Stimmung der Bevölkerung Friedensvertrag-Vorschlag der Sowjetunion (1)
14. Januar 1959
Information Nr. 3/59 – Bericht über die Stimmung der Bevölkerung der DDR zum Friedensvertrag-Vorschlag der Sowjetunion
Dieser Bericht soll eine erste Einschätzung der Stimmung und einen vorläufigen Überblick über die bis jetzt bekannt gewordenen Argumente geben, wobei es zurzeit noch nicht möglich ist, bedeutungsvolle Unterschiede in der Reaktion der einzelnen Bevölkerungsschichten festzustellen, mit Ausnahme eines Teiles der ehemaligen Umsiedler.
Sofort nach Bekanntwerden des Vorschlages der Sowjetunion über einen Friedensvertrag1 durch den Rundfunk nahm schon ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung der DDR spontan und vorwiegend in positivem Sinne dazu Stellung. Durch die weiteren Veröffentlichungen und Kommentare sowie durch die auf Initiative der Parteiorganisationen in den Betrieben, Verwaltungen und sonstigen Institutionen einberufenen Kurzversammlungen und anderer Agitation wurde erreicht, dass neben der Note über die Berlin-Frage2 der Friedensvertrag-Vorschlag Hauptgegenstand der Diskussion ist bzw. werden beide – nachdem die Diskussionen über die Berlin-Frage in letzter Zeit etwas zurückgegangen waren – oft in einem engen Zusammenhang behandelt.
Bis auf ganz wenige Ausnahmen wird der Friedensvertrag-Vorschlag ohne wesentliche Unterschiede innerhalb der einzelnen Bevölkerungsschichten begrüßt und vor allem auf dessen große politische Bedeutung hingewiesen, ohne in vielen Fällen auf die einzelnen Artikel einzugehen. Das hat seine Ursache mit darin, dass viele über die Einzelheiten noch nicht richtig informiert sind.
Ein weiterer Ausdruck der Zustimmung sind die aus diesem Anlass eingegangenen vielfältigen Produktionsverpflichtungen. Auch konnte in vielen Fällen festgestellt werden, dass Personen, die bisher aus den verschiedensten Gründen zu politischen Ereignissen undurchsichtige und negative Stellungen bezogen, diesen Vorschlag begrüßten; z. B. als RIAS-Hörer3 bekannte oder solche Personen, die gegen die Oder-Neiße-Friedensgrenze4 eingestellt waren oder Personen, die bisher den Noten der SU keine Beachtung schenkten, sie als Manöver abtaten usw.
Eine Reihe von Bürgern der DDR will auch von sich aus durch Übersendung der Vorschläge dafür sorgen, dass der westdeutschen Bevölkerung diese im richtigen Wortlaut bekanntwerden, damit die üblichen Entstellungen in der Presse und im Rundfunk Westdeutschlands ihre Wirksamkeit verlieren.
Der größte Teil dieses die Note begrüßenden Personenkreises und damit auch der größte Teil der Bevölkerung der DDR, betont dabei mit den verschiedensten Worten und in den verschiedensten Abwandlungen
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dass die SU damit wieder – wie schon so oft – bewiesen hat, wie sehr ihr der Frieden am Herzen liegt,
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dass dies ein neuerlicher wahrer Freundschaftsbeweis gegenüber dem ganzen deutschen Volke sei,
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dass diese konkreten Vorschläge die Kriegstreiber immer mehr entlarven und
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dass der Zeitpunkt für die Vorschläge gut gewählt worden sei.
(Letzteres bringen sie in Verbindung mit dem Start der kosmischen Rakete,5 mit dem Besuch des Genossen Mikojan6 in Amerika7 und der Reise des Genossen Grotewohl8 nach Afrika und Asien.9)
Für diese Argumente könnte eine Vielzahl von Beispielen angeführt werden. Hier einige der typischsten:
Der verdiente Arzt des Volkes Dr. [Name 1], Werneuchen, [Kreis] Strausberg, erklärte: »Der Friedensvertragsentwurf der SU ist ein weiterer Schritt zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands, an der auch wir als Intelligenz brennend interessiert sind. Ich bin als Arzt deshalb daran so interessiert, weil der Friedensvertragsentwurf einen wahrhaft humanistischen Charakter trägt.« Der Bäckermeister [Name 2] aus Strausberg äußerte, dass er nicht verstehen kann, dass es immer noch Handwerker gibt, die keine positive Meinung zur Politik der DDR haben. Der Glasermeister [Name 3] aus Freienwalde nahm ebenfalls eine positive Haltung zum Friedensvertragsentwurf ein und verpflichtete sich zu Ehren der Note, für 1 000 DM10 Glaserarbeiten im Nationalen Aufbauwerk11 durchzuführen. Propst Ehlers12 aus Doberan sagte: »Ich begrüße den Friedensvertragsentwurf und werde diesen heute noch durcharbeiten. Ich halte es für sehr richtig, mit allen Pastoren eine Aussprache zu führen und meine, dass die staatlichen Organe hierzu einladen sollten und ein Vertreter der SED oder der Nationalen Front als Gesprächsführer mit den Pastoren über den Friedensvertrag diskutieren sollte.«
Der parteilose Diplomingenieur und Leiter des Hauptlabors des VEB Kombinats Gölzau, [Kreis] Köthen,13 erklärte: »Die westdeutschen Sender haben schon das ganze Jahr hindurch die Noten der SU, welche den Inhalt hatten, Deutschland wieder den Platz einzuräumen, den es verdient, verdreht. Ich habe noch vor einem Jahr den Westsendern oft Glauben geschenkt. Jetzt aber nehme ich einen anderen Standpunkt ein. Ich weiß, dass nur die SU das Beste für uns will, was dieser Vorschlag beweist. Insbesondere sind es die Punkte, wo wir uns als Deutsche ein Wirtschaftsleben aufbauen können, dass sich entwickeln würde, wie es noch nie dagewesen ist. Ich freue mich, dass die SU uns Deutsche nicht mit den Faschisten vergleicht, sondern als Deutsche behandelt, die für den Frieden arbeiten und kämpfen, wogegen die USA die SS-Banditen und Faschisten wieder in hohe Staatsstellungen bringt.« (Besonders aus Kreisen der Intelligenz wurden viele solcher eindeutig zustimmenden Meinungen bekannt.)
Ein großer Teil der solche und ähnliche Stellungnahmen abgebenden Personen glaubt aber nicht recht an einen auch von ihnen gewünschten Erfolg der sowjetischen Vorschläge und vertritt die Meinung, dass die Westmächte wie bisher immer nicht darauf eingehen werden: »Die SU hat schon viele gute Vorschläge unterbreitet, ohne dass sie von den Westmächten angenommen worden wären. So wird es auch diesmal sein und alles bleibt beim Alten.« Aus diesem Grunde macht man sich auch Gedanken darüber, welche Maßnahmen seitens der SU und der Westmächte folgen werden, ohne sich darüber klar werden zu können.
Die besonders bei der Diskussion über die Berlin-Note festzustellende Befürchtung, dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen könnte, wird dabei zwar noch ausgesprochen, aber in einem sehr viel kleineren Maße, was besonders auf die »durch die kosmische Rakete dokumentierte Kraft der SU« zurückzuführen ist.
Im Vergleich mit den zustimmenden Äußerungen haben die unklaren Stellungnahmen nur einen geringen Anteil und direkt feindliche Reaktionen wurden nur vereinzelt festgestellt. Hauptgegenstand dieser unklaren und z. T. negativen Meinungen sind vor allem zwei Probleme:
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Die Grenzregelung14
- b)
Die Regelung der Streitkräfte mit den damit zusammenhängenden Fragen der Bewaffnung.15
Dabei haben die Unklarheiten und z. T. das Nichteinverständnis mit der Grenzregelung den größeren Umfang und werden in allen Bezirken und Bevölkerungsschichten diskutiert, wenn sie dort auch die Minderheit ausmachen. Besonders befasst sich ein Teil der ehemaligen Umsiedler mit diesem Artikel über die Grenzregelung. Es werden dabei folgende typische Stellungnahmen abgegeben:
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Viele werden enttäuscht sein, dass die Ostgebiete verloren sind und sie nicht mehr in ihre Heimat zurückkommen.
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Wenn wir einen Friedensvertrag abschließen, so gehört ganz Deutschland dazu, auch die ehemaligen Ostgebiete.
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Das Gebiet, welches von Deutschland an Polen abgetreten wurde, sollte man zurückgeben und die SU sollte das von Polen genommene Gebiet an Polen zurückgeben.
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Wo gibt es denn so etwas, dass alles so bleiben soll, wie es am 1.1.1959 war, die sollen erst einmal Schlesien zurückgeben.
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Wenn die SU in ihren Noten einmal sagen würde, was mit den »Vertriebenen« werden soll und mit den ehemaligen deutschen Gebieten, dann würden die Noten ganz anders behandelt werden und die SU würde auch mehr Anerkennung finden. Sie brauchten nur zu sagen, dass die Oder-Neiße-Grenze noch nicht endgültig ist und es würde ein lautes Hurra ertönen.
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»Die Vertriebenen könnten nie wieder Freunde einer Regierung werden, die sie vertrieben oder dieses geduldet hat.«
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Man soll uns auch, wie drüben im Westen, eine Abfindung für das, was wir verloren haben, geben.
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Wieso will die SU die Stadt Königsberg für sich in Anspruch nehmen, wo doch immer gesagt wird, dass die SU keine Raubkriege führt. Etwas anderes wäre es noch, wenn man Polen dieses Gebiet zugesprochen hätte.
In mehreren Fällen versuchten Personen, die diese Argumente anführen, ihre eigene Meinung hinter dem Hinweis zu verstecken, »dass besonders die Westmächte mit dieser Grenzregelung nicht einverstanden sein werden«.
Zur Frage der Streitkräfte und deren Bewaffnung empfindet es ein Teil als ungerecht oder zumindest einer nochmaligen Überlegung wert, dass Deutschland verboten wird, Raketen, Bomben und U-Boote zu besitzen, da im Falle eines Überfalles durch einen Staat, der diese Waffen besitzt, Deutschland sich nicht wehren könne.
Dieser Artikel wird auch unter dem Gesichtspunkt der Weltraumforschung betrachtet. Ein Angehöriger der Kriminalpolizei des VPKA Rostock, Mitglied der SED, betonte z. B., dass er ganz begeistert von der Note sei, dass jedoch die Beschränkung in militärischen Fragen nicht klar genug ausgedrückt sei. Bei einer solchen Formulierung – irgendwelche Raketen zu besitzen, herzustellen oder auszuprobieren – würde Deutschland keine Möglichkeit haben, sich an der Weltraumforschung mit Raketen, Satelliten usw. zu beteiligen. Andere beachtenswerte Argumente, die jedoch nur vereinzelt auftraten, sind,
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dass die SU nur deswegen diesen Entwurf unterbreitet habe, weil sie sonst in der Berlin-Frage ihr Ziel nicht erreichen würde. (Bezirk Potsdam)
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Die Vorschläge sollen nur bezwecken, die Verhältnisse in der DDR auch auf Westdeutschland zu übertragen. (eine Lehrerin aus Zinnowitz)
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Man sei nur interessiert daran, eine Lösung der Deutschen Frage zu finden, weil die »Ostzone« sowieso aus dem letzten Loch pfeifen würde. Es wäre nicht abzustreiten, dass wir weit hinter Westdeutschland liegen würden und es sonst noch ein Fiasko geben würde. (ein freiberuflicher Masseur aus Weimar)
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Der Abschluss eines Friedensvertrages sei nur dann möglich, wenn die Einheit Deutschlands bestehe. (Kombinat Schmirchau16/Ronneburg)
(Vereinzelt werden in diesem Zusammenhang »freie Wahlen« als eine Voraussetzung dazu angeführt.)
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Wenn die SU alles der DDR übergibt, dann kommen die Amis und es gibt eine große Schießerei wie in Ungarn.17 (ein Betriebsschutzangehöriger des VEB Pyrotechnik Berlin/Buchholz)18
Eine direkte Ablehnung des gesamten Vertrages konnte nur in sehr vereinzelten Fällen festgestellt werden, z. B. im VEB Bergmann Borsig19 – wo insgesamt gesehen eine sehr positive Stimmung herrschte und von der überwiegenden Mehrheit der Arbeiter und Angestellten der Friedensvertragsentwurf begrüßt wurde – sprachen sich in einer Kurzversammlung acht Kollegen dagegen aus, weil dieser Friedensvertrag »zu einseitig« sei.