Schwächen und Mängel in der Glasindustrie der DDR
4. Juli 1959
Information Nr. 467/59 – [Bericht] über Mängel, Schwächen und Feindtätigkeit auf dem Gebiete der Glasindustrie in der DDR
Aus den Untersuchungen gegen eine Reihe festgenommener Personen aus der Glasindustrie sowie aus einem Gutachten einer Expertenkommission und verschiedenen anderen Hinweisen wurde ersichtlich, dass in der Glasindustrie zahlreiche Mängel auf verschiedenen Gebieten vorhanden sind, die ernste finanzielle, materielle und politische Auswirkungen haben und bis zur Schädlingstätigkeit reichen. Diese schädliche Tätigkeit wurde vor allem auf den Gebieten des Investitionsgeschehens, der Forschung und Entwicklung, der Importe und der Tätigkeit von Vertretern westzonaler Betriebe und ihrer Verbindungen zu Wirtschaftsfunktionären der Glasindustrie der DDR durchgeführt und maßgeblich durch die Arbeitsweise der ehemaligen HV Glas und Keramik des Ministeriums für Leichtindustrie – der jetzigen VVB Glas, Dresden – und ihren nachgeordneten Dienststellen – den volkseigenen Betrieben und dem Zentralen Projektierungsbüro der Glas- und keramischen Industrie1 – sowie durch die mangelhafte Kontrolle der dafür verantwortlichen Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission2 ermöglicht. Im Einzelnen handelt es sich um folgende schädliche Erscheinungen:
a) auf dem Gebiete des Investitionsgeschehens:
Nach uns vorliegenden Angaben standen im Zeitraum von 1955 bis 1959 dem gesamten Industriezweig Glas ca. 75 Mio. [DM]3 Investmittel zur Verfügung, die aber offensichtlich nicht dem maximalen politisch-ökonomischen Nutzeffekt und den Prinzipien der sozialistischen Investitionspolitik entsprechend eingesetzt wurden. Von der VVB Glas und dem Zentralen Projektierungsbüro der Glas- und keramischen Industrie wurden nach unserem Erachten verschiedentlich die gesamtstaatlichen Interessen nicht genügend berücksichtigt und dadurch einige Fehlentscheidungen besonders hinsichtlich der Standortverteilung, der Vorplanung und Projektierung und der technologischen Ausrüstung der Betriebe gefördert. Dies hatte u. a. zur Folge, dass wir – nach Einschätzung von Fachleuten der Glasindustrie – gegenüber der Entwicklung der Westzone auf diesem Gebiete entscheidend zurückgeblieben sind, obwohl in den Jahren vor 1945 die Glasindustrie auf dem Gebiete der DDR ein typischer und gut entwickelter Industriezweig war.
Weiterhin wurde uns bekannt, dass der Export im Zeitraum von 1957 bis 1959 um 27 % zurückgegangen ist, obwohl die Exportforderungen an Erzeugnissen der Glasindustrie zzt. noch nicht gedeckt werden können. Auch über die weitere Perspektive der Glasindustrie gibt es offensichtlich bei den verantwortlichen Organen noch Unklarheiten, wobei zu erkennen ist, dass die im Bericht geschilderte Situation ungenügend berücksichtigt wird. Bei einem Anstieg der Investmittel um 485 Mio. DM in den Jahren 1959 bis 1965 soll nach unseren Informationen im gleichen Zeitraum nur eine wertmäßige Produktionserhöhung um 264 Mio. DM erreicht werden. Der Export soll von 1958 zu 1959 nur um 5 % gesteigert werden, während der Import von Ausrüstungen für die Glasindustrie aus dem kapitalistischen Ausland um 300 % steigen soll. Diese Tatsachen werden neben anderen uns vorliegenden Beispielen durch die beiden nachfolgenden zur Genüge bewiesen:
Das für die Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe wichtige Projekt des Fernsehkolbenwerks Friedrichshain bei Cottbus wurde ohne eine exakte Vorplanung und ohne Vorprojekt in Angriff genommen.4 Für die Auswahl des Standortes sind die volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte völlig außer Acht gelassen worden. Es wurde kein exakter Variantenvergleich der vier zur Auswahl stehenden Standorte angestellt und dadurch eine Fehlentscheidung getroffen, denn die Wahl des Standortes Friedrichshain führt zu unnötig langen Transportwegen. Die Fernsehkolben müssen in Spezialkartons verpackt und mit Spezialwaggons zum Röhrenwerk (VEB Werk für Fernmeldewesen Berlin) transportiert werden. Dadurch werden zusätzliche Arbeitskräfte und Transportmittel gebunden und erhöhter Ausschuss und Zeitverlust hervorgerufen. Darüber hinaus verteuerte sich das Projekt von ursprünglich vorgesehenen 13,7 Mio. auf 27 Mio. DM. (Vorher war der Standort Berlin wegen angeblicher Mehrkosten von 3 Mio. DM abgelehnt worden.) und trotzdem ist es wegen umfangreicher Baugründungen, Abriss alter Gebäude und Wiederaufbau an anderer Stelle sowie durch die Anwendung der gleitenden Projektierung5 nicht möglich, die Produktion wie vorgesehen Anfang 1960 aufzunehmen. Nach der Festlegung der Staatlichen Plankommission wird die Produktion erst Anfang 1961 aufgenommen werden können. Tatsächlich dürfte dies aber nicht vor Mitte 1961 möglich sein, obwohl gerade die Wahl des Standortes Friedrichshain die rechtzeitige Inbetriebnahme gewährleisten sollte.
Für das Schaumglaswerk Taubenbach bei Ilmenau standen drei Standorte zur Diskussion.6 Auch hier hat sich die VVB ohne Variantenvergleich für Taubenbach entschieden, obwohl die beiden anderen Standorte objektiv günstigere Voraussetzungen aufweisen. So steht z. B. den angeblichen Vorzügen des Standortes Taubenbach wie kontinuierliche Stromversorgung ohne Spannungsschwankungen entgegen, dass die Energieversorgung im Thüringer Raum ohnehin sehr angespannt ist. Die angeblich günstige Gasversorgung ist nur durch einen zusätzlichen Aufwand von DM 1,2 Mio. zu ermöglichen. Der Reichsbahnanschluss erforderte 750 000 [DM] Folgeinvestitionen.
Die angebliche sofortige Bebauungsfähigkeit des Geländes hat sich ebenfalls nicht bestätigt und erforderte für Planierungsarbeiten DM 1 Mio. Als politische Begründung wurde die Nähe der Zonengrenze angeführt, da bei einer künftigen Einheit Deutschlands das erste Schaumglaswerk eine zentrale Versorgung Gesamtdeutschlands gewährleisten könne. Tatsächlich soll das Werk Taubenbach als Versuchswerk eine Kapazität von 1 500 Jato7 haben, wodurch der Bedarf bei Weitem nicht gedeckt wird. Aus diesem Grunde muss noch ein weiteres Schaumglaswerk gebaut werden, da das Werk Taubenbach aufgrund der örtlichen Verhältnisse nicht erweiterungsfähig ist. (Für die Forschung und Entwicklung von Schaumglas wurde von 1952 bis 1958 der sehr hohe Betrag von DM 559 000 aufgewendet.)
b) Auf dem Gebiete der Forschung und Entwicklung
sind es hauptsächlich folgende Tendenzen und Mängel, die sich schädlich auf den gesamten Industriezweig Glas auswirken: Es herrscht die sogenannte »Experten-Ideologie«, die die Kraft und Erfahrung des Kollektivs negierte und eine breite Einbeziehung aller Werktätigen ausschloss. Die gesamte Forschungstätigkeit orientierte sich einseitig auf das kapitalistische Ausland – insbesondere auf die Westzone – und vernachlässigte völlig die Erfahrungen und Möglichkeiten des sozialistischen Lagers. Es gibt keine Planmäßigkeit und Kontrolle in der Arbeit und die politische Wachsamkeit ist nicht vorhanden. Dazu folgende Beispiele:
Der Leiter des Glasinstituts Weißwasser arbeitete seit 1955 am Forschungsauftrag Fernsehkolben.8 Bis zum heutigen Tage haben seine engsten Mitarbeiter keinen Einblick in die Forschungstätigkeit und werden nur zur Lösung kleinerer Detailfragen herangezogen. Dadurch wurde der Forschungsauftrag um mindestens ein Jahr verzögert und eine Reihe Fehlentscheidungen getroffen.
Die leitenden Kader des VVB Glas und der zuständigen Institute vertraten die falsche Auffassung, dass nur im kapitalistischen Ausland – besonders in der Westzone – der höchste Stand der Technik erreicht sei. Obwohl bekannt war, dass sich das westzonale Steinmaterial (Didier-Konzern)9 nicht zur Herstellung von Fernsehkolben eignet, wurden mit diesem Material fünfmal hintereinander Versuche angestellt, die sämtlich fehlschlugen und lediglich dem Didier-Konzern nutzten, indem dieser auf eigene Versuche verzichten konnte. Für den Import dieser westzonalen Steine wurden außerdem gesetzwidrig Forschungsmittel versandt,10 obwohl den verantwortlichen Funktionären der Glasindustrie bekannt war, dass die SU bereits seit 1956 Steine aus eigener Produktion verwendet, die in der Qualität den westzonalen Steinen weit überlegen sind. (Aber auch bei anderen Importen zeigt sich die schädliche Auffassung, dass lediglich Material aus der Westzone die Gewähr für den neuesten Stand der Technik biete, ohne die Möglichkeiten der DDR-Produktion noch die der anderen sozialistischen Länder in Betracht zu ziehen. Die Glasindustrie erhielt z. B. in den Jahren 1956 bis 1958 für den Import von Maschinen eine Summe in Höhe von rd. 7 Mio. DM, die sie hauptsächlich für Importe aus der Westzone verbrauchte. Mindestens 60 % hätten aber nicht aus der Westzone importiert werden brauchen, ebenso wie die jetzt vorgesehenen bzw. durchgeführten Importe für das Fernsehkolbenwerk Friedrichshain unnötig sind.) Den Vertretern des Didier-Konzerns, die sich ohne Wissen und Genehmigung des DIA11 im Glaswerk aufhielten, wurden darüber hinaus »vertraulich«, wie es im Übergabeprotokoll vom 13.11.1956 heißt, neuentwickelte Glasproben aus dem Spezialglaswerk »Einheit«, Weißwasser,12 die einmalig in Europa sind, übergeben, um von den Didier-Werken Korrosionsversuche durchführen zu lassen und einen für das Schmelzen von Hartglas geeigneten Stein zu finden.
Von der VVB Glas wurde der Forschungsauftrag zur Entwicklung einer IS-Maschine13 (zur Flaschenherstellung) erteilt, obwohl bereits 1953 eine in der ČSR befindliche IS-Maschine von Fachleuten der Glasindustrie der DDR besichtigt wurde und die ČSR zur Übergabe von Dokumentationen bereit war. Nachdem 400 000 DM Forschungsgelder verbraucht waren, wurde der Forschungsauftrag annulliert mit der Maßgabe, eine entsprechende Maschine aus Schweden zu importieren. Das Funktionsmuster der entwickelten Maschine wurde verschrottet.
c) Tätigkeit der Vertreter westzonaler Betriebe und ihre Verbindungen zu Wirtschaftsfunktionären der Glasindustrie der DDR.
Die westzonalen Konzerne und Betriebe haben ein umfangreiches Netz von Vertretern organisiert. So haben z. B. die Firmen Didier und Schenk14 Vertreterbüros in Westberlin. Außerdem gibt es eine Reihe selbstständiger Handelsvertreter (Bürger der Westzone oder Westberlins), die mithilfe von Daueraufenthaltsgenehmigungen, die sie durch Unterstützung der VVB Glas erhielten, ständig die DDR bereisen. Diese Handelsvertreter kennen durch regelmäßige Besichtigungen unserer Betriebe und durch Informationen, die sie von Wirtschaftsfunktionären der Glasindustrie erhielten, die Belange unserer Glasindustrie bis ins Detail und nutzen diese Kenntnis dazu aus, zugunsten der von ihnen vertretenen westzonalen Betriebe unter Umgehung des Außenhandelsmonopols15 Geschäfte mit der DDR vorzubereiten. Außerdem gibt es eine Reihe von Handelsvertretern, die Bürger der DDR sind und auf Provisionsbasis für westzonale Konzerne oder Betriebe tätig sind. Auch deren Tätigkeit besteht im Wesentlichen im Sammeln von Informationen für die Konzerne und in einer »Beratung« hinsichtlich des Bezuges westzonaler Erzeugnisse. Es gibt gegenwärtig in der DDR keinen zentralen Überblick über solche Vertreter.
Eine Reihe namentlich bekannter Wirtschaftsfunktionäre der Glasindustrie der DDR hielten bereits seit 1951 einen sehr engen und persönlichen Kontakt zu diesen Konzernvertretern und ließen sich von diesen durch wertvolle Geschenke bzw. Geldbeträge korrumpieren und – wie sie auch selbst zugeben – in ein Abhängigkeitsverhältnis bringen. Die Geldbeträge überstiegen in Einzelfällen DM 1 000 und wurden teilweise in Westgeld gezahlt. Die Zusammenkünfte mit den westzonalen Vertretern fanden sowohl in Hotels, Bars und Nachtlokalen des demokratischen Sektors und in Westberlin bzw. in Lokalen verschiedener Städte der DDR, als auch in staatlichen Institutionen und in den Privatwohnungen der beteiligten Personen statt. Die Zechen und teilweise auch die Hotelrechnungen bezahlten die Konzernvertreter. Unter anderem finanzierten sie auch den Besuch von Freudenhäusern in Westberlin. Die Dienstreisen der Wirtschaftsfunktionäre der Glasindustrie nach der Westzone wurden grundsätzlich in Fahrzeugen der westzonalen Vertreter durchgeführt.