Schwächen und Mängel in der Durchführung des Chemieprogramms (1)
12. März 1959
Information Nr. 103/59 – Bericht über einige Schwächen und Mängel in der Durchführung des Chemieprogramms
Aus vorliegenden Informationen sind eine Reihe von Schwächen und Mängel in der bisherigen Durchführung des Chemieprogramms1 bekannt geworden, die sich auf die Erfüllung der Aufgaben negativ auswirken können oder schon auswirkten. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Informationen keine umfassende Einschätzung der bisher aufgetretenen Missstände ermöglichen, sondern sich nur auf einzelne Probleme beschränken und auch nur unter diesem Gesichtspunkt auswertbar sind.
Als wesentlicher Mangel ist nach den Informationen die Auffassung verantwortlicher Funktionäre – besonders auf dem Gebiet der Projektierung – anzusehen, beim Bau der Chemie-Werke und -Anlagen die sogenannte »gleitende Projektierung« anzuwenden.2 In der Begründung für die Anwendung dieser Methode – Beginn der Arbeit ohne vorliegende fertige Projekte – wird immer wieder angeführt, dass auf dieser Grundlage die bereits vorhandenen Chemie-Werke aufgebaut worden wären und bei Nichtanwendung der »gleitenden Projektierung« die Termine des Chemie-Programms nicht eingehalten werden könnten. Diese weit verbreiteten Auffassungen, mehr oder weniger ohne Rücksicht auf große Unkosten und anarchische Zustände in der Projektierung die »gleitende Projektierung« anzuwenden, haben bereits dazu geführt, dass bei der Staatlichen Plankommission3 ca. 500 Anträge für Ausnahmegenehmigungen bei der Projektierung vorliegen. Unter anderem wurde bekannt, dass auch der stellvertretende Leiter der Buna-Werke, Dr. Moll,4 die Meinung vertritt, bei den Chemieprojekten die »gleitende Projektierung« anzuwenden, da auf diese Weise schon 1935/37 das Buna-Werk aufgebaut worden wäre und dieses immer noch das technisch beste Werk der DDR sei.
Im Zusammenhang damit zeigen sich auch solche Erscheinungen, dass die Zeitplanung für die Projektierung einzelner Objekte als nicht richtig angesehen wird. Zum Beispiel wird die Ansicht vertreten, dass die Projektierungszeit von zehn Monaten für das Chemiefaser-Kombinat Guben5 zu lang ist, da es sich bei dem Werk um eine bekannte Technologie handelt. Wie dazu noch bekannt wurde, sind von der Staatlichen Plankommission Bestrebungen im Gange, die Zeit für die Projektierung dieses Objektes auf sechs Monate zu verringern.
Andererseits wird z. B. durch den Sektorenleiter für Investitionen bei der Staatlichen Plankommission, [Name 1], die Ansicht vertreten, dass beim Chemieprogramm durch überstürzte Planung unverantwortlich mit finanziellen Mitteln umgegangen wurde. Nach seiner Auffassung sollte lieber etwas länger geplant werden, »weil durch eine richtige Planung die Projekte früher fertig würden«.
Dagegen zeigen sich aber beim Erdölkombinat Schwedt, [Bezirk] Frankfurt/O.,6 und Chemiefaser-Kombinat Guben auch solche Erscheinungen, dass durch schleppende Vorschläge für Investitionen Schwierigkeiten im Fortgang aller weiteren Arbeiten auftreten. Bereits 1958 gab es z. B. bei der zusätzlichen Bereitstellung von 2,8 Mio. DM7 Investitionen für das Chemieprogramm – Sektor Schwermaschinenbau – ca. drei Monate Verzögerung.
Als wesentliche Ursachen für Mängel in der Projektierung sind auch die ungenügende Einflussnahme der Planträger auf die Projektierungsarbeiten und ungenügende Übersicht über den Stand der Projektierung anzusehen. Nach den vorliegenden Informationen sollen für etwa 50 größere Vorhaben des Chemie-Bauprogramms 1959 noch nicht die erforderlichen Projektierungsunterlagen vorliegen. Zu dieser Situation wird die Auffassung vertreten, dass die Ursache mit in dieser inkonsequenten8 Haltung der Leitung der Abteilung Chemie der Staatlichen Plankommission gegenüber dem Konstruktions- und Ingenieurbüro Chemie in Leipzig bestehen würde.
Weiterhin tritt in diesem Zusammenhang in Erscheinung, dass auch beim Ministerium für Bauwesen, beim Bau- und Montagekombinat Chemie9 und beim Entwurfsbüro für Industriebau Halle noch keine klare Übersicht über den Stand der Projektierungsarbeiten für 1959 besteht.
Im Bauwesen zeigen sich bereits ähnliche Schwierigkeiten, die mit darauf zurückgeführt werden, dass die Abt. Chemie der Staatlichen Plankommission dem Ministerium für Bauwesen nicht rechtzeitig die benötigten Unterlagen für die Aufgliederung der Investpläne nach Jahr, Bezirk und Baufachgruppen übergeben hat.
Eine weitere Verzögerung im Chemie-Bauprogramm ergibt sich im Schwerpunktbezirk Halle. Hier bestehen Unstimmigkeiten zwischen der Bauunion Halle,10 dem Rat des Bezirkes und dem Bau- und Montagekombinat Chemie über die Abdeckung der zu bringenden Bauleistungen für das Chemieprogramm. Aufgrund dieser Differenzen hat die Bauunion Halle noch keine klare Planauflage für 1959 erhalten.
Nach weiteren Informationen gibt es auch noch Unklarheiten und Schwierigkeiten bei der Beschaffung qualifizierter Kader für die Chemische Industrie. So wurde z. B. bekannt, dass einem Bedarf von 200 Diplom-Ingenieuren der Verfahrenstechnik bisher nur Ausbildungsmöglichkeiten für 50 Personen gegenüberstehen. Obwohl zur Durchsetzung der sozialistischen Ökonomik in der Chemischen Industrie großer Bedarf an gut ausgebildeten Wirtschaftswissenschaftlern besteht, sind bisher für die Chemische Industrie nur 50 Ökonomen zur Verfügung gestellt worden. Aus dem VEB Komplette Chemieausrüstungen in Berlin11 wurde dagegen bekannt, dass aufgrund wachsender Unklarheiten über die Struktur und den Stellenplan Ingenieure mit einem Gehalt von 1 300 DM eingestellt werden, obwohl sie praktisch nur die Arbeit eines Sachbearbeiters ausüben können und arbeitsmäßig keinesfalls ausgelastet sind.
Andererseits besteht bei der Projektierung großer Kadermangel, der sich u. a. dahingehend auswirkt, dass für die Ausführungszeichnungen zum Projekt Erdölverarbeitungswerk Schwedt nicht genügend Konstruktions-Ingenieure vorhanden sind und sich daher die Anfertigung der Zeichnungen verzögert.
Auf dem Sektor Wasserwirtschaft bestehen nach vorliegenden Informationen ebenfalls noch keine konkreten Vorstellungen über die Aufgaben aus dem Chemieprogramm. Obwohl von den einzelnen Wasserwirtschaftsdirektionen in Abstimmung mit den VVB Pläne über die künftigen wasserwirtschaftlichen Maßnahmen ausgearbeitet wurden, die zzt. vom Amt für Wasserwirtschaft zu einem Gesamtplan zusammengefasst werden, besteht offensichtlich noch keine genügende Klarheit über die zwei Hauptgebiete: Bereitstellung von Brauchwasser und Ableitung bzw. Aufbereitung und Verwertung der in Zukunft verstärkt anfallenden Abwässer. Hinsichtlich der wasserwirtschaftlich notwendigen Maßnahmen für das Erdölkombinat Schwedt besteht überhaupt noch kein Überblick, da noch keine Angaben über die Technologie vorliegen.
Hinderlich auf die Lösung dieser oder anderer Probleme wirkt sich das nach unseren Informationen gespannte Verhältnis zwischen der VVB Chemie- und Klimaanlagen und dem Sektor Schwermaschinenbau der Abteilung Maschinenbau in der Staatlichen Plankommission aus. Nach vorliegenden Meldungen gibt es zwischen beiden Organen Kompetenzschwierigkeiten in den Unterstellungsverhältnissen einzelner Betriebe. Von der VVB Chemie- und Klimaanlagen wird z. B. im Gegensatz zur Staatlichen Plankommission die Ansicht vertreten, was sich auch in entsprechenden Handlungen auswirkt, dass das Unterstellungsverhältnis des VEB Inex12 – administrativ dem VEB Komplette Chemie-Anlagen, fachlich der Abteilung Maschinenbau in der Staatlichen Plankommission – völlig unzweckmäßig sei.
Ähnliche Schwierigkeiten gibt es zwischen der VVB Chemie und dem Sektor Schwermaschinenbau der Abteilung Maschinenbau in der Staatlichen Plankommission über die sich aus dem Maßnahmeplan ergebenden Aufgaben, so z. B. bei Vorlagen über Struktur, Statut und Stellenplan des VEB Komplette Chemie-Anlagen, des Instituts und der VVB, wodurch ein Terminverzug von ca. drei Monaten eingetreten ist.
Weitere Gegensätzlichkeiten zeigen sich auch bei der Beschaffung qualifizierter Kader, wo von der VVB Chemie die Auffassung vertreten wird, dass der Sektorenleiter für Schwermaschinenbau, [Name 2], trotz Kenntnis der schlechten Kadersituation in der VVB (Mangel an Fach- und Diplom-Ingenieuren) die Beschaffung derartiger Fachkräfte aus anderen Bereichen des Schwermaschinenbaus und der Abteilung Maschinenbau der Staatlichen Plankommission verhindern würde. Diese Schwierigkeiten werden offensichtlich noch durch ein persönlich gespanntes Verhältnis zwischen dem Leiter der VVB Chemie- und Klimaanlagen, [Name 3], und dem Sektorenleiter für Schwermaschinenbau in der Staatlichen Plankommission, [Name 2], verstärkt.