Probleme des Bauwesens bei Verwirklichung des Chemieprogramms
1. Dezember 1959
Information Nr. 858/59 – [Bericht über] einige Probleme des Bauwesens bei der Verwirklichung des Chemieprogramms
Vorliegende Berichte geben keinen Gesamtüberblick über die dem Bauwesen bei der Verwirklichung des Chemieprogramms entstehenden Probleme, weisen aber doch auf einige Schwächen in der Projektierung, Planerfüllung und im Arbeitskräfteeinsatz hin, die eine termingerechte Erfüllung der Bauvorhaben infrage stellen können.1
So wurde z. B. gegenwärtig die Vorbereitung der Investitionsmaßnahmen für das Erdölkombinat Schwedt durch die vom Planträger noch nicht ausgearbeitete und bestätigte volkswirtschaftliche Aufgabenstellung erschwert.2 Auch sei die 1959 erarbeitete und an die Staatliche Plankommission3 eingereichte Vorplanung noch nicht bestätigt worden. Dadurch würden gegenwärtig alle Projektierungen am Erdölkombinat Schwedt ungesetzlich erfolgen und gegen die neue Projektierungsordnung verstoßen, die besage, ohne Klarheit über die Grundsatzfragen dürfe keine Projektierung erfolgen. Von der Ingenieur-Zentrale (IZ) Böhlen, die sich mit der Projektierung des Erdölkombinats Schwedt beschäftigt, sollen gegenwärtig bereits für 63 Millionen DM4 Investwert Projekte vorliegen.5
Die Ursache für die bisherige Nichtbestätigung der Aufgabenstellung und der Vorplanung sei in der Unklarheit zu suchen, ob das Erdöl aus der Sowjetunion in entsalzter oder nichtentsalzter Form geliefert werde. Dadurch würde gegenwärtig die Projektierung stark beeinflusst. Außerdem könne das zu Terminschwierigkeiten führen. Durch diese fehlenden vertraglichen Bindungen habe z. B. für die erste Aufbaustufe eine Entsalzungsanlage projektiert werden müssen, um das bis 1965 gelieferte Erdöl entsalzen zu können. Für die Projekte der folgenden Aufbaustufen müsste jedoch diese Frage geklärt werden, um zu entscheiden, ob die Projektierung weiterer Entsalzungsanlagen erforderlich sei. Würden langfristige Verträge mit der Sowjetunion garantieren, dass das Werk entsalztes Erdöl erhält, so wäre der Bau der Entsalzungsanlage, die nach unverbindlichen Schätzungen von Experten rd. vier Millionen DM Investgelder erfordert habe, nicht nötig gewesen.
Durch die Nichtbestätigung der Aufgabenstellung und der Vorplanung könnten auch erneute Änderungen den gesamten Projektierungs- und Bauablauf auf das Gröbste beeinflussen. Eine Änderung der Vorplanung habe z. B. auch Veränderungen in den, dem Maschinenbau übergebenen Unterlagen zur Folge, wodurch vonseiten des Maschinenbaues erhebliche Schwierigkeiten eintreten könnten. Die derzeitigen Absprachen mit dem Maschinenbau würden alle auf dieser eingereichten und noch nicht bestätigten Vorplanung und den bis dahin erarbeiteten informatorischen Ausrüstungs- und Maschinenlisten erfolgen.
Noch krasser als beim Objekt des Erdölwerkes Schwedt sollen sich diese Schwierigkeiten bei den übrigen Großvorhaben des Siebenjahresplanes,6 besonders bei dem Aromatenprogramm7 mit einem Wertumfang von ca. 150 Millionen DM auswirken.8 Dieses Programm umfasse die Werke Böhlen,9 Zeitz,10 Schwedt, Leuna,11 Gölzau12 und Espenhain.13 Für dieses komplexe Vorhaben gebe es ebenfalls noch keine volkswirtschaftliche Aufgabenstellung, sondern nur einige technologische Vorstellungen, um einzelne Teilvorhaben zu lösen, die jedoch nicht die letzte Konsequenz für die Gestaltung des gesamten Aromatenprogramms beinhalten. Beim Faserkombinat Guben14 soll die Vorplanung ausschließlich mit geschätzten und angenommenen Werten erfolgen, wodurch die Gesamtkonzeption des Vorhabens noch unklar wäre. Dadurch könnten zahlreiche Mängel und Gefahrenpunkte auftreten. Experten weisen darauf hin, dass die Rohstoffgrundlage nicht gesichert ist. Zurzeit sei das Kapazitätsprofil noch unklar, weil die Produktion von Lanonfeinseide nicht enthalten ist.15 Es erfolge auch keine klare und abgestimmte Auslegung der Teilanlagen des Vorhabens, wodurch sich bei verschiedenen Teilanlagen, z. B. dem Kraft- und Wasserwerk, erhebliche Disproportionen ergeben würden. Ferner sei die arbeitsmäßige Auslegung der Anlage nicht genügend überprüft worden. Nach groben Überrechnungen von Experten könnten allein durch Umstellung der Dederon-Anlage auf 24 Stunden Betrieb ca. 20 Millionen DM eingespart werden.16 Bisher wäre über diese Frage noch keine Entscheidung getroffen worden. Ähnlich soll es sich mit den Vorhaben Silikon Nünchritz,17 Bleicherdewerk Nünchritz,18 Superphosphat Salzwedel,19 Duxalkyd Zwickau,20 Borax-Frittenanlage Schönebeck21 und Gelatinewerk Calbe22 verhalten, deren Vorplanung ebenfalls auf nicht ausgereiften Versuchsergebnissen der Produktionsverfahren bzw. technologischen Verfahren basieren würde.
Auf der Baustelle Schwedt weist die Planerfüllung 1959 bauseitig eine Untererfüllung von ca. 255 TDM aus. Beim Industriehochbau und Straßenbau würde aufgrund einer eingetretenen Kapazitätsverschiebung die Untererfüllung sogar über 600 TDM ausweisen. Der VEB Bagger- und Förderarbeiten Berlin beabsichtige dagegen mit 600 TDM zu erfüllen. Diese sollen jedoch aus Mehrkosten resultieren, ohne, dass dafür entsprechende Mehrleistungen gebracht würden. Die Ursache dafür liege darin, dass sich die Aufbauleitung nicht genügend eingesetzt habe, um den im Februar 1959 zwischen der Aufbauleitung, der Bauleitung des VEB Bau- und Montagekombinats Chemie (BMK),23 der Ingenieur-Zentrale Böhlen und dem VEB Ingenieur- und Projektierungsbüro Leipzig24 festgelegten Bauablauf einzuhalten. So sei z. B. für das provisorische Heizhaus eine Baustraße für 60 TDM angelegt worden, die 1960 wieder weggerissen werden muss. Die endgültige Straße zum Heizhaus konnte nicht gebaut werden, weil die Rodungsarbeiten nicht rechtzeitig durchgeführt wurden.
Hinsichtlich der Planauflage für 1960 bestünden ebenfalls noch verschiedene Unklarheiten. Zum Beispiel wären auf der Baustelle Schwedt für 1960 Bauarbeiten in Höhe von 25 Millionen DM erforderlich, damit das Werk 1963 die Produktion aufnehmen könne. Beauftragt sei der VEB BMK Chemie aber nur mit 15 Millionen DM. Die restlichen 10 Millionen würden aus dem Dispositionsfonds der Staatlichen Plankommission bereitgestellt. Eine schriftliche Zusage darüber liege bisher nicht vor. Für diese 10 Millionen DM dürften aber auch noch keine Lieferverträge über Baumaterialien abgeschlossen werden, wodurch im Laufe des Jahres 1960 Materialschwierigkeiten besonders bei Betonfertigteilen auftreten werden. Auch die Pläne für den Arbeitskräfte- und Maschineneinsatz richteten sich gegenwärtig nach der Auflage von 15 Millionen DM.
Ähnlich sei die Situation auf den Baustellen in Leuna und Guben, wo je 6 Millionen DM und Buna,25 wo 2 Millionen DM noch nicht beauftragt wären. Als gefahrvoll wird die Lage bei der Realisierung der Termine für das SU-Programm Buna betrachtet.26 Obwohl dafür die Unterlagen fertig seien, würde es hier auf den Baustellen vor allem an Arbeitskräften, Maschinen, Geräten und Baumaterialien fehlen.
Die Erfüllung der dem VEB BMK Chemie gestellten Planaufgaben wird zzt. auch durch Fluktuation der Arbeitskräfte erschwert. Diese Fluktuation ist vorwiegend bei den, auf Beschluss des Ministerrats, aus den Bezirken zum VEB BMK Chemie delegierten Arbeitskräften zu verzeichnen: Erschwerend wirke sich dabei aus, dass in der Mehrzahl keine Fachkräfte delegiert würden und diese Delegierten in den Bezirken weniger durch Überzeugungsarbeit als mehr durch unreale Versprechungen für die Arbeit im VEB BMK gewonnen würden. Ferner beständen Unklarheiten über die Entlohnung. So z. B. darüber, wie die Entlohnung von Mitgliedern der LPG erfolge. In Coswig sei den Mitgliedern aus der LPG zugesagt worden, ihnen den Gewinnanteil ihrer Arbeitseinheiten als Ausgleich zu zahlen. Weiterhin müsste geklärt werden, welcher Betrieb die Lohnzahlung zu übernehmen habe und wer die Differenzen zwischen erarbeiteten und bisherigen Lohn trage und für welchen Zeitraum diese Maßnahmen gelten. Das EKB Bitterfeld27 z. B. trage nur für ein Vierteljahr die Differenz zwischen altem und neuem Lohn. Mit dem Wegfall des Ausgleiches gingen meistens auch die Arbeitskräfte.
Zu all diesen Fragen fehle bisher eine klare Stellungnahme des Ministeriums der Finanzen. Zurzeit würden die vielen Auslegungsvarianten keine Gewähr für eine Einhaltung des Lohnfonds bzw. eine strenge Kontrolle darüber bieten.