielmehr auch dann, wenn es um Prüfung der Geister im Ewigen geht. Wie aber gibt es, wenn das wirklich so ist (und also Unverstand und Misstrauen – allerdings anders als sie es meinen – doch nicht so völlig gegenstandslos sind), wie gibt es dann überhaupt noch Gewissheit? Wie kann ein Christ dann überhaupt noch bei dieser und jener Entscheidung getrost sein? Wie kann er das noch, zumal er die Entscheidungen ja nicht nur den alten Menschen in sich selber abringen muss, sondern auch oft aus verschiedenen Aufträgen Gottes, die er nicht gleichzeitig ausführen kann, den einen, gerade jetzt wichtigsten heraushören soll? Löst sich da nicht doch noch wieder alles in vage Urteile auf? Keiner, den Gottes Wort angerührt hat, kann das bejahen, und jeder Nüchterne sieht, dass ein Christ in der marxistischen Welt, die ihrerseits sehr bestimmte und höchst konkrete Urteile hat, totsicher zu Fall kommt, wenn er seinerseits nur vage Urteile hat. Wo aber ist hier der Ausweg? Diesen Fragen müssen wir uns stellen. Ihre Lösung ist in folgender Richtung zu suchen.

a. Kompromiss: ja – Taktik: – nein.

Dem Christen ist auf jeden Fall das Abgleiten in eine Taktik verboten, bei der nicht nach Gottes Gerichts- und Gnadenwort gefragt wird und man nicht mehr dem vertraut, der für uns zur Sünde gemacht ist. Dagegen wird ein Christ bereit sein, Kompromisse zu schließen, wo sie nicht zu umgehen sind, freilich dabei auch wissen, dass sie dadurch nicht gerechtfertigt sind. Das will in folgendem Sinn verstanden sein bzw. weiter durchdacht werden:

1) Der Christ muss sich klar darüber sein, dass dem lutherischen peccator in re die Existenz im Kompromiss entspricht, dass es also keine existenzielle Perfektion für ihn gibt.145

2) Der Kompromiss stellt vor fortwährende Entscheidungen gegenüber der Frage, ob dieses Handeln »noch« oder jenes Handeln »nicht mehr« möglich sei. Da das isolierte Einzelwesen hier einem gefährlichen Gefälle ausgesetzt ist, wird die mutua cohortatio et consolatio fratrum als Übung gemeinsamer Gewissenskontrolle wichtig.146

3) Das Gesetz Gottes – etwa in der radikalen Gestalt der Bergpredigt – besitzt hierbei die Funktion, die Wunde einer »Existenz in der Gebrochenheit« offenzuhalten und jeden einer falschen Rechtfertigung dienenden Kompromiss-Geist zu verhindern.

b. Verzicht auf glatte Lösungen.

Wenn in einem gewissen, begrenzten Sinn der Kompromiss also zu bejahen ist und dementsprechend dem Christen, sofern sein Handeln durch ein falsches Vollkommensheitsideal gehemmt wird, gerade zum Kompromiss Mut gemacht werden darf, so ist damit doch keineswegs einer Einebnung seiner Entscheidungen das Wort geredet. Ihm wird damit nicht freigestellt, etwa so zu denken, zu sagen und dann danach zu handeln: wir sind alle nur Sünder, und in den Erscheinungsformen der Welt habe ich es sowieso immer mit Erscheinungsformen der Sünde zu tun; also brauche ich auch nicht von Fall zu Fall erst noch besonders zu fragen, womit ich es hier zu tun habe, und mir auch nicht etwas Besonders abzuverlangen. Eben aus dieser Haltung ruft das Wort der Umkehr heraus, zu der der recht verstandene – und in Demut geübte! – Kompromiss nicht in Widerspruch steht. Er steht im Einklang mit ihr, indem er Ja sagt dazu, dass wir den Herrn nicht verfügbar haben, dass wir nur leben können aus Seiner Vergebung, dass wir, bis dass Er wiederkommt, nur Wanderer sind auf Ihn hin, aber auch wirklich getrost sein dürfen, Er werde uns nicht verachten, obwohl unsere Einsicht noch immer getrübt ist und unsere Wege noch immer nicht gerade verlaufen. Indem wir als solche, die umkehren, darauf verzichten, durch scheinbar mutig-eindeutige Taten für Ihn doch nur uns selbst zu bestätigen, verzichten wir nicht, nach Seinem Willen zu fragen. Indem wir bekennen, dass unsere Lösungen keine glatten Lösungen sind, harren wir der Erlösung durch Ihn. Indem wir uns gegen den alten Menschen in uns dazu bescheiden, strecken wir uns nach der Kraft, jedenfalls da eindeutig zu stehen, wo das Bekenntnis eindeutig von uns verlangt … [unleserlich].

c. Der status confessionis.

Nicht nur der einzelne, sondern auch und besonders die Gemeinde im Ganzen hat wachsam dafür zu sein, wo der Ort und wann die Stunde und wer das Gegenüber des geforderten Bekenntnisses sei. In dem Maß, wie sie das tun und dann auch konkret das Bekenntnis vollziehen, verlieren die nicht glatten Lösungen ihre Missdeutigkeit vor der Welt und werden die Christen selber gestärkt, mit ihren Kompromissen nicht etwa doch noch die teure Gnade ihres Herrn zu verleugnen.

Generell ist dazu zweierlei zu sagen:

1) Der status confessionis setzt für den Christen jedenfalls und vornehmlich dann ein, wenn von ihm Bekenntnisse oder Handlungen gefordert werden, die eine Verleugnung des Bekenntnisses zu Jesus Christus in sich schließen.

2) Der status confessionis ist aber auch da gegeben, wo von dem Christen Taten gefordert werden, durch die in unrechtmäßiger Weise Leben und Freiheit anderer Menschen bedroht sind und sie an Leib und Seele geschädigt werden.

Den ersten Fall sehen wir heute für die Christen in der DDR mit der atheistischen Jugend- und der entsprechenden Säuglingsweihe gegeben. Zur näheren Bestimmung des zweiten, der sich nicht ebenso punktuell bezeichnen lässt, kann Folgendes dienen:

Auch wir Christen wissen, dass das Leben des einzelnen in dieser Welt nur im Zusammenleben mit den anderen Menschen möglich ist und dass dies ständige Einschränkungen der menschlichen Freiheit erforderlich macht, die je nach den Gegebenheiten dieses Zusammenlebens verschieden ausfallen. Dennoch drängt uns die Botschaft vom ewigen Leben und der ewigen Freiheit vor Gott auch dazu, einzustehen für das relativ geringere irdische Leben und die relativ geringere irdische Freiheit des Menschen. Der Staat hat die Aufgabe, solche relativen Gaben zu erhalten, indem er Recht setzt und dieses Recht durch seine Macht beschirmt und durchsetzt. Weil Christus um unserer Sünde willen gestorben ist, müssen wir jeden unrechtmäßigen Gebrauch von Macht und Gewalt als Sünde bezeichnen, an dem wir uns nicht beteiligen können, dem wir vielmehr entgegenzutreten haben – sei es als Kirche im ganzen durch Einspruch bei den staatlichen Stellen oder als einzelner Christ, wo wir dem an Leib und Seele Bedrohten als Nächster gesetzt sind bzw. an uns selber ein Ansinnen gestellt wird, das im bezeichneten Sinne mit christlichem Gewissen unvereinbar ist.

d. Die Überwindung der Aporie in der Nachfolge des Gekreuzigten.

Dieses Eintreten in den status confessionis seitens der Christenheit in der DDR ist endlich deswegen unerlässlich, weil eben damit der marxistischen Welt deutlich wird, dass die Mitarbeit der Christen nicht eine Bestätigung, Kapitulation oder Leisetreten gegenüber dem Aufruhr wider Gott im Marxismus ist, sondern auf ihre Weise auch nichts anderes als jenes Bekenntnis, nämlich Bezeugung der Wirklichkeit Gottes zum Heile auch der Marxisten.

Freilich bleibt es – von den ganz offenkundigen Fällen wie den atheistischen Weihehandlungen abgesehen – oft schwer, zwischen Mitarbeit, Versagung und besonderem Bekenntnis die rechte Wahl zu treffen. Der Christ wird hier sogar, je ernsthafter er den Gehorsam einüben will, in desto tiefere Aporien geraten. Doch ist er damit auch desto näher am Kreuz seines Herrn, und wenn er durch Gottes Erbarmen dort bleibt, bis dass er mit letztem Ernst und jüngster Freude lerne, dies Kreuz seines Heilands auf sich zu nehmen, dann wird auch die Verheißung des Geistes der Wahrheit an ihm nicht trügen. Die bringt die Aporien zum Ende. Im Heiligen Geist ist die Gewissheit. Er ist auch das Ende der Lüge.

VIII. Die besondere Verantwortung der Pfarrerschaft.

Wie sollen sich die kirchlichen Amtsträger zu den gesellschaftlichen Veränderungen und zur gesellschaftlichen Mitarbeit verhalten?

a.

Beim Übergang von einer Gesellschafts- und Wirtschaftsform zu einer anderen ändert sich auch ständig die soziologische Struktur der Kirchengemeinden. Das erfordert seitens des Pastors ständige Beachtung nach zwei Seiten:

1) Verkündigung und Seelsorge gelten auch und erst recht denen, die durch diese Veränderungen entwurzelt, entrechtet und benachteiligt werden. In der Gemeinde Christi haben sie im vollen Sinne Gliedschaft und Heimatrecht. Sie bedürfen besonders helfender und beratender Seelsorge.

2) Verkündigung und Seelsorge dürfen aber dabei nicht aufs Neue – wie im 19. Jahrhundert – den Kontakt zu neu sich bildenden sozialen Schichten und Berufsgruppen verlieren (z. B. sozialistische Dörfer, kollektive Siedlungen, Funktionäre). Hier sollten neue Wege der persönlichen Begegnung und des Besuchsdienstes und neue Formen des Gottesdienstes und des Gemeindelebens gewagt werden.

b.

Gegenüber der aktiven Mitarbeit im gesellschaftlichen Leben und in den Massenorganisationen sollten die kirchlichen Amtsträger Folgendes bedenken:

1) Ein eigenes und freies Zeugnis des Evangeliums zu öffentlichen Fragen, z. B. zum Frieden, zum Recht der Völker und des Einzelnen ist schwerlich möglich, wenn sich die kirchlichen Amtsträger in eine andere Institution hineinbinden. Die Kirche sollte vielmehr im öffentlichen Leben mit den ihr gegebenen Mitteln und auf den ihr gegebenen Wegen das Wort nehmen. Erst recht in einem Staatswesen, in dem sich die Einzelnen ohne ausreichende Informationen kein selbstständiges Urteil bilden können und doch ständig von gesellschaftlichen Organisationen zu Entscheidungen genötigt werden, wird sich der kirchliche Amtsträger die Freiheit glaubwürdigen Sprechens wahren müssen (z. B. in der Friedensfrage).

2) Zugleich aber darf der kirchliche Amtsträger bei aller gebotenen Distanz zur Institution nicht selber der Ghettoisierung der Kirche Vorschub leisten, sondern er wird das Gespräch mit den Menschen auch in den Institutionen suchen und damit ernst machen, dass das Evangelium nicht nur den frommen, sondern allen Menschen gilt. Im Vertrauen auf die Mächtigkeit des Wortes Gottes kann er gegenüber der ständigen ideologischen Illusion zur nüchternen Sachlichkeit bei allen Fragen des irdischen und leiblichen Lebens, z. B. bei Fragen des äußeren Aufbaues, der Erntehilfe usw., hinwirken. Er wird gegenüber allen Methoden, durch die die Menschen in ihrem gottesgegebenen, freien Personsein beeinträchtigt werden und ihnen das Recht zu freier Gewissensentscheidung genommen wird, sich im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten als Fürsprecher für seine Mitmenschen konkret einsetzen. Diese mitmenschliche Verantwortung erstreckt sich aber auch auf die Gesprächspartner auf der anderen Seite. Der Seelsorger wird sich darum bemühen, zwischen der Ideologie und dem sie vertretenden Menschen, zwischen dem Funktionär und dem Mitmenschen zu unterscheiden und hinter allen Fronten den Mitmenschen aufzusuchen und anzureden.

Anlage 3 zur Information Nr. 251/59

Protokoll der 60. kirchlichen Ostkonferenz vom 23.7.[1958] und protokollarische Wiedergabe der Verhandlungen und Ergebnisse kirchlicher Vertreter mit der Regierung der DDR

Evangelische Kirche in Deutschland | Kirchenkanzlei | – Berliner Stelle – | KB I 1500/58 I | Berlin C 2, Bischofstraße 6–8147 | den 4. August 1958

Im Anschluss an unser Rundschreiben vom 30. Juli dieses Jahres – KB I1468/58 I K – laden wir hiermit zur 61. Kirchlichen Ostkonferenz am Mittwoch, dem 27. August 1958, 9.30 Uhr ergebenst ein.

Die Sitzung findet im Weißen Saale des kirchlichen Dienstgebäudes in der Jebensstraße statt.

Tagesordnung

1.) Aussprache über die kirchliche Lage D. Mitzenheim148

2.) Konfirmation 1959 Dr. Zimmermann149

3.) Kirchlicher Nachwuchs Oberkirchenrat Behm150

4.) Verschiedenes

Etwaige weitere Wünsche für die Tagesordnung bitten wir uns alsbald mitteilen zu wollen.

D. Dr. Karnatz151

Evangelische Kirche in Deutschland | Kirchenkanzlei | – Berliner Stelle – | KB I 1468/58 I K | Berlin C 2, Bischofstraße 6–8

Betrifft: Kirchliche Ostkonferenz

Hiermit übersenden wir die Niederschrift über die 60. Kirchliche Ostkonferenz vom 23. Juli 1958 mit der Bitte um Kenntnisnahme.

Als Termin für die nächste Konferenz bitten wir Mittwoch, den 27. August 1958 vormerken zu wollen.

D. Dr. Karnatz | beglaubigt: | [Name 3] | Kanzleiobersekretär

An die | Kirchenleitungen der |westlichen Gliedkirchen

Niederschrift über die 60. Kirchliche Ostkonferenz am 23. Juli 1958 in Berlin

Am 23. Juli 1958 fand in Berlin die 60. Sitzung der Kirchlichen Ostkonferenz statt. Anwesend waren die in dem anliegenden Verzeichnis aufgeführten Teilnehmer.

Die Sitzung wurde um 15.10 Uhr durch den Vorsitzenden, Bischof D. D. Dibelius, mit Schriftlesung und Gebet eröffnet. Im weiteren Verlauf der Sitzung begrüßte er Oberkirchenrat Riedel152 (München) als Vertreter der westlichen Gliedkirchen.

I. In der Aussprache über die Lage berichten Landesbischof D. Mitzenheim, Bischof D. Krummacher153 und Generalsuperintendent Führ154

Führ über Verlauf und Inhalt der Gespräche mit den Regierungsvertretern der Deutschen Demokratischen Republik, die zu der am Vorabend vom Presseamt beim Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik bekannt gegebenen Verlautbarung geführt haben.155 Die Fassung dieser Verlautbarung wird anhand des Ganges der Verhandlungen, des Inhalts der überreichten Schriftsätze und der von beiden Gesprächspartnern vorgelegten Entwürfe für eine solche Erklärung näher erläutert.

In der anschließenden Aussprache wird von der einen Seite der Standpunkt vertreten, die vorliegende Fassung sei unannehmbar oder doch äußerst bedenklich, da sich die Kirche unter den gegebenen Umständen weder mit den Friedensbestrebungen der Deutschen Demokratischen Republik in der von dieser verfolgten Zielsetzung, dem Sieg des kommunistisch-materialistischen Sozialismus, identifizieren noch die Entwicklung zum (als materialistische Weltanschauung verstandenen) Sozialismus respektieren, noch den tatsächlich begründeten Vorwurf der Verfassungsverletzung fallen lassen könne und dürfe.156 Andererseits wird geltend gemacht, die Fassung der Verlautbarung müsse im Zusammenhang mit Gang und Inhalt der Verhandlungen gesehen und auch im Blick auf diejenigen Dinge gewertet werden, die der Wortlaut nicht mit zum Ausdruck bringt. Wichtig sei, dass maßgebende Regierungsstellen der Deutschen Demokratischen Republik nach den Vorgängen der letzten Monate überhaupt mit offiziellen Vertretern der Kirche ins Gespräch gekommen seien, dass eine Fülle von Beschwernissen eingehend habe vorgetragen werden können, dass die Verfassungsbestimmungen über die Glaubens- und Gewissensfreiheit als in vollem Umfang fortgeltend ausdrücklich anerkannt seien und dass die Tür zu weiteren Verhandlungen habe offengehalten werden können. Es sei ein Dokument erreicht worden, auf das sich die bedrängten Christen in der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber ihren örtlichen Stellen berufen könnten. Es bestehe die Möglichkeit, dass hiermit eine Phase der Entspannung eingeleitet worden sei.157

Einmütig wurde den auf kirchlicher Seite an den Verhandlungen Beteiligten der Dank aller Anwesenden für die aufopferungsvollen Bemühungen ausgesprochen.158

Im allseitigen Einvernehmen wurde beschlossen, die mit der Verlautbarung des Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik geschaffene Situation mit möglichster Beschleunigung auszuwerten. Die Superintendenten und Pfarrer sollen über das richtige Verständnis der Verlautbarung aufgeklärt werden. Offizielle Erklärungen zu der Verlautbarung sind jedoch zu vermeiden. Die Gemeindeglieder sind zu ermutigen, sich in Bedrängnissen auf ihr von der Verfassung gewährleistetes Recht der Glaubens-und Gewissensfreiheit zu berufen. Die kirchlichen Verwaltungsstellen sollen erneut wegen der sie beschwerenden Angelegenheiten mit den zuständigen staatlichen Behörden Verhandlungen aufnehmen.159

Die Frage der Ausgestaltung der »Berliner Stelle« in der Bischofstraße wird nach Schluss der Sitzung im kleineren Kreise besprochen.160

II. Oberkirchenrat Behm berichtet über das Ergebnis der Umfrage der Kirchenkanzlei bezüglich des Verhältnisses zwischen Kirche und Sekten in der Deutschen Demokratischen Republik.161

Übereinstimmend werden die neuapostolischen Gemeinden162 als stärkste Sektengruppe, es folgen die Adventisten163 und – wenn auch offiziell verboten – die Zeugen Jehovas164 und dann andere kleinere Gruppen.165 Es kann nicht eigentlich von einer Abwanderung der Kirchenchristen in die Sekten gesprochen werden. Ein Kontakt zwischen den Kirchen und den Sekten besteht so gut wie gar nicht, häufiger ist schon eine ausgesprochene Feindschaft gegen die Kirche auf Seiten der Sekten. Staatliche Stellen behandeln teilweise die Sekten etwas freundlicher als die Kirchen, aber nicht generell. Im Augenblick stellen somit die Sekten keine ausgesprochene Gefahr für die Kirchen dar:166 die Kirchen werden die Entwicklung jedoch aufmerksam zu verfolgen haben.

III. Geheimrat D. Dr. Karnatz berichtet über das Ergebnis der Sitzung der Evangelischen Rundfunkkammer Berlin167 vom 11. Juli 1958.168 Es besteht die Absicht, die Evangelische Kirche der Union als Träger der Kammer einzuschalten und mit der VELKD wegen einer Beteiligung an der Arbeit Verhandlungen aufzunehmen. Der Beauftragte für die kirchliche Rundfunkarbeit in der Deutschen Demokratischen Republik soll der Kammer in Zukunft als Gast angehören. Die Kirchliche Ostkonferenz sieht einem abschließenden Bericht über das Ergebnis der z.Z. noch im Gange befindlichen Bemühungen um eine Neugestaltung der Satzung der Rundfunkkammer entgegen.

IV. Kirchenrat Professor D. Rose169 gibt zur Kenntnis, dass die Immatrikulationskontingente der Theologischen Fakultäten in der Deutschen Demokratischen Republik in diesem Jahr bisher noch nicht erfüllt worden sind.170 Die Gliedkirchen werden gebeten, darauf hinzuwirken, dass geeignete Bewerber umgehend bei den Fakultäten und gleichzeitig bei den Bezirken Anträge einreichen.

V. Bischof D. Krummacher und Oberkirchenrat Behm werden gebeten, in Fühlungnahme mit den Theologischen Fakultäten und dem hierfür bereits in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen gebildeten Ausschuss eine Stellungnahme zu der Verpflichtungserklärung der neu immatrikulierten Studenten171 rechtzeitig zum September d. J. auszuarbeiten.

Die nächste Sitzung der Kirchlichen Ostkonferenz wird für Mittwoch, den 27. August 1958, vorgesehen. Zur Vorbereitung dieser Sitzung soll die Erziehungskammer172 bereits am Dienstag, dem 26. August, zusammentreten.173

Ende der Sitzung 18.45 Uhr | Hammer174 | Zu KB I 1468/58 I K

Verzeichnis der Teilnehmer an der 60. Kirchlichen Ostkonferenz in Berlin am 23. Juli 1958

  • 1.

    Vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland

    Bischof D. Dr. Dibelius, Vorsitzender

    Präses Dr. Kreyssig175

    Synodalpräsident Mager176

  • 2.

    Für die Evangelische Kirche der Union

    Präsident Hildebrandt177

    Oberkonsistorialrat Pettelkau

  • 3.

    Für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands

    Vizepräsident D. Dr. Zimmermann

    Oberkirchenrat Dr. Neumann178

    Oberkirchenrat Heidler179

  • 4.

    Für die Evangelische Landeskirche Anhalts

    Kirchenpräsident Schröter180

  • 5.

    Für die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg

    Präses D. Scharf181

    Generalsuperintendent Führ

    Oberkonsistorialrat Kohlbach182

    Oberkonsistorialrat Andler183

  • 6.

    Für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburg

    Landesbischof D. Dr. Beste184

  • 7.

    Für die Pommersche Evangelische Kirche

    Bischof D. Krummacher

    Vizepräsident Woelke185

  • 8.

    Für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens

    Präsident Dr. Harzer186

    Oberlandeskirchenrat Knospe187

  • 9.

    Für die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen

    Oberkonsistorialrat Siebert188

    Oberkonsistorialrat Ammer189

    Propst Zuckschwerdt190

    • 10.

      Für die Evangelische Kirche von Schlesien

    Bischof D. Hornig191

  • 11.

    Für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen

  • -

    Landesbischof D. Mitzenheim

  • 12.

    Für die Evangelische Brüderunität Herrnhut

Bischof D. Vogt192

  • 13.

    Für die Propstei Blankenburg

Propst Seebaß193

  • 14.

    Für das Dekanat Schmalkalden

Kirchenrat Döll194

  • 15.

    Für den Kirchenkreis Ilfeld

Konsistorialrat Ullrich195

  • 16.

    Für die Verwaltungsstellen der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirchenkanzlei – Berliner Stelle –

  • -

    Geheimrat D. Dr. Karnatz

    Oberkirchenrat Behm

    Oberkirchenrat Dr. Hafa196

    Oberkonsistorialrat Dr. Kracker von Schwartzenfeldt197

    Konsistorialrat Hammer

    Kirchenrat Dr. Bartsch198

    Kirchenrat Professor D. Rose

    Landwirtschaftlicher Sachverständiger Dr. Brandes199

  • 17.

    Der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

  • -

    Propst D. Dr.Grüber200

    Pfarrer Schade201

  • 18.

    Als Gäste

    Oberkirchenrat Riedel, München, als Vertreter der Kirchlichen Westkonferenz

    Pastor W. D. Zimmermann als Geschäftsführer der Evangelischen Rundfunkkammer Berlin

Gespräch beim Ministerpräsidenten am 21. Juli 1958 von 11 bis 16 Uhr.

Es nahmen teil:

vonseiten des Staates

  • der Ministerpräsident,

  • Minister Maron,202

  • Staatssekretär Plenikowski,203

  • Staatssekretär Eggerath204 und

  • ein Sekretär;

vonseiten der Kirche

  • Landesbischof D. Mitzenheim,

  • Bischof D. Krummacher,

  • Generalsuperintendent Führ,

  • Propst Hoffmann205 und

  • Herr Gerhard Burkhardt.206

1) Ministerpräsident Grotewohl geht zunächst auf das Schreiben von Landesbischof D. Mitzenheim wegen der Anordnung des Volksbildungsministers vom 12.2.1958 ein.207 Wenn dieses Schreiben von dem Grundsatz der Verfassung ausgehe, dass Staat und Kirche getrennt seien, so müsse man diesen Verfassungsgrundsatz recht auslegen. Die Kirche sei nicht gleichberechtigt dem Staate gegenüber. Es gebe keine kirchliche Autonomie, die nicht unter das Gesetz falle. Der Staat selbst ist das alleinige Machtinstrument. Es gebe keine Sphäre außerhalb des Staates. Die Kirche sei nur im Rahmen der in der Verfassung festgelegten Grundsätze in ihren Angelegenheiten selbstständig. Auch die Religionsgemeinschaften seien an das Gesetz gebunden. Das Interesse des Staates gehe vor. Es bestehe keine Pflicht des Staates für eine amtliche Hilfe für die Kirche. Der Staat wacht darüber, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Zu den Aufgaben des Staates gehört auch die sozialistische Erziehung. Der Art. 40208 könne nicht losgelöst von Art. 39209 ausgelegt werden.

Der Ministerpräsident geht dann auf die einzelnen Punkte des Schreibens von Landesbischof D. Mitzenheim kritisch ein. Interessant ist an seinen Ausführungen, dass er die Bereithaltung von Schulräumen für den Religionsunterricht der Oberschüler ablehnt, weil die Oberschüler religionsmündig seien und wie Kinder behandelt würden, wenn der Staat Räume für diesen Religionsunterricht zur Verfügung stellen würde. Klar kommt zum Ausdruck, dass die Auswahl der Lehrkräfte für die Christenlehre und den Konfirmationsunterricht Angelegenheit der Kirche bleibt und dass der Inhalt des Religionsunterrichts Sache der Kirche bleibt. Voraussetzung sei dabei, dass die Kirche nur solche Kräfte beschäftigt, deren Haltung Gesetzesverletzungen ausschließe. Man wird zu einer tragbaren Regelung kommen. Die Möglichkeit einer Verständigung sei vorhanden.

Im späteren Verlauf des Gesprächs bittet Herr Landesbischof D. Mitzenheim, dass ihm die Stellungnahme zu seinem Schreiben schriftlich zugestellt werden möchte. Dies wird vom Ministerpräsidenten zugesagt.

2) Der Ministerpräsident äußert sich zu dem Schreiben des Landesbischofs D. Mitzenheim gegen die Jugendweihe. Er meint, dass die Frage der Jugendweihe bisher nicht zu den Gesprächsthemen gehört habe, wogegen von unserer Seite eingewendet wird, dass diese Frage einzuschließen sei in die Frage des Gewissensdruckes. Er ist der Meinung, dass der Staat eine Bewegung, die aus der Bevölkerung heraus komme und deren sittliche und wissenschaftliche Ziele den sittlichen und wissenschaftlichen Zielen des Staates entsprechen, im Sinne des Staates sei, unterstützt. Dieses Recht wird er sich nicht nehmen lassen. Wir müssten uns damit abfinden, dass beide Formen (Konfirmation und Jugendweihe) nebeneinander bestünden. Gegen Schluss des Gesprächs wird er von Landesbischof D. Mitzenheim auf diesen Punkt nochmals angesprochen, aber er weist es ab, dazu Stellung zu nehmen, da dafür noch nicht die Zeit gekommen sei. Von unserer Seite wird zum Ausdruck gebracht, dass uns dies äußerst schmerzlich sei. Wir empfinden es als Härte und Unrecht, dass der Staatsapparat mit Presse eingesetzt wird für die Jugendweihe und uns nicht die Möglichkeit gegeben ist, in gleicher Öffentlichkeit für die Konfirmation einzutreten. Es ist nicht tolerant, wenn gesagt wird: Wenn ihr nicht zur Jugendweihe geht, dann ist es fraglich, ob ihr zur Oberschule kommt usw. Es müsste deutlich gesagt werden, Jugendweihe ist keine Staatsangelegenheit, wie es der Ministerpräsident und der Staatssekretär Eggerath in früheren Gesprächen betont haben.

3) Der Ministerpräsident überreicht und verliest seinen Entwurf für eine gemeinsame Erklärung und entschuldigt sich dabei, dass aus Zeitmangel dieser Entwurf nicht, wie in Aussicht gestellt, vorher uns zugeleitet worden sei. Nach der Verlesung des Entwurfs macht Landesbischof D. Mitzenheim zu allen vom Ministerpräsidenten vorgetragenen Punkten längere Ausführungen und weist Darlegungen, mit denen wir nicht einverstanden sind, zurück. Er weist darauf hin, dass die Kirche nicht den Anspruch auf Gleichberechtigung mit dem Staat erhebt, wohl aber, da grundsätzlich Staat und Kirche getrennt sind, als Gesprächspartner mit dem Staat über ihre Angelegenheiten verhandeln möchte. Der Grundsatz, dass der, dem das Land gehört, auch über die Religion der Bevölkerung zu bestimmen habe, sei längst überholt und könne auch im negativen Sinne nicht geltend gemacht werden. Der Staat darf nicht sagen, diese Religion dürft ihr haben, er darf aber auch nicht sagen, diese Religion dürft ihr nicht haben. Der Staat kann nicht sagen, dass Christentum ist falsch. Viele Christen haben den Eindruck, dass sie nicht in Freiheit ihres Glaubens leben können. Es ist nötig, dass dazu ein Wort gesagt wird und dass nach diesem Wort auch verfahren wird. Es steht alles in der Verfassung zwar da, aber auf der unteren Ebene wird nicht danach verfahren.

4) Im Anschluss an seine Ausführungen überreicht und verliest Landesbischof D. Mitzenheim den Entwurf, den am Vormittag die Delegation zu einer gemeinsamen Erklärung kirchlicherseits vorbereitet hat. Der Ministerpräsident erklärt, dass er vom einmaligen Hören nicht ein abschließendes Urteil haben könne, aber er habe den Eindruck, dass hier einfach die gegenteiligen Meinungen dargestellt seien.

5) Staatssekretär Eggerath schildert auf Aufforderung des Ministerpräsidenten das Ergebnis der »Kommissions-Sitzungen«210 über den Brief vom 20. März 1958 und bringt zum Ausdruck, dass das Ergebnis seiner Untersuchung zu allen Punkten so sei, dass die Behauptungen der Kirche nicht stichhaltig seien.211 Die Vertreter der Kirchen hätten dies bei der »Kommissions-Sitzung« zur Kenntnis genommen. Bischof D. Krummacher, Generalsuperintendent Führ und Landesbischof D. Mitzenheim stellen die Dinge richtig. Daraufhin erklärt der Ministerpräsident, dass an diesem Punkt die Verhandlung festgefahren sei. Staatssekretär Eggerath macht längere Ausführungen über sein Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche.

6) Herr Burkhardt, vom Ministerpräsidenten aufgefordert, führt daraufhin aus: Sehen Sie doch in der Kirche nicht so sehr die Institution als vielmehr die Menschen, die ihr angehören. Viele können ihre Beschwernisse nicht in eigener Verantwortung vorbringen, sondern sie gehen zum Pastor und tragen dem vor, was sie sich an anderer Stelle nicht vorzutragen getrauen. Der Pfarrer gibt diese Beschwerde der Kirchenleitung weiter und diese macht sich zum Sprecher der vielen, die vor den staatlichen Stellen den Mund nicht aufzutun wagen (unterschiedliche Behandlung der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen bei Jugendweihe und Konfirmation).

7) Landesbischof D. Mitzenheim weist darauf hin, dass dem Ministerpräsidenten nach seiner Äußerung es um Breitenwirkung dieser Erklärung zu tun sei. Darum müsse in dieser Erklärung deutlich werden, dass die Kirche wirklich zu Worte gekommen ist. Er macht den Vorschlag, dass die Vertreter der Kirche für sich den Entwurf des Ministerpräsidenten durchsprechen. Dieser Vorschlag findet Billigung. Die Vertreter der Regierung ziehen sich zu einer Überprüfung des Entwurfs der Kirche zurück. Die Vertreter der Kirche beraten über die Änderungen des Entwurfs des Ministerpräsidenten, die aus der Anlage 1212 ersichtlich sind.

Nach etwa einer Stunde wird die gemeinsame Besprechung fortgesetzt. Landesbischof D. Mitzenheim gibt die von uns vorgeschlagenen Änderungen bekannt. Darüber entspinnt sich ein langes Gespräch, in dem um die Formulierung der einzelnen Punkte gerungen wird. Es wird vom Ministerpräsidenten Wert darauf gelegt, dass die Formulierungen sich weder im Vokabular der Partei noch in dem der Kirche bewegen, da das Presseamt beim Ministerpräsidenten die Veröffentlichung vornehmen werde. Schließlich stimmen wir, nachdem unsere Abänderungen und Einfügungen weithin angenommen sind, der gemeinsamen Erklärung zu und es wird verabredet, dass die Veröffentlichung am Dienstagabend, dem 22. Juli, vorgenommen werde, kirchlicherseits bis Mittwoch früh keine Veröffentlichung vorgenommen werden soll.

8) Landesbischof D. Mitzenheim bringt hier noch einmal unser Anliegen zur Jugendweihe und zur Lange-Anordnung zur Sprache und drängt darauf, dass bis spätestens zum 1. September d. J. die zugesagten Änderungen der Anordnung des Volksbildungsministers vorliegen müssen.213 Die von Regierungsseite erwartete Zurückhaltung der Schulleiter sei nicht allgemein festzustellen, worüber der Ministerpräsident seine Verwunderung zum Ausdruck bringt.

9) Generalsuperintendent Führ bringt noch unser Anliegen wegen der Gefangenenprüfung zur Sprache. Der Ministerpräsident antwortet, dass die Sache zu allgemein vorgetragen sei, als dass er sich dazu äußern könne. Es stünden die zuständigen Stellen selbstverständlich für unsere Einsprüche und Anliegen nunmehr zu Verfügung.

Generalsuperintendent Führ fragt an im Auftrage der Gemeinden der Kirchenprovinz Brandenburg, ob Bischof D. Dr. Dibelius nicht wieder die Einreise in sein Kirchengebiet und darüber hinaus gestattet werden könne.214 Der Ministerpräsident antwortet, dass dazu zurzeit noch die Voraussetzungen fehlten.

10) Landesbischof D. Mitzenheim fragt, ob in den letzten Satz der gemeinsamen Erklärung auch Gespräche mit dem Ministerpräsidenten selbst eingeschlossen seien. Seine Antwort war sehr zurückhaltend, aber er erklärte sich bereit, wenn neue Schwierigkeiten auftreten würden, die von anderen Stellen nicht bereinigt werden könnten, selbst zur Verfügung zu stehen. Was den Lange-Erlass angehe, so legte er Wert darauf, dass er selbst bei den weiteren Schritten sein Votum gebe.

Ursprünglicher Entwurf des Ministerpräsidenten für eine gemeinsame Erklärung (überreicht am 21.7.1958)

Das Presseamt beim Ministerpräsidenten teilt mit:

Unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl wurden am 2.6., 23.6. und 21.7.1958 Beratungen mit Vertretern der evangelischen Kirchen und der DDR durchgeführt, um störende Faktoren in den Beziehungen zwischen den staatlichen Organen und den Leitungen der evangelischen Kirchen zu beseitigen.

An diesen Beratungen, die vom Geist der Verständigungsbereitschaft getragen waren, nahmen außer dem Ministerpräsidenten der Minister des Innern Maron, der Staatssekretär für Kirchenfragen Eggerath, der Staatssekretär und Leiter des Büros des Präsidiums des Ministerrats Plenikowski, vonseiten der evangelischen Kirchen in der DDR die Bischöfe D. Mitzenheim und D. Krummacher, Generalsuperintendent Führ, Propst Hoffmann und Herr Gerhard Burkhardt teil.

Zur Vorbereitung dieser Beratungen fanden außerdem bei dem Staatssekretär für Kirchenfragen mehrere Besprechungen statt, an denen weitere Vertreter des Staates und der Kirchen teilnahmen.

Der im Jahre 1957 zwischen der evangelische Kirche (EKD) und der Deutschen Bundesrepublik abgeschlossene Militärseelsorgevertrag und dessen politische und staatsrechtliche Auswirkungen nahmen in den Beratungen einen breiten Raum ein.215 Nach längerer Erörterung dieser Frage erklärten die Vertreter der evangelischen Kirchen, dass sie sich in der DDR nicht an diesen Vertrag gebunden fühlen und dieser für die evangelischen Kirchen und ihre Geistlichen in der DDR nichtig sei.

Die Vertreter der evangelischen Kirchen in der DDR erklärten ihre grundsätzliche Übereinstimmung mit der Friedenspolitik der Regierung der DDR und die Bereitschaft, auf der Grundlage der Gesetzlichkeit die staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen, die Entwicklung zum Sozialismus zu respektieren und zum Aufbau beizutragen.216

Die Besprechungen der von den Vertretern der evangelischen Kirchen vorgetragenen Beschwerden führten zu dem Ergebnis, dass der gegen den Staat erhobene Vorwurf des Verfassungsbruches unberechtigt ist.217 Es wurde festgestellt, dass die in dem Schreiben der evangelischen Kirchenleitungen vom 20.3.1958 vorgetragenen Beschwerden einer Überprüfung nicht standhalten und im Wesentlichen auf unzutreffenden und lückenhaften Informationen beruhen.218

Soweit von den Vertretern der Kirchen Beschwerden über die Durchführung der Anordnung des Ministers für Volksbildung vom 12.2.1958 über die Sicherung der Ordnung und Stetigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozess der allgemeinbildenden Schulen vorgetragen wurden, ist eine Überprüfung zugesagt.

Die Regierung der DDR beabsichtigt nicht, die Glaubens- und Gewissensfreiheit oder die Religionsausübung zu verändern. Die Klärung und Erledigung noch offener Einzelfragen wurden dem Staatssekretär für Kirchenfragen und den dafür infrage kommenden Organen des Staates überwiesen. Beide Seiten erklärten ihre Bereitwilligkeit, durch klärende Aussprachen etwaige Missstände in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu beseitigen.

In den letzten Wochen fanden auf kirchlichen Wunsch eingehende Besprechungen zwischen der Regierung und Vertretern der evangelischen Landeskirchen im Bereich der Deutschen Demokratischen Republik statt mit dem Ziel, das gegenwärtige Verhältnis zwischen Staat und Kirche einer Entspannung entgegenzuführen.

Die Vertreter der Evangelischen Kirche brachten im Laufe dieser Besprechungen eine Reihe von Vorgängen zur Sprache, die seitens der Kirche als beschwerliche und ungerechte Maßnahmen empfunden werden. Insbesondere erklärten die kirchlichen Vertreter, dass die christliche Kirche mit aufrichtigem Bedauern feststellen muss, dass Gewissenskonflikte für christliche Staatsbürger unvermeidlich entstehen, wenn sich der Staat die materialistisch-atheistische Grundlage der staatstragenden Partei, die in einem nicht zu überbrückenden Gegensatz zum christlichen Glauben steht, im Staats- und Gesellschaftsleben zu eigen macht.

Seitens der Regierung wurde dazu erklärt, dass die verfassungsmäßig zugesicherte Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Bürger gilt und dass irgendeine Verletzung der freien Gewissensentscheidung christlicher Staatsbürger von der Regierung nicht gebilligt werden kann.

Aufgrund dieser Erklärung stellten die Vertreter der Kirche ihrerseits klar, dass es nicht in ihrem Sinne ist, wenn der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik der Vorwurf des Verfassungsbruchs gemacht wird.

Im Verlauf der in freundlicher Atmosphäre geführten Besprechungen wurden seitens der Regierung die entscheidenden Lebensfragen des deutschen Volkes eingehend dargelegt. Dabei wurden auch die durch den Abschluss des westdeutschen Militärseelsorgevertrages entstandenen ernsten Schwierigkeiten erörtert.

Seitens der Kirche wurde dazu erklärt, dass die evangelischen Landeskirchen im Bereich der Deutschen Demokratischen Republik von dem Militärseelsorgevertrag nicht betroffen sind. Wenn der Kirche der Vorwurf gemacht werde, sie unterstütze die NATO, so erklärten die Vertreter der Kirche, dass die Kirche in ihrem Wesen gemäß an keine politische Konzeption und darum auch nicht an die Politik der NATO gebunden sei. Die evangelischen Christen sehen gemäß den Weisungen der Heiligen Schrift in der Staatsmacht der DDR die ihnen von Gott gesetzte Obrigkeit; sie haben den Willen, in der Bindung an Gottes Gebote ihre Pflichten als Staatsbürger im Rahmen der Gesetze des Staates zu erfüllen und den friedlichen Aufbau des Volkslebens zu fördern.

Die Kirche sieht ihre Aufgabe darin, den Menschen mit dem Evangelium zu dienen, und wird daher gegen jede Gefährdung und Entwürdigung des Menschen ihre Stimme erheben. Deshalb tritt die Kirche auch, in Fortsetzung der bisherigen Synodalbeschlüsse und ökumenischen Erklärungen, mit aller Entschiedenheit für den Frieden ein und wird weiterhin alles tun, um mit den ihr gemäßen Mitteln dem Frieden zwischen den Völkern zu dienen.

Von den Vertretern der Regierung wurde in Aussicht gestellt, in gemeinsamer Beratung mit Vertretern der Kirche eine Reihe von Einzelfragen, z. B. der Anstaltsseelsorge und des kirchlichen Schrifttums wohlwollend zu überprüfen, um damit die beiderseits erstrebte Entspannung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche zu fördern. Insbesondere wurde zugesagt, dass die Anordnung des Volksbildungsministers vom 12.2.1958 so ergänzt werden wird, dass dadurch nicht die kirchliche Unterweisung beeinträchtigt wird. Hinsichtlich der Jugendweihe ergab die Besprechung Übereinstimmung der Beteiligten darin, dass die Jugendweihe keine staatliche Einrichtung sei und dass daher die Werbung zur Teilnahme nur auf freiwilliger Basis und nicht mit staatlichen Maßnahmen erfolgen soll.

Das Presseamt219 beim Ministerpräsident teilt mit:220

Unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl wurden am 2.6., 23.6. und 21.7.1958 auf kirchlichen Wunsch Beratungen mit Vertretern der evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik durchgeführt, um störende Faktoren in den Beziehungen zwischen den staatlichen Organen und den Leitungen der evangelischen Kirchen zu beseitigen.

An diesen Beratungen, die vom Geiste der Verständigungsbereitschaft getragen waren, nahmen außer dem Ministerpräsidenten der Minister des Innern Maron, der Staatssekretär für Kirchenfragen Eggerath, der Staatssekretär und Leiter des Büros des Präsidiums des Ministerrats Plenikowski und vonseiten der evangelischen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik die Bischöfe D. Mitzenheim und D. Krummacher, Generalsuperintendent Führ, Propst Hoffmann und Maschinenschlosser Gerhard Burkhardt teil. Zur Vorbereitung dieser Beratungen fanden außerdem beim Staatssekretär für Kirchenfragen mehrere Besprechungen statt, an denen weitere Vertreter des Staates und der Kirchen teilnahmen.

Der im Jahre 1957 zwischen der evangelischen Kirche (EKD) und der Deutschen Bundesrepublik abgeschlossene Militärseelsorgevertrag221 und dessen politische und staatsrechtliche Auswirkungen nahmen in den Beratungen einen breiten Raum ein. Nach längerer Erörterung dieser Frage erklärten die kirchlichen Vertreter, dass die Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik an diesen Vertrag nicht gebunden sind und dass der Militärseelsorgevertrag222 für die Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik und für deren Geistliche keine Gültigkeit hat.

Die Vertreter der evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik erklärten, dass die Kirche mit den ihr gegebenen Mitteln dem Frieden zwischen den Völkern dient und daher auch grundsätzlich mit den Friedensbestrebungen der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Regierung übereinstimmt. Ihrem Glauben entsprechend erfüllen die Christen ihre staatsbürgerlichen Pflichten auf der Grundlage der Gesetzlichkeit. Sie respektieren die Entwicklung zum Sozialismus und tragen zum friedlichen Aufbau des Volkslebens bei.223

Die Besprechung der von den Vertretern der evangelischen Kirchen vorgebrachten Beschwerden führte zu dem Ergebnis, dass der gegen den Staat erhobene Vorwurf des Verfassungsbruchs nicht aufrechterhalten wird. Die Regierung erklärte: Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik.

Soweit von den Vertretern der Kirchen Beschwerden über die Durchführung der Anordnung des Ministers für Volksbildung vom 12.2.1958 über die Sicherung der Ordnung und Stetigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozess der allgemeinbildenden Schulen vorgetragen wurden, ist eine Überprüfung zugesagt.

Die Klärung und Erledigung noch offener Einzelfragen wurden dem Staatssekretär für Kirchenfragen und den dafür infrage kommenden Organen des Staates überwiesen. Beide Seiten erklärten ihre Bereitwilligkeit, durch klärende Aussprachen etwaige Missstände in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu beseitigen.

Berlin, den 21. Juli 1958

Anlage 4 zur Information Nr. 251/59

Anweisung der 61. kirchlichen Ostkonferenz vom 27. August 1959

Betreff: Anordnung des Ministers für Volksbildung vom 12. Februar 1958

Im Kommuniqué vom 21. Juli 1958 heißt es:

Soweit von den Vertretern der Kirchen Beschwerden über die Durchführung der Anordnung des Ministers für Volksbildung vom 12. Februar 1958 über die Sicherung und Stetigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozess der allgemeinbildenden Schulen vorgetragen wurden, ist eine Überprüfung zugesagt.

Die Erledigung dieser Angelegenheit hat der Herr Ministerpräsident sich selbst vorbehalten. Da er bis Mitte September im Urlaub ist, werden wir uns bis dahin gedulden müssen. Es geht nicht an, dem Ministerpräsidenten vorzugreifen. Schon jetzt aber kann Folgendes mitgeteilt werden:

1) Es ist zu erwarten, dass das Kommuniqué mit seinem Hinweis auf die bevorstehende Überprüfung der Durchführung der Anordnung schon jetzt seine Wirkung hat.

2) Auf der Grundlage der Gespräche zwischen Staat und Kirche sind von Regierungsseite bereits Vorschläge gemacht und Maßnahmen eingeleitet worden.

3) Das Ministerium für Volksbildung hat in internen Besprechungen mit seinen Organen über die Angelegenheit beraten und Maßnahmen veranlasst.

Den Superintendenten, Pfarrern und Katecheten wird anheimgestellt, gegenüber den Schulleitern und Lehrern, wo Veranlassung dazu gegeben ist, diese Mitteilung auszuwerten, um in gemeinsamer Sorge für unsere Kinder die geordnete Weiterführung der Christenlehre, wie sie in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vorgesehen ist, zu sichern.

Anlage 5 zur Information Nr. 251/59

Brief der evangelischen Bischöfe an den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl

Berlin, den 15. April 1959 | An den | Vorsitzenden des Ministerrats der | Deutschen Demokratischen Republik | Herrn Ministerpräsidenten Otto Grotewohl | Berlin

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident!

Am 23. März dieses Jahres haben Sie in öffentlicher Rede vor den Berliner Künstlern und Kulturschaffenden aus grundsätzlicher Einstellung eine Antwort an die Kirche gegeben.224 Sie haben sich dabei auf das Kommuniqué vom 21. Juli 1958 bezogen und es als eine geeignete Grundlage für die sachliche Klärung aller Probleme zwischen Staat und Kirche bezeichnet.

Auch die Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik haben die Absicht des Kommuniqués so verstanden und sich bemüht, es in diesem Sinne zu handhaben. Sie haben zu ihrem schmerzlichen Bedauern erfahren, dass die Klärung und Erledigung offener Einzelfragen, wie das Kommuniqué sie dem Staatssekretär für Kirchenfragen zugewiesen hat, seit Monaten weithin nicht möglich waren und dass ihnen ein Weg zu den anderen infrage kommenden Organen des Staates trotz ständiger dringender Vorstellungen – von Einzelfällen abgesehen – nicht eröffnet wurde.

Wir meinen, Ihnen nicht verschweigen zu dürfen, dass wir durch diese Erfahrung, die wir Ihnen vielfach belegen können, enttäuscht sind, und dass der Wert der im vergangenen Sommer mit Ihnen, hochverehrter Herr Ministerpräsident, geführten eingehenden Verhandlungen davon tangiert wird.

Ihre Rede enthält nicht nur in dem Teil, in dem Sie sich ausdrücklich an uns wenden, Aussagen über den Menschen, über das Ziel seiner Erziehung in der neuen Gesellschaft, über Recht und Grenze seines Gewissens, die in schroffem Gegensatz zu dem stehen, woran der Christ in seinem Glauben gebunden ist.

Um des Verhältnisses der Kirche zum Staat und um der Ihnen und uns anvertrauten Menschen willen halten wir ein erneutes Gespräch mit Ihnen für unerlässlich. Wir sehen es umso dringlicher an, als wir mit Ihnen darin einig sind, dass die gegenwärtige Stunde für unser Volk und den Frieden der Völker von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb bitten wir Sie, einen möglichst naheliegenden Termin für ein solches Gespräch zu benennen.

Mit vorzüglicher Hochachtung | namens der Kirchenleitungen der Evangelischen Kirchen in | der Deutschen Demokratischen Republik

D. Mitzenheim | D. Noth225

D. Dr. Beste| H. Fleischhack226

D. Krummacher | W. Schröter

D. Scharf | D. Hornig

Anlage 6 zur Information Nr. 251/59

»Offener Brief« des Bischofs Dibelius an den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl

Pressestelle | der Evangelischen Kirchenleitung | Berlin-Brandenburg Berlin-Charlottenburg, den 29.4.1959 | Jebensstraße 1, Aufg. 8 | Tel.: 32 63 43

Der Evangelische Bischof von Berlin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland D. Dr. Otto Dibelius hat einen »offenen Brief« an den Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik Otto Grotewohl gesandt.227 Der Brief ist vom 20. April 1959 datiert und wurde dem Ministerpräsidenten am 23. April 1959 überbracht. Er hat folgenden Wortlaut:

Der evangelische Bischof von Berlin | Berlin-Dahlem, den 20. April 1959

Faraday-Weg 10

Offener Brief | an Herrn Ministerpräsident Grotewohl

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!

Sie wollen mir gestatten, mich mit diesem offenen Brief an Sie zu wenden. Da die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik es ablehnt, mit kirchlichen Stellen zu verhandeln, die ihren Wohnsitz in Westberlin haben, bleibt mir kein anderer Weg, so ungern ich ihn auch gehe.

Am 29. März gab das Neue Deutschland den Wortlaut der Rede bekannt, die Sie einige Tage vorher vor Berliner Künstlern und Kulturschaffenden gehalten hatten. In dieser Rede haben Sie sich mit dem Verhältnis des Staates zur Kirche beschäftigt und haben dabei auf das Kommuniqué vom 21. Juli 1958 hingewiesen.

Wie Sie wissen, sind gegen dies Kommuniqué alsbald nach seiner Veröffentlichung bei den Leitungen der Kirchen ernste Bedenken laut geworden. Ich selbst habe mich, obwohl ich manche dieser Bedenken teilte, am 31. August 1958 vor einer großen Öffentlichkeit ohne Vorbehalt zu dem Kommuniqué bekannt, um den guten Willen der Kirche zu bezeugen.

Ich stelle auch fest, dass seither für die kirchliche Arbeit gewisse Erleichterungen eingetreten sind, die ich auf Ihre Anordnung, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, zurückführen darf. An entscheidenden Punkten sind freilich die Beschwernisse der Kirche nicht ausgeräumt worden.

Nun ist Ihre Rede hinzugekommen. Diese Rede hat durch ihren grundsätzlichen Inhalt überall in der Deutschen Demokratischen Republik bei der christlich gesinnten Bevölkerung eine tiefe Beunruhigung hervorgerufen.

Sie haben ausgeführt, dass dem Sozialismus die Zukunft gehöre, und dass sich dieser Sozialismus auf den Lehren des dialektischen Materialismus aufbaue. Dieser dialektische Materialismus, so sagen Sie, sei Grundlage aller echten wissenschaftlichen Erkenntnis, wie denn auch umgekehrt alle exakte wissenschaftliche Erkenntnis in den dialektischen Materialismus einmünden müsse.

Nun ist es nicht Aufgabe der Kirche, zu Grundsätzen wissenschaftlicher Forschungsarbeit Stellung zu nehmen. Das Evangelium, das die Kirche verkündigt, bleibt von diesen Grundsätzen unberührt. Wir stellen nur fest, dass naturwissenschaftliche Gelehrte, die in der ganzen Welt das höchste Ansehen genießen, den dialektischen Materialismus ablehnen und der Meinung sind, dass das damit gegebene Erkenntnisprinzip in der Entwicklung unserer Wissenschaft längst überholt sei.

Wenn nun aber von diesem Prinzip her eine Weltanschauung entwickelt wird, die das gesamte Leben der Menschen in Theorie und Praxis bestimmen soll, dann sieht sich die christliche Kirche allerdings gefordert. Denn darüber herrscht allgemeines Einverständnis, dass die Weltanschauung des dialektischen Materialismus weder für Gott noch für das Evangelium von Jesus Christus Raum hat. Sie selbst, Herr Ministerpräsident, vermeiden zwar in Ihrer Rede das Wort »atheistisch«. Dass aber eine atheistische Weltanschauung und nichts anderes gemeint ist, ergibt sich aus dem ganzen Zusammenhang der Rede und wird an einzelnen Stellen klar angedeutet. Dadurch wird Ihre Rede zu einer Proklamation atheistischer Denkweise von Staats wegen. Der Staat setzt sich damit in Widerspruch zu seiner christlich gesinnten Bevölkerung. Bitte, täuschen Sie sich nicht darüber: ein atheistischer Staat kann für den Christen niemals zu einer inneren Heimat werden!

Dieser Gegensatz wird vollends deutlich bei dem, was Sie über die Sittlichkeit sagen. Sie glauben, feststellen zu sollen: »Sittlich ist, was der Sache des Sozialismus dient!« Dieser Satz ruft peinliche Erinnerungen wach an die Losung der Nationalsozialisten: »Gut ist, was dem deutschen Volke nützt!« Die christliche Kirche hat jenem Satz damals mit Ernst und Freimut widersprochen. Sie muss auch Ihrer Formulierung widersprechen. Was gut und böse, sittlich und unsittlich ist, bestimmt der lebendige Gott allein, kein Mensch, keine Bewegung, keine Klasse und keine Weltanschauung. Maßstab des Sittlichen sind die Zehn Gebote und die Weisungen des Evangeliums. Neue Zehn Gebote, die von Menschen verfasst sind, wird die Christenheit nie entgegennehmen, und niemals wird ihr das als sittlich gelten, was einer menschlich-irdischen Bewegung nützt. Wenn also, um das an einem Beispiel deutlich zu machen, die nationalen Streitkräfte der Deutschen Demokratischen Republik von ihren Kommandostellen aufgerufen werden, die andersdenkende Welt zu hassen, so kann die Christenheit Deutschlands dazu nur ihr bestimmtes und unaufgebbares Nein sprechen!

Deshalb müssen wir uns auch dagegen wehren, dass eine sogenannte Sittlichkeit des Sozialismus, um mit Ihren Worten zu reden, »die Grundlage der moralischen Erziehung und Bildung der Jugend« sein müsse. Wir bestehen darauf, dass unsere Kinder im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam gegen seine Gebote erzogen werden, nicht aber in einer Moral, die aus dem dialektischen Materialismus abgeleitet wird. Wir nehmen das für uns in Anspruch kraft der »vollen Glaubens- und Gewissensfreiheit«, die jedem Bürger der Deutschen Demokratischen Republik durch die Verfassung garantiert und in dem Kommuniqué vom 21. Juli noch einmal ausdrücklich zugesichert worden ist.

Wir wissen uns mit Ihnen darin einig, dass im Unterricht der Schule eine konsequente Wissenschaftlichkeit herrschen soll – wenn das auch nicht der einzige Leitgedanke der Erziehung sein kann. Aber wo Wissenschaftlichkeit zum weltanschaulichen Dogma wird, da überschreitet sie ihre Grenzen. Und wo ein solches weltanschauliches Dogma dann den Kindern mit robuster Selbstherrlichkeit vorgetragen wird, da fordert das notwendig den Protest des christlichen Elternhauses heraus. Von einem Einklang zwischen häuslicher und schulischer Erziehung, wie wir ihn mit Ihnen wünschen, kann solange nicht die Rede sein, als Kindern, die in ihrem Elternhaus beten gelernt haben, in der Schule erklärt wird: einen Gott gebe es nicht; das habe die Wissenschaft bewiesen! Wissenschaft erweist ihre Echtheit nicht zuletzt darin, dass sie gegenüber dem, was kein menschlicher Verstand erforschen kann, demütige Zurückhaltung an den Tag legt.

Was wir begehren, sind nicht Vorrechte gegenüber solchen, die unseren Glauben nicht teilen. Wir begehren lediglich das Eine, dass der Staat nicht mit den Machtmitteln, die ihm zur Verfügung stehen, dem Atheismus den Weg bereitet und den christlichen Glauben in den Winkel zu drücken versucht. Sie, Herr Ministerpräsident, sagen: »Glaubens- und Gewissensfreiheit heißt, dass jeder Bürger selbst entscheiden kann, in welcher Weise er seine Eheschließung oder die Namensgebung eines Kindes begehen will, ob ein Kind an der Jugendweihe, an der Konfirmation oder an beidem teilnimmt.« Über das »oder an beidem« werde ich gleich ein Wort sagen. Dass freie Entscheidung herrschen soll, kann die Kirche nur bejahen.

Es ist aber keine freie Entscheidung mehr, wenn der Staat alle Mittel der Propaganda gegen die Einrichtungen der Kirche in die Waagschale wirft. Unausgesetzt haben Lehrer, Parteifunktionäre und andere die Eltern und die Kinder bearbeitet, sie müssten den Weg der Jugendweihe gehen, weil nur dieser Weg zur Oberschule und zur Hochschule, zu Lehrstellen und Fachschulen führe. Die Presse, die in der Deutschen Demokratischen Republik nach staatlicher Anordnung zu arbeiten hat, muss auf jede Weise für die Jugendweihe Propaganda machen. Die Wirtschaft desgleichen. In den staatlichen Internaten wird nicht nur kein Religionsunterricht gestattet, sondern die Kinder werden geschlossen der Jugendweihe zugeführt. Jetzt hat sogar die Post besondere Briefmarken und Telegrammformulare zur Jugendweihe herausgebracht. Und die Konfirmation?

Nein, Herr Ministerpräsident, es ist genau umgekehrt, wie Sie es darstellen. Nicht die Kirche versucht, eine Monopolstellung für sich zu fordern, sondern es ist der Staat, der Einrichtungen, die aus dem Gegensatz gegen die christliche Sitte hervorgegangen sind, unter Einsatz seiner Machtmittel Geltung zu schaffen sucht.

Und was das »oder an beidem« anlangt, so sind die Leitungen aller Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik zu der Erkenntnis gekommen, dass Jugendweihe und Konfirmation einander ausschließen – was ja auch von den Propagandisten der Jugendweihe im Grunde nicht bestritten wird. Amtshandlungen der Kirche können nicht vollzogen werden, wenn das betreffende Gemeindeglied sich wenige Tage vorher oder nachher zu einer entgegengesetzten Lebenshaltung bekennt.

Die Amtshandlungen der Kirche sind nicht öffentliche Theatervorstellungen, zu denen jedermann Zutritt verlangen kann, sondern sie sind Feiern, die auf einer Gemeinschaft des Glaubens beruhen. Die Kirche nötigt niemanden; sie lässt sich aber auch von niemandem nötigen.

Ich breche ab – so viel zu Einzelheiten Ihrer Rede auch noch zu sagen wäre.

Das Gefühl, dass die treuen Glieder der christlichen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik als Bürger zweiter Klasse gelten, gräbt sich immer tiefer ein. Wollen Sie diese Entwicklung wirklich weitergehen lassen?

Ich bin mit angelegentlicher Empfehlung

Ihr ganz ergebener | gez. Dibelius

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