Situation im VEB Fleischwarenfabrik »Delicata« Leipzig
12. Oktober 1959
Information Nr. 731/59 – [über] die Situation im VEB Fleischwarenfabrik »Delicata« Leipzig
Nach vorliegenden Informationen besteht gegenwärtig im VEB »Delicata«, dem größten Fleischverarbeitungsbetrieb des Bezirkes Leipzig, eine derartige Situation, dass die Arbeitsschutz- und Hygienebestimmungen ständig verletzt werden und dadurch die im VEB »Delicata« hergestellten Erzeugnisse erheblichen Qualitätsminderungen unterliegen.
Wie dazu bekannt wurde, waren bei Kriegsende 100 Personen im Betrieb beschäftigt, jetzt sind in den gleichen Produktionsräumen ca. 500 Arbeitskräfte tätig.
Dadurch ist der Betrieb raummäßig überlastet, was mit dazu führt, dass die Arbeitsschutzbestimmungen sowie die Hygieneanweisungen auf das Gröbste verletzt werden.
Bemerkenswert für den gegen alle Sicherheitsbestimmungen sprechenden Zustand ist die Tatsache, dass die zulässige Deckenbelastung 300 kg/m² nicht eingehalten werden kann und jetzt bei 1 000 kg/m² liegt. Außerdem sind die Produktionsräume niedriger als die gesetzlich vorgeschriebene Höhe von 3 m.
Durch eine mangelhafte Klimaanlage entwickeln sich hohe Temperaturen, die sich hemmend auf die Arbeit auswirken und zu erheblichen Qualitätsverminderungen bei den Rohstoffen führen.
In der Vorbereitung des III. Turn- und Sportfestes1 wurde aufgrund der Lieferung genussuntauglicher Waren an die NVA eine Überprüfung des Betriebes vorgenommen, wobei von der Kommission die unhygienischen Verhältnisse in den Produktionsräumen bestätigt wurden.
Während der Delegiertenkonferenz der IG Unterricht und Erziehung am 2.10.1959 in Leipzig erkrankten 21 Personen durch den Genuss von Erzeugnissen des VEB »Delicata«.
Die bakteriologische Untersuchung ergab, dass sich in den Wurstwaren Bakterien befanden, welche von unsauberen Arbeitsgeräten übertragen wurden.
Obwohl in den letzten Jahren durch die Hygiene-Inspektion und andere staatliche Organe wiederholt Überprüfungen vorgenommen wurden, erfolgte keine Beseitigung der festgestellten Mängel.
Von der Werkleitung wird versucht, die untragbaren Verhältnisse zu verschleiern und die Beanstandungen der Qualität der Erzeugnisse auf die Lieferung von Importfleisch zurückzuführen.
Tatsächlich traten im II. und III. Quartal Mängel in der Qualität von Gefrierfleischimporten ein, die durch die Unterbrechung der Kühlung beim Transport verursacht wurden.
Durch den VEB »Delicata« erfolgte aber ein starker Vorgriff auf Frischfleisch, was später zwangsläufig zu einer Erhöhung des Gefrierfleischanteiles in der Produktion führen musste. Dazu kommt, dass das Gefrierfleisch im VEB »Delicata« 2–3 Tage bei Temperaturen von ca. plus 5 °C lagerte, was zu einer verstärkten Oberflächenfäulnis führte.
Da die Schwierigkeiten ein unverantwortliches Ausmaß annahmen, fand bereits am 14.8.1959 im VEB »Delicata« eine Besprechung und Betriebsbegehung mit Vertretern der SED-Bezirksleitung, des Rates des Bezirkes und anderer staatlicher Organe statt, die aber nur mit einer Bestätigung der untragbaren Situation endete.
Zum gleichen Zeitpunkt wurden auch durch die Werkleitung verschiedene zentrale Organe (u. a. Büro des Ministerpräsidenten, Büro des 1. Sekretärs des ZK der SED, Generalstaatsanwaltschaft) schriftlich über die Lage im VEB »Delicata« informiert.
Wie die Tatsache der Erkrankung von 21 Personen am 2.10.1959 beweist, ist jedoch trotz Kenntnis der Situation noch keine Veränderung eingetreten.
Zur Beseitigung der äußerst unhygienischen Verhältnisse und der anderen Missstände im VEB »Delicata« wird vorgeschlagen, den Betrieb durch eine Sachverständigenkommission zu überprüfen und entsprechend den Feststellungen die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten